Erfindung: Vitrimere - eine neue Klasse von Polymeren
Dank der Erfindung des in Polen geborenen französischen Physikers Ludwik Leibler umweht die Werkstofftechnik nun ein Hauch von Science-Fiction. Leibler und sein Team aus dem Laboratoire Matière Molle et Chimie an der ESPCI ParisTech haben eine neue Klasse von Kunststoffen entwickelt: Vitrimere. Diese sind äußerst stabil, gleichzeitig aber auch formbar.
Indem
Vitrimere bei Temperaturänderungen von einer festen Form in eine geschmeidige
und biegsame Konsistenz übergehen, bieten sie völlig neue Anwendungsmöglichkeiten:
von selbstheilenden Kunststoffen, die sich selbst reparieren, bis hin zu einem
potenziellen künftigen Einsatz in der Chirurgie und der restaurativen Medizin.
Leibler und sein Team, zu dem auch die Fachkollegen François-Genes Tournilhac und Corinne Soulié-Ziakovic gehören, schafften den Durchbruch, als sie die Eigenschaften zweier Materialklassen miteinander kombinierten und so einen "supramolekularen" Werkstoff erhielten. Vitrimere bestehen aus molekularen Netzen, deren Bindungen nicht starr oder dauerhaft sind, sondern in einem dynamischen Gleichgewicht vorliegen: Einige lösen sich auf, während an anderer Stelle neue intramolekulare Bindungen entstehen. Daher haben Vitrimere Ähnlichkeit mit Duroplasten (Kunststoffe, die in Form gepresst und nach der Aushärtung nicht mehr verformt werden können), besitzen aber auch glasähnliche Eigenschaften, da sie bei Hitze geformt und geschweißt werden können.
Gesellschaftlicher Nutzen
In der Konsumgüterindustrie könnten Vitrimere bewirken, dass kaputte Kunststoffprodukte nicht so schnell auf dem Müll landen, denn sie wären einfach zu reparieren. Manche Kunststoffe brauchen Jahrhunderte, um zu verrotten. Zudem besteht aktuell 90 % des Mülls, der auf den Weltmeeren treibt, aus Plastik; eine Million Meerestiere verenden jährlich daran. Dank Vitrimeren könnten selbstreparierende Kunststoffe den Müll und die damit verbundenen Umweltbelastungen deutlich verringern, und die Verbraucher müssten kein Geld für Ersatzprodukte ausgeben.
Zu den medizinischen Anwendungsbereichen von Vitrimeren gehören Nanogele auf Wasserbasis, die "Nanobrücken" zwischen biologischen Geweben herstellen. Mit anderen Worten: Die flexiblen molekularen Eigenschaften von Vitrimeren können auf dynamische Weise die Wundränder offener Wunden verbinden, indem sie einen "organischen Klebstoff" bilden. Damit lassen sich z. B. Wunden schließen, die nicht genäht werden können.
Wirtschaftlicher Nutzen
Selbstheilende und thermoreversible Materialien auf der Basis von Vitrimeren könnten ganze Industriezweige revolutionieren, darunter z. B. die Herstellung von Surfbrettern und Flugzeugbauteilen aus Epoxid. Der weltweilte Markt für Epoxide und Härter hatte 2014 einen Wert von 6 Mrd. EUR, der bis 2019 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6,3 % voraussichtlich auf 8,24 Mrd. EUR ansteigen wird.
Wenn herkömmliches Epoxid einmal in Form gebracht wurde, lässt es sich nicht mehr schmelzen oder lösen. Alte Surfbretter können also nicht recycelt werden und landen Jahr für Jahr zu Tausenden auf dem Müll. Die Agentur SurfScience schätzt, dass jährlich 750 000 neue Surfbretter produziert werden, wobei rund 220 000 Tonnen CO2 entstehen. Ein "selbstreparierendes" Surfbrett aus Epoxid mit Vitrimeren könnte das Produktionsvolumen verringern, da die Lebensdauer der bestehenden Surfbretter deutlich länger wäre.