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J 0015/88 (Anspruchsgebühren) 20-07-1989
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I. Ein Anmelder hat in der Regel das Recht, Gegenstände aus jedem Teil der Beschreibung, der Ansprüche oder der Zeichnungen in der ursprünglich eingereichten Fassung herzuleiten. Beschränkungen dieses Rechts sind eng auszulegen, wenn sie als rechtsgültig betrachtet werden sollen. Daraus folgt, daß die Regel 31 (2) EPÜ (Verzicht auf Ansprüche) sorgfältig und in vertretbaren Grenzen angewendet werden muß.
2. Enthält eine Anmeldung in der eingereichten Fassung Bestandteile, die eindeutig als Patentansprüche im Sinne des Artikels 84 EPÜ zu erkennen sind, zumal wenn sie sich in einem Abschnitt befinden, der seiner Bezeichnung zufolge Ansprüche enthält, und wenn sie sich untereinander als Ansprüche bezeichnen, ist für die der Recherche vorausgehende Prüfung billigerweise davon auszugehen, daß es sich hierbei um die vom Anmelder gewünschten Ansprüche handelt und daß alles, was andernorts in der Anmeldung enthalten ist, unabhängig von Form und Inhalt nicht als Ansprüche gedacht ist.
3. Eine solche Annahme ist nur dann nicht vertretbar, wenn diese anderen Gegenstände die Form und den Inhalt von Ansprüchen aufweisen und der Anmelder durch seine Ausdrucksweise die Absicht bekundet, dass sie auch als Ansprüche behandelt werden sollen.
Anspruchsgebühren - Verzicht auf Ansprüche
Verzicht auf Ansprüche
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 87 108 792.0 wurde am 19. Juni 1987 im Namen der Beschwerdeführerin, einer US- Gesellschaft, eingereicht. Für die Anmeldung wurde die Priorität zweier US-Voranmeldungen in Anspruch genommen. In der eingereichten Fassung enthielt die Anmeldung eine Beschreibung, an die sich ein Abschnitt mit der Überschrift "Bevorzugte Merkmale der Erfindung" (bestehend aus 117 numerierten "Klauseln") und ein Abschnitt mit der Überschrift "Patentansprüche", der 13 Ansprüche aufwies, anschlossen. Am Anmeldetag wurden die Anmeldegebühr, die Recherchengebühr und die Benennungsgebühren entrichtet; gemäß Regel 31 (1) EPÜ wurden an diesem Tag auch drei Anspruchsgebühren entrichtet.
II. Am 7. August 1987 wies die Eingangsstelle den Vertreter der Beschwerdeführerin schriftlich darauf hin, daß die in Artikel 91 (2) EPÜ vorgeschriebene Prüfung durch die Eingangsstelle ergeben habe, daß die Gebühren für die der Beschreibung beiliegenden 117 zusätzlichen "Ansprüche" noch nicht gemäß Regel 31 (1) EPÜ entrichtet worden seien; nach Regel 31 (3) (jetzt Regel 31 (2)) EPÜ gelte es als Verzicht auf einen Patentanspruch, wenn die Anspruchsgebühr dafür nicht rechtzeitig entrichtet werde. Ihres Erachtens enthalte die vorliegende Anmeldung nämlich als Anlage zur Beschreibung weitere 117 Ansprüche, auch wenn die Beschwerdeführerin darauf bedacht gewesen sei, sie als "bevorzugte Merkmale der Erfindung" darzustellen. Sie bezog sich dabei auf die Entscheidung in der Sache J 05/87 vom 6. März 1987 (ABl. EPA 1987, 295) und insbesondere auf die Feststellung, daß die Vorschriften über Form und Inhalt der Beschreibung bzw. der Ansprüche (R. 27 und 29 EPÜ) eingehalten werden müßten, damit das europäische Patentsystem richtig funktionieren könne. Folglich habe die Beschwerdeführerin die strittigen "Klauseln" als Ansprüche in die Anmeldung aufnehmen müssen, um sich die Möglichkeit vorzubehalten, sie als Grundlage für die Sachprüfung zu benutzen.
