D 0001/85 (Erhebliche Abweichungen in der Bewertung) 25-07-1985
1. Bei der Bewertung der Arbeiten im Rahmen der europäischen Eignungsprüfung muss der insbesondere in Artikel 12(1) der Vorschriften über die Eignungsprüfung festgelegte Grundsatz der Einheitlichkeit gewahrt werden.
2. Die Wahrung dieses Grundsatzes wird von der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten überprüft; dazu, sowie im Interesse der "Durchsichtigkeit" der Verwaltungsmassnahmen ist es jedoch erforderlich, dass die Prüfer bei erheblichen Abweichungen in der Bewertung die vorgeschlagenen Noten entsprechend erläutern.
3. In Grenzfällen muss der Prüfungsausschuss eine Empfehlung abgeben und die Prüfungskommission im Einzelfall eine Entscheidung treffen. Aus den Prüfungsunterlagen, in die der erfolglose Bewerber auf Antrag Einsicht nehmen kann, muss ersichtlich sein, dass diese beiden Forderungen erfüllt worden sind; andernfalls ist die Entscheidung der Prüfungskommission nichtig.
Erhebliche Abweichungen in der Bewertung
Zweckmässigkeit von Erläuterungen in Grenzfällen des Prüfungsauschusses
Notwendigkeit einer Empfehlung des Prüfungsausschusses und einer Entscheidung der Prüfungskommission
I. Die Beschwerdeführerin hat an der 5. Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter teilgenommen die vom 25. bis 27. April 1984 stattgefunden hat.
II. Mit Bescheid vom 13. November 1984 wurde ihr mitgeteilt, daß sie aufgrund einer Entscheidung der Prüfungskommission die Prüfung nicht bestanden habe, da sie in den Arbeiten C und D (beide mit 5, d.h. nach der Bewertungsskala mit "leicht mangelhaft" bewertet) nicht bestanden und auch in den anderen Arbeiten (A und B wurden mit 4 bzw. mit 3, d.h. mit "befriedigend" bzw. "gut" bewertet) nicht so gut abgeschnitten habe, daß das Bestehen der Prüfung vom Gesamtergebnis her gerechtfertigt wäre.
III. Am 3. Januar 1985 legte die Bewerberin bei der Prüfungskommission Beschwerde ein und entrichtete fristgerecht die Beschwerdegebühr. In der Begründung vom 6. Februar 1985 beantragte sie
- die Aufhebung der Entscheidung der Prüfungskommission vom 13. November 1984,
- das Urteil eines dritten "Prüfers" über die Arbeit D sowie
- eine Neubewertung "der Gesamtleistung" aufgrund der Neubewertung der strittigen Prüfungsarbeit. Sie beantragte ferner die Rückzahlung der Beschwerdegebühr, falls ihrem Antrag stattgegeben werde.
IV. In der Begründung macht die Beschwerdeführerin im wesentlichen eine Verletzung des Artikels 12(1) der geänderten Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter vom 21. Oktober 1977 (ABl. EPA 1983, 282), im folgenden "Prüfungsvorschriften" oder "Vorschriften" genannt, geltend; der Artikel lautet wie folgt: "Die Prüfungskommission gibt den Mitgliedern der Prüfungsausschüsse die erforderlichen Anweisungen, um sicherzustellen, daß die Arbeiten der Bewerber einheitlich bewertet werden." Es liege eine grobe Mißachtung des dem genannten Artikel zugrunde liegenden Einheitlichkeitsprinzips vor, was sich in den erheblichen Abweichungen zwischen den Bewertungen der einzelnen Prüfer zeige.
Die Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, daß der Prüfer Ib für die Frage 2 in Teil I der Arbeit D 3 von 6 möglichen Punkten und der Prüfer III 5 von 6 möglichen Punkten gegeben habe, während für die Frage 11 3 bzw. 1 von 4 möglichen Punkten gegeben worden sei.
Bei Teil II derselben Arbeit seien folgende Abweichungen festzustellen: Für die Frage 1 seien 4 bzw. 13 von 15 möglichen Punkten und für die Frage 2 5 bzw. 12 von 15 möglichen Punkten (Prüfer Ib und III) gegeben worden.
V. Die Beschwerde wurde am 28. Februar 1985 vom Sekretär der Prüfungskommission ohne besondere Bemerkungen an die Kammer weitergeleitet. Erst auf Anfrage des Geschäftsstellenbeamten der Beschwerdekammern wurde am 19. März 1985 ausgeführt, daß die Kommission bei einer Sitzung am 26. Februar 1985 der Auffassung gewesen sei, daß sie der Beschwerde nicht nach Artikel 23 (3) der Vorschriften abhelfen könne.
1. Um die Beschwerde sachlich beurteilen zu können, erscheint es dringend geboten, kurz auf die Aufgaben einzugehen, die die Prüfungsvorschriften den einzelnen Gremien zuweisen, die bei der Bewertung der Prüfungsarbeiten nacheinander tätig werden.
1.1. Nach Artikel 6 b) werden die Prüfungsaufgaben von zwei Prüfern getrennt "bewertet" (englisch: "marked", französisch: "corrigées") und dann nach Artikel 5 (3) von den Prüfungsausschüssen ("Examination Committees", "commissions d'examen") "bewertet", die sie ihrerseits an die Prüfungskommission ("Board", "jury") weiterleiten. Die in der französischen Fassung der Prüfungsvorschriften festzustellende Uneinheitlichkeit in der Terminologie ("corriger", "noter") ist in der deutschen und englischen Fassung nicht zu finden. Aus Artikel 6 ergibt sich jedoch ganz eindeutig, daß die Note anhand der Bewertung der Prüfer, die letztlich nur ein Vorschlag ist, vom Prüfungsausschuß vergeben wird; dies hat die Kammer bereits in einer früheren Entscheidung (D 05/82 vom 15. Dezember 1982, ABl. EPA 1983, 175) festgestellt und auch die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung (Nr. 15) anerkannt.
1.2. Die Prüfungskommission ihrerseits hat nach Artikel 5 (3) die Aufgabe, nach Durchsicht der von den Prüfungsausschüssen bewerteten Arbeiten darüber zu entscheiden, ob die Bewerber die Prüfung bestanden haben oder nicht; sie prüft dabei insbesondere die Grenzfälle.
Es steht also zweifellos fest, daß die Prüfungskommission die endgültige Entscheidung trifft; dies ist in Artikel 5 (4) der Vorschriften festgelegt und wird noch durch die Nummer III der Anweisungen an die Prüfungsausschüsse - jedenfalls in der deutschen und englischen Fassung - erhärtet: "Die Prüfungskommission trifft ihre endgültige Entscheidung" - "The Examination Board takes its final decision"; die französische Fassung ist in diesem Punkt nicht so deutlich (ABl. EPA 1983, 296).
2. Im vorliegenden Fall lassen die Unterlagen über die strittige Prüfungsarbeit D erkennen, daß die Bewertung der beiden Prüfer Ib und III tatsächlich erhebliche Unterschiede aufweist, auf die die Beschwerde denn auch gestützt wird.
Dies schlägt sich in der Gesamtnote wie folgt nieder:
Teil I
Prüfer Ib: 30 Punkte
Prüfer III: 31,5 Punkte
Teil II
Prüfer Ib: 13 Punkte
Prüfer III: 30 Punkte
Eigentlich beträgt die Gesamtzahl der vom Prüfer Ib für Teil I vergebenen Punkte 32, ist jedoch infolge eines Rechenfehlers, der offensichtlich weder von den verschiedenen Bewertungsgremien noch von der Beschwerdeführerin selbst bemerkt worden ist, mit 30 angegeben worden.
Aufgrund ihrer Bewertungsergebnisse schlugen die Prüfer Ib und III für die Prüfungsarbeit D insgesamt die Note 6 (mangelhaft) bzw. 4 (befriedigend) der Bewertungsskala vor. Die Gesamtzahl der vom Prüfer Ib vergebenen Punkte beträgt, wenn man den oben erwähnten Rechenfehler unberücksichtigt läßt, 45, was der unteren Grenze der Note 6 entspricht; es hat also nur ein einziger Punkt gefehlt, und aus der Note 6 (mangelhaft) wäre die Note 5 (leicht mangelhaft) geworden.
Mit einer Ausnahme enthält die für "Bemerkungen" vorgesehene Spalte auf dem von den Prüfern ausgefüllten Bewertungsbogen keinerlei Eintragungen.
2.1. Anhand dieser Bewertungen schlug der Prüfungsausschuß der Prüfungskommission (grade recommended to the Board) die Note 5 (leicht mangelhaft) vor, und zwar ebenfalls ohne nähere Erläuterungen.
2.3. Die Prüfungskommission hat die Bewertung des Prüfungsausschusses zu einem der Kammer nicht bekannten Zeitpunkt bestätigt, wie aus der Mitteilung an die Bewerberin vom 13. November 1984 hervorgeht. In keiner Unterlage, in die die Beschwerdeführerin nach Artikel 21 (2) der Vorschriften Einsicht genommen hat und auf die die Kammer sich stützen könnte, ist eine besondere Entscheidung der Prüfungskommission erwähnt.
3. Einerseits steht fest, daß die Beschwerdekammer nicht an Stelle der Prüfungskommission eine Bewertung der Prüfungsarbeiten vornehmen kann (D 05/82 vom 15. Dezember 1982, ABl. EPA 1983, 175), da nach Artikel 23 (1) die Beschwerde nur wegen Verletzung der Vorschriften erhoben werden kann.
3.1. Andererseits besteht kein Zweifel daran, daß die in Artikel 21 (2) vorgesehene Möglichkeit, daß "die Bewerber, die die Prüfung nicht bestanden haben, Einsicht in ihre Prüfungsakte verlangen /können/", im Hinblick auf etwaige Beschwerden geschaffen worden ist. Mit dieser Bestimmung wurde am 10. Juni 1983 ein in einer früheren Entscheidung der Beschwerdekammer verankerter Grundsatz in die Vorschriften vom 21. Oktober 1977 aufgenommen; in der Entscheidung heißt es, daß der Beschwerdeweg ohne vorherige Einsicht in die Prüfungsakten praktisch ausgeschlossen ist (D 02/80 vom 8. Dezember 1981, ABl. EPA 1982, 192).
3.2. Im vorliegenden Fall hat der Umstand, daß in der Prüfungsakte praktisch keinerlei Bemerkungen seitens der Prüfer und des Prüfungsausschusses sowie keinerlei Begründung der Prüfungskommission enthalten waren, der Beschwerdeführerin eine stichhaltigere Argumentation und der Kammer eine wirksame Überprüfung der Frage erschwert, ob der Grundsatz der Einheitlichkeit der Bewertung in Artikel 12 (1), der auch den allgemein gültigen Rechtsgrundsätzen entspricht, sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist nach gewahrt worden ist.
3.3. Allerdings hat die Kammer in einer früheren Entscheidung die Auffassung vertreten, es sei nicht erforderlich, daß der Prüfer die Kopien der Prüfungsarbeiten mit Anmerkungen zurückgebe, weil es nunmehr ein Bewertungssystem mit Bewertungsbogen gebe, auf dem die Bewertung erfolge. Sie beschränkte sich in diesem Zusammenhang auf die Bemerkung, daß eine höhere "Durchsichtigkeit" "wünschenswert" wäre; der Bewerber habe jedoch keinen Anspruch darauf, unter Berufung auf das Fehlen aufschlußreicherer Korrekturen Beschwerde einzulegen (D 12/82 vom 24. Februar 1983, ABl. EPA 1983, 233).
Die Kammer ist ferner der Ansicht, der Prüfungsausschuß hätte bei derart krassen Abweichungen zwischen den Prüfern wie im vorliegenden Fall seine Auffassung nicht nur der besseren "Durchsichtigkeit" halber, sondern auch mit Rücksicht auf Artikel 6 c) der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter erläutern müssen.
Da zwei entgegengesetzte Bewertungen vorliegen, muß zwangsläufig wenigstens eine davon falsch sein. Unter diesen Umständen läßt sich das richtige Ergebnis nicht einfach dadurch ermitteln, daß man das arithmetische Mittel der beiden voneinander abweichenden Noten bildet. Die obengenannten Vorschriften sehen insbesondere in Fällen dieser Art nicht umsonst eine Folge von drei Instanzen vor, um eine einheitliche, gerechte Bewertung zu gewährleisten.
3.4. Obwohl oder gerade weil der Begriff des "Grenzfalles" in Artikel 12 (3) der Vorschriften mit den Worten "Arbeiten der Bewerber, die nur für mindestens die Hälfte der Prüfungsarbeiten die zum Bestehen ausreichende Bewertung erzielt haben" nicht sehr präzise definiert ist, dürfte sich die Beschwerdeführerin wegen der folgenden Noten sehr wohl in einer Grenzsituation befunden haben: ein "gut" (3), ein "befriedigend" (4), zwei "leicht mangelhaft" (5). Der krasse Unterschied in der Bewertung der Fragen der Prüfungsarbeit D mußte die Zweifel an der Richtigkeit der endgültigen Bewertung noch verstärken. In solchen Grenzfällen ist der Prüfungsausschuß nach Artikel 6 c) der Vorschriften verpflichtet, der Prüfungskommission eine Empfehlung vorzulegen. Die volle Bedeutung dieser Verpflichtung ergibt sich aus Artikel 5 (3), wo es heißt: Die Prüfungskommission "prüft insbesondere die Grenzfälle und entscheidet darüber, ob der Bewerber bestanden hat oder nicht". Wie wichtig dieser Vorgang ist, zeigt sich auch darin, daß dieselbe Vorschrift den Mitgliedern der Prüfungskommission, die den Prüfungsausschüssen angehört haben, die die betreffenden Bewerber zu beurteilen hatten, verbietet, an der Entscheidung teilzunahmen.
Aus den Unterlagen geht nirgendwo hervor, daß die wesentlichen Verpflichtungen, die sich für den Prüfungsausschuß aus Artikel 6 c) und für die Prüfungskommission aus Artikel 5 (3) ergeben, erfüllt worden sind. Andererseits verlangt die allgemeine Forderung nach der Wahrung der Rechte des einzelnen und nach Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen, daß in Fällen wie diesem die beschwerende Entscheidung entsprechend begründet wird. Die angefochtene Entscheidung ist auch in diesem Punkt mangelhaft.
3.5. Da die Vorschriften somit in mehreren wichtigen Punkten nicht eingehalten worden sind, ist dem Hauptantrag stattzugeben und die am 13. November 1984 mitgeteilte Entscheidung der Prüfungskommission aufzuheben.
3.6. Dem Antrag der Beschwerdeführerin, einen dritten Prüfer hinzuzuziehen, um im Rahmen dieses Verfahrens eine Neubewertung der Prüfungsarbeit D und damit eine Neubewertung der Prüfungsarbeiten insgesamt vorzunehmen, kann hingegen nicht stattgegeben werden.
Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, ist nur die Entscheidung der Prüfungskommission beschwerdefähig; die Aufgabe der Prüfer besteht ausschließlich darin, zu "bewerten", d.h. - wie aus dem Zusammenhang der Vorschriften hervorgeht - Noten "vorzuschlagen".
Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Prüfern ist als "Schiedsrichter" in den Vorschriften nur der Prüfungsausschuß vorgesehen, der mit seiner Bewertung die Entscheidung der Prüfungskommission vorbereitet.
3.7. Da der Beschwerde in der Hauptsache stattgegeben wird, ist es nur billig, gemäß Artikel 23 (4) der Vorschriften die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in voller Höhe anzuordnen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die am 13. November 1984 mitgeteilte Entscheidung der Prüfungskommission wird aufgehoben und die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung an die Prüfungskommission zurückverwiesen.
2. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.
3. Die übrigen Anträge der Beschwerdeführerin werden abgelehnt.