Erfindung: Selbstregenerierende Reifenlauffläche
Dank der Arbeit der französischen Forscher Agnès Poulbot und Jacques Barraud kann bei einer neuen Generation von Autoreifen für Schwerlastfahrzeuge mit Hilfe der angewandten Mathematik eine erhebliche Leistungssteigerung erzielt werden. Die vom multinationalen Reifenhersteller Michelin auf den Markt gebrachte neue Reifengeneration mit mittels 3 D-Druck erzeugter, selbstregenerierender Lauffläche zeichnet sich nicht nur eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Gebrauchtreifen über das ganze Jahr und bis zur maximalen Abnutzung aus, sondern auch durch geringeren Kraftstoffverbrauch und CO2-Ausstoss.
Reifen sind die stillen Helden der Kraftfahrzeugtechnik. Sie dämpfen von der Fahrbahn ausgehende Stöße, gewährleisten eine sichere Traktion, tragen durch einen möglichst niedrigen Rollwiderstand zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs bei und bieten die nötige Haltbarkeit für Tausende gefahrener Kilometer.
Seit André Michelin und sein Bruder Edouard 1895 im Michelin-Reifenwerk (der Compagnie Générale des Établissements Michelin) die ersten auswechselbaren Gummireifen für Kraftfahrzeuge entwickelten, hat sich die Konstruktion von Reifen kontinuierlich verbessert. Im Lauf dieser Jahre haben sich Werkstoffwissenschaftler und Reifenspezialisten intensiv damit beschäftigt, eine optimale Kombination von Grip, Haltbarkeit und niedrigem Rollwiderstand zu finden.
2013
ließen die Michelin-Forscher Agnès Poulbot und Jacques Barraud eine innovative
Reifenlauffläche patentieren, die sich beim Verschleiß "selbst
regeneriert" und gleichzeitig den Rollwiderstand reduziert, die
Kraftstoffstoffeffizienz erhöht und die Lebensdauer des Reifens um bis zu 20 %
verlängert.
Die
unter der Bezeichnung Regenion vertriebene,
patentgeschützte Technologie wird seit 2013 für Nutzfahrzeuge und seit 2016
auch für Pkw angeboten und bietet erhebliche Vorteile: Durch die Umrüstung
eines Fahrzeugs auf Regenion-Reifen kann der CO2-Ausstoß über die Lebensdauer des Reifens hinweg
verglichen mit konventionellen Reifen um 3.724 kg gesenkt werden.
Gesellschaftlicher Nutzen
Die
Luftverschmutzung durch Pkw und Lkw ist in vielen Großstädten weltweit ein
wachsendes Problem. Die Europäische Kommission schätzt, dass Pkw in der EU ca. 12 %
des Gesamtausstoßes von Kohlendioxid (CO2), dem wichtigsten Treibhausgas,
verursachen. Nutzfahrzeuge im Transportwesen verursachen EU-weit ca. 25 % der
CO2 -Emissionen und ca. 5 % der gesamten Treibhausgasemissionen
in der EU.
Eine
Möglichkeit zur Senkung der Schadstoffemissionen besteht in der Verwendung von
Reifen mit einem niedrigeren Rollwiderstand. Aus diesem Grund hat die EU 2012
ein Reifenlabel eingeführt, das die Nachhaltigkeit und Leistungsfähigkeit von
Reifen bewertet. Alle Reifenmodelle, in denen die Erfindung von Poulbot und Barraud
umgesetzt war, erhielten die Kennzeichnung AAA, die höchste Bewertung für
Kraftstoffverbrauch und Nasshaftung.
Laut
Poulbot spart die Regenion-Technologie 26 Gramm an CO2-Emissionen
pro Kilometer, das sind über eine Laufleistung von 100 000 Kilometer
gerechnet 2,6 Tonnen weniger CO2. Außerdem tragen die Reifen zu
einer Senkung der Geräuschemissionen und zur Einhaltung der 2016 durch das
EU-Parlament verabschiedeten Geräuschverordnung bei.
Wirtschaftlicher Nutzen
Der
Patentinhaber Michelin ist einer der größten Reifenhersteller weltweit und hat
2017 nach eigenen Angaben 170 000 Einzelreifen mit dieser Erfindung
verkauft. Bis zum Jahre 2019 prognostiziert das Unternehmen den Verkauf von 670 000
Reifen mit der Regenion-Technologie -
dies wären 15 % seines Umsatzes an Schwerlastreifen. Bis 2022 erwartet Michelin,
dass die Regenion-Technologie 30 % des Umsatzes an Schwerlastreifen generieren
wird.
2017
verzeichnete Michelin einen Nettoumsatz in Höhe von 22 Mrd. EUR.
Davon entfielen 6,2 Mrd. auf Lkw-Reifen, gegenüber 5,9 Mrd. EUR
im Jahr 2016. Das Unternehmen hat weltweit 114 000 Mitarbeiter; die Hälfte
aller R&D-Mitarbeiter ist im Innovationszentrum am Stammsitz des
Unternehmens in Clermont-Ferrand beschäftigt, wo auch die Regenion-Technologie
entwickelt wurde. Nach Berechnungen von Michelin können Betreiber von Lkw-Flotten
durch den Einsatz der Regenion-Technologie eine Verlängerung der
Reifenlebensdauer um 15 bis 20 % erreichen.
In
einem kürzlich veröffentlichten Bericht von Smithers Rapra wird der
Markt für Lkw-Reifen auf 91 Mrd. EUR geschätzt, bei einem erwarteten
Wachstum von 3,5 % pro Jahr in den kommenden 10 Jahren. Das
Marktforschungsunternehmen geht außerdem davon aus, dass durch immer strengere
Vorschriften die Nachfrage nach nachhaltigeren Reifen kontinuierlich steigen
wird.
Funktionsweise
Üblicherweise
werden Reifen nach Industriestandard mit einer aus einer einzigen Schicht bestehenden
Lauffläche mit einem speziellen Profil und einer bestimmten Tiefe geformt. Auf
der Grundlage ihrer mathematischer Kenntnisse und ihres Know-hows in der
3D-Modellierung visualisierte Agnès Poulbot die Reifenlauffläche als
mehrschichtigen Aufbau mit übereinanderliegenden Schichten. Ihr computergenerierter
Reifenaufbau basiert auf vertikalen Laufflächenschichten innerhalb eines
Reifens.
Wenn
die Reifen erstmalig aufgezogen werden, ist zunächst nur die äußere Traktionsschicht
sichtbar. Im Lauf der Zeit nutzt sich die oberste Schicht ab und darunter wird eine
neue Lauffläche sichtbar - mit speziell angeordneten Rippen und Vertiefungen.
Nach einer gewissen Zeit nutzt sich auch diese zweite Schicht ab, und eine
dritte erscheint.
Im
Wesentlichen regeneriert sich der Reifen damit selbst, wenn er nach und nach
verschleißt. Jede Schicht hat nur ein flaches Profil, das für minimalen
Energieverlust und möglichst niedrigen Rollwiderstand optimiert ist. Dadurch
wird die Lebensdauer des Reifens entsprechend der Anzahl von Schichten der
Lauffläche verlängert.
Agnès Poulbot arbeitete bei der Entwicklung eng mit Jacques Barraud, dem leitenden Experten für Reifendesign und -produktion bei Michelin, zusammen, um das neue Konzept zur Fertigungsreife zu bringen. Gemeinsam entwickelten die beiden eine spezielle Form zur Realisierung der übereinanderliegenden Laufflächenprofile und Fertigung im industriellen Maßstab.
Die Erfinder
Jacques
Barraud wurde 1958 in Cholet im Westen Frankreichs geboren. Er trat 1979 in das
Unternehmen Michelin ein und arbeitete dort als Ingenieur, Ausbilder und
Projektleiter, bis er 2016 verstarb.
Als Agnès Poulbot
1996 zu Michelin kam, unterstützte Barraud sie in ihrer Ausbildung. Gemeinsam
arbeiteten die beiden vier Jahre lang an der Entwicklung des Regenion-Reifens,
und häufig gingen sie auch in Clermont-Ferrand, dem Standort des
Michelin-Innovationszentrums, gemeinsam joggen.
Agnès
Poulbot wurde 1967 in Paris geboren und studierte in Grenoble Mathematik und
Informatik. Nachdem sie ihr Studium in Grenoble 1993 mit dem Titel eines PhD in
Angewandter Mathematik abgeschlossen hatte, arbeitete Poulbot zunächst für die
französische Kernenergiekommission CEA in Grenoble, wo sie an der Entwicklung
eines Bildrekonstruktionsalgorithmus für die Computertomografie in der Medizin mitwirkte.
1996
wechselte Agnès Poulbot zu Michelin und hat dort derzeit die Position einer
leitenden Expertin für Vorausentwicklung und zukunftsweisende
Forschungsprojekte im Bereich Lkw und Busse für den europäischen Markt inne.
Sie hat fünf Kinder und löst als Mathematikerin gerne gemeinsam mit ihrer
Familie Denksportaufgaben.
Wussten Sie das?
Agnès Poulbot könnte das Podium in Paris als sechste Gewinnerin des Europäischen Erfinderpreises und zweite Preisträgerin in der Kategorie "Industrie" das Podium in Paris verlassen. Eine ihrer Vorgängerinnen war Helen Lee, deren Diagnosekit für
Entwicklungsländer beim Publikum großen Anklang fand und 2016 den
Publikumspreis erhielt. Folgen Sie dem Link und lesen Sie mehr über Gewinnerinnen
der vergangenen Jahre und andere namhafte
Erfinderinnen.
Poulbot ist
auch nicht die erste Finalistin mit einer Erfindung aus dem Bereich der
komplexen Mathematik. Ein markantes Beispiel hierfür ist das multinationale Team, das die ausgeklügelten Signalmodulationstechnologien für die nächste
Generation des Satellitennavigationssystems Galileo entwickelt hat (Gewinner in
der Kategorie "Forschung" 2017).
Andere
Finalisten und Gewinner des Erfinderpreises, deren Arbeit ebenfalls auf komplizierten
mathematischen Berechnungen beruht, sind Joan Daemen und
Pierre-Yvan Liardet, mit deren Verschlüsselungstechniken Bankkarten
gesichert werden (Finalisten in der Kategorie "Industrie" 2016) oder Carles Puente mit seiner
Fraktalantenne für Mobiltelefone (Finalist in der Kategorie "KMU"
2014).