III. Der Vertreter der Beschwerdeführerin beantragte daraufhin mit einem am 6. Oktober 1987 eingegangenen (und ordnungsgemäß schriftlich bestätigten) Fernschreiben, daß die Mitteilung der Eingangsstelle vom 7. August 1987 zurückgenommen wird und die von ihm am 7. Oktober 1987 zur Vermeidung eines Rechtsverlusts unter Widerspruch entrichteten zusätzlichen 117 Anspruchsgebühren zurückgezahlt werden. Der Vertreter behauptete, die Entscheidung J 05/87 könne nicht angezogen werden, da im vorliegenden Fall der Sachverhalt anders gelagert sei; insbesondere weise die vorliegende Anmeldung - im Gegensatz zu der Anmeldung in dem genannten Fall - in dem mit "Bevorzugte Ausführungsarten" überschriebenen Abschnitt das Wort "Ansprüche" nicht auf und enthalte auch nicht die Angabe, die bevorzugten Ausführungsarten seien "in Form von Ansprüchen abgefaßt". Der Vertreter machte ferner geltend, daß es ohnehin möglich gewesen wäre, die gleichen Sätze wie die in Frage stehenden als Angaben zur Erfindung in den einführenden Teil der Beschreibung aufzunehmen, und daß dann unmöglich Anspruchsgebühren hätten verlangt werden können.
IV. Mit Entscheidung vom 3. März 1988 wies die Eingangsstelle den Antrag auf Rückzahlung der für die 117 "Ansprüche" entrichteten Anspruchsgebühren mit der Begründung zurück, daß erstens immer der Inhalt und nicht die Form oder die Überschrift eines Teils einer Patentanmeldung bestimme, um welchen Teil es sich handle, und daß zweitens die Regeln 27 und 29 EPÜ angewendet werden müßten. Der Anmelder dürfe sich über diese Vorschriften nicht einfach hinwegsetzen und seine Anmeldung so abfassen, daß er damit die Absichten und Vorschriften der Ausführungsordnung zum EPÜ unterlaufe und die in Regel 31 (1) EPÜ vorgesehene Entrichtung von Anspruchsgebühren umgehe. Die Anmeldung enthalte insgesamt 130 Ansprüche, und deshalb könnten die 120 Anspruchsgebühren nicht zurückgezahlt werden.
V. Am 27. Mai 1988 reichte die Beschwerdeführerin einen Beschwerdeschriftsatz und eine Begründung ein; die Beschwerdegebühr wurde ordnungsgemäß entrichtet.
VI. In der mündlichen Verhandlung am 8. März 1989 behauptete der Vertreter der Beschwerdeführerin, das EPÜ enthalte keine Regel, in der festgelegt sei, was als Patentanspruch auszulegen sei; aus Artikel 69 EPÜ könne gefolgert werden, daß Ansprüche nicht in die Beschreibung, die ein getrennter Teil der Anmeldung sei, aufgenommen werden könnten. Der vorliegende Fall sei anders gelagert als der Fall J 05/87. Bei den Ausführungen in der vorliegenden Anmeldung, die von der Eingangsstelle als Ansprüche betrachtet worden seien, handle es sich eigentlich nur um Angaben, die auch weiter vorne in die Beschreibung hätten aufgenommen werden können; das EPA sei daher nicht berechtigt, hierfür Anspruchsgebühren zu verlangen. Im Gegensatz zur Annahme der Eingangsstelle sei keineswegs beabsichtigt, die vorgeschriebene Entrichtung von Anspruchsgebühren dadurch zu umgehen, daß der Inhalt von US- Ansprüchen aus einer prioritätsbegründenden Anmeldung in die Beschreibung der europäischen Anmeldung aufgenommen werde. Das Problem bestehe darin, daß europäische zugelassene Vertreter aus den USA stammende Anmeldungen manchmal so kurz vor dem Stichtag für ihre Einreichung erhielten, daß es schwierig sei, vorher noch größere Änderungen am Wortlaut vorzunehmen; es bestehe hierbei die große Gefahr, daß Gegenstände versehentlich ausgelassen würden und damit unwiederbringlich verlorengingen, wenn der Inhalt der US-Ansprüche nicht in der Anmeldung in der eingereichten Fassung wiederholt werde. Der vorliegende Fall sei hierfür ein Beispiel. Ein Vertreter, der - wie dies bei Euro-PCT- Anmeldungen der Fall sein sollte - ausreichend Zeit und Gelegenheit habe, würde die Beschreibung überarbeiten, damit sie auf eine europäische Anmeldung besser zugeschnitten sei.
VII. Der Vertreter der Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Rückzahlung von 117 Anspruchsgebühren.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Kammer läßt sowohl die vom Vertreter der Beschwerdeführerin vorgetragene Begründung, weshalb er die 117 "Klauseln" in die vorliegende Anmeldung aufgenommen habe, als auch seine Erklärung gelten, daß er keineswegs - wie ihm unterstellt - die Absicht gehabt habe, Regel 31 EPÜ zu umgehen. Im vorliegenden Fall geht es jedoch in erster Linie nicht um die Frage nach der subjektiven Absicht, sondern vielmehr darum, welche Absicht den objektiven Gegebenheiten der der Eingangsstelle vorliegenden Patentanmeldung zu entnehmen ist.
3. In der vorliegenden Beschwerde geht es um Fragen, die auch Gegenstand einiger anderer bei der Juristischen Beschwerdekammer anhängiger Beschwerden sind. Sie verdienen eine sorgfältige Prüfung, da sie offensichtlich sowohl den Anmeldern als auch der Eingangsstelle und den Recherchenabteilungen des EPA Schwierigkeiten bereiten.
4. Wie von der Juristischen Beschwerdekammer in der Sache J 09/84 (ABl. EPA 1985, 233) festgestellt wurde, wird mit der Gebührenpflicht für Patentansprüche (R. 31 (1) EPÜ) in erster Linie kein finanzpolitischer Zweck verfolgt; sie soll vielmehr bewirken, daß sich die Anzahl der Patentansprüche insbesondere für die Zwecke der europäischen Recherche in vertretbaren Grenzen hält (vgl. R. 29 (5) EPÜ).
5. Im Fall J 05/87 (ABl. EPA 1987, 295) mußte die Kammer erstmals prüfen, ob ein Anhang zur Beschreibung einer europäischen Patentanmeldung, der aus 33 US-Ansprüchen bestand, als Patentansprüche für die Zwecke der Regel 31 (1) EPÜ anzusehen war. Unter Berücksichtigung der Sachlage vertrat die Kammer damals die Auffassung, es handle sich um Ansprüche, für die Anspruchsgebühren zu entrichten seien. Es wurden zwei Faktoren in Betracht gezogen, die die Ansicht der Eingangsstelle bestätigten: Erstens bestand der Anhang sowohl von der Form als auch vom Inhalt her nur aus Ansprüchen im Sinne von Artikel 84 und Regel 29 EPÜ, und zweitens wurde der Anhang, der mit den Ansprüchen der prioritätsbegründenden US-Anmeldung identisch war, deshalb von der Beschwerdeführerin in die Anmeldung aufgenommen, um sich die Möglichkeit vorzubehalten, seinen Inhalt der Sachprüfung zugrunde zu legen. (In der Beschwerdebegründung war der zweite Punkt ausdrücklich zugegeben worden; der Anhang habe, so wurde behauptet, der Recherchenabteilung die Arbeit erleichtern sollen.)
6. Ein Anmelder, der die Zahlung der angeforderten Anspruchsgebühren ablehnt, läuft Gefahr, daß Merkmale eines gemäß Regel 31 (2) EPÜ (R. 31 (3) bis zum Beschluß des Verwaltungsrats vom 5. Juni 1987, ABl. EPA 1987, 276) als fallengelassen geltenden Anspruchs, die der Beschreibung oder den Zeichnungen nicht zu entnehmen sind, später nicht mehr in die Anmeldung und insbesondere nicht in die Ansprüche eingeführt werden können. Dieser Punkt, auf den der Vertreter der Beschwerdeführerin in seinem Vorbringen besonders abhob, wird durch die Ausführungen Teschemachers im Münchener Gemeinschaftskommentar, 7. Lieferung, Mai 1985, S. 70, Rdnr. 138, voll und ganz bestätigt.
7. Der Gedanke, es könne - gestützt auf eine einzige Vorschrift der Ausführungsordnung (R. 31 (2) EPÜ), die zur Wahrung einer anderen (R. 29 (5) Satz 1 EPÜ) eingeführt wurde - einen Zwangsverzicht auf Gegenstände geben, widerspricht vielmehr den Grundsätzen höheren Rechts (vgl. Art. 164 (2) EPÜ), die aus Artikel 52 (1) EPÜ in Verbindung mit Artikel 123 (2) EPÜ herzuleiten sind. Ein Anmelder hat in der Regel das Recht, Gegenstände aus jedem Teil der Beschreibung, der Ansprüche oder der Zeichnungen in der ursprünglich eingereichten Fassung herzuleiten. Die Juristische Beschwerdekammer ist der Auffassung, daß Beschränkungen dieses Rechts eng auszulegen sind, wenn sie als rechtsgültig betrachtet werden sollen. Daraus folgt, daß Regel 31 (2) EPÜ sorgfältig und in vertretbaren Grenzen angewendet werden muß.
8. Enthält eine Anmeldung in der eingereichten Fassung Bestandteile, die eindeutig als Patentansprüche im Sinne des Artikels 84 EPÜ zu erkennen sind, zumal wenn sie sich in einem Abschnitt befinden, der seