Erfindung: Im Labor erzeugte menschliche Organe (Organoiden)
Der niederländische Molekulargenetiker Hans Clevers und seine Teams am Hubrecht Institut und dem Universitätsklinikum Utrecht (UMC) läuten mit ihren bahnbrechenden "Organoiden" eine neue Ära für die personalisierte Medizin und für die Arzneimittelentwicklung ein. Die "Miniaturorgane" – darunter Lebern, Lungen und Därme – werden aus den Stammzellen einzelner Patienten gezüchtet. So können Ärzte die spezifischen Wirkungen von Medikamenten ohne Gefahr für den Patienten – nämlich außerhalb des Körpers – testen.
Dieser Durchbruch gelang Clevers, nachdem er die bemerkenswerten Fähigkeit
des Darmtrakts, Defekte selbst zu reparieren, über ein ganzes Jahrzehnt hinweg
untersucht hatte. Schon lange hatte der Forscher vermutet, dass die
intestinalen Stammzellen bei der Regeneration von Darmgewebe eine tragende
Rolle spielen. So gelang es ihm als erstem Wissenschaftler der Welt, eine
bestimmte Klasse dieser Stammzellen, die sogenannten LGR5-Stammzellen, in
Drüsen (oder "Krypten") der Darmauskleidung zu isolieren. Nach Entwicklung eines
genetischen Verfahrens, LGR-Stammzellen im Labor zu züchten, war Clevers dann
in der Lage, "Intestinoide" zu erzeugen, die man einsetzen kann, um
Arzneimittel sicher an aktivem menschlichem Darmgewebe zu testen.
Diese nur wenige Millimeter messenden "Mini-Organe", die innerhalb eines Zeitraums von zehn Tagen gezüchtet wurden, waren der Anfang, der es ermöglichte, auch andere "Organoide", beispielsweise menschliche Gehirne, Lebern oder Nieren, im Labor zu erschaffen. Haupteinsatzgebiete sind einerseits die Entwicklung von Arzneimitteln und andererseits die personalisierte Medizin. So kann mit dieser Methode auch Krebsgewebe nachgebildet werden: Diese "Tumoroide" genannten Gebilde kann man züchten, um unzählige verschiedene Chemotherapien vor dem Einsatz am Patienten in vitro (außerhalb des menschlichen Körpers) zu testen.
Gesellschaftlicher Nutzen
Die patentgeschützte Erfindung bietet in zweifacher Hinsicht Vorteile: Erstens können mit Organoiden selbst aggressive Behandlungsoptionen - beispielsweise gegen Krebs - getestet werden, ohne dass der Patient in Mitleidenschaft gezogen wird. Schätzungen zufolge sind fünf Prozent sämtlicher Krankenhausaufenthalte in der EU auf unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln zurückzuführen, die mit Organoiden verhindert werden könnten. Solche unerwünschten Nebenwirkungen sind auch die fünfthäufigste Todesursache in Krankenhäusern.
Zweitens lässt sich mit Organoiden der Ansatz einer "personalisierten Medizin" verfolgen, da sie genetisch mit dem jeweiligen Patienten völlig identisch sind. Die durch die Erfindung vorangetriebene personalisierte Medizin schlägt auch bei der Arzneimittelprüfung ein ganz neues Kapitel auf, denn im Rahmen der herkömmlichen klinischen Studien mit Patienten werden nur die Wirkungen der Medikamente auf bestimmte Populationen, nicht aber auf einzelne Patienten beurteilt.
Auch für die Krebsbehandlung eröffnet Clevers Erfindung neue Wege: Durch die Nachbildung von Tumoren, sogenannten "Tumoroiden", können die Wirkungen potenzieller Therapien in einer sicheren Umgebung getestet werden.
Darüber hinaus bieten Organoide eine gangbare Alternative zu Tierversuchen in der pharmazeutischen Forschung, was nicht nur aus ethischer Sicht zu begrüßen ist, sondern auch deshalb, weil Tiere häufig ganz anders auf Medikamente reagieren als Menschen.
Wirtschaftlicher Nutzen
Auch wenn Organoide den Markt nur langsam erobern, so haben sie doch das Potenzial, sowohl die Kosten als auch die Misserfolgsquoten in der Arzneimittelentwicklung erheblich zu senken. Eine aktuelle von Excel Matrix durchgeführte Studie zeigt, dass die Entwicklung eines neuen Arzneimittels Investitionen in Höhe von mehreren Millionen Euro erfordert, während schätzungsweise lediglich eine von 10 000 chemischen Substanzen, die Eingang in den Entwicklungskreislauf finden, jemals auf den Markt gelangt. Die Durchfallquote in fortgeschrittenen Entwicklungsstadien - in Phase III liegt sie derzeit bei 50 Prozent - steigt sogar noch an. Mit Organoiden können neue Medikamente sozusagen "Probe gefahren" werden, mit unmittelbarem Feedback. Somit lassen sich beträchtliche Einsparungen erzielen.
Als Mitgründer zweier erfolgreicher Spin-off-Unternehmen hat Clevers den Sprung vom Labor in die klinische Praxis angestoßen: 1996 wurde U-BiSys BV gegründet (heute Crucell, ein Unternehmen des Johnson & Johnson-Konzerns), im Jahr 200 entstand die Semaia Pharmaceuticals GmbH & Co. KG (heute Hybrigenics SA).
Nach Ansicht von Experten haben Organoide das Potenzial, den Weltmarkt im Bereich der 3D-Zellkulturen grundlegend zu verändern. Im Jahr 2014 lag der Umsatz in diesem Segment bei ca. 560 Millionen EURO. Aufgrund der wachsenden Verfügbarkeit von Organoiden wird erwartet, dass diese Zahl bis 2019 auf zwei Milliarden EURO ansteigt, mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 30 Prozent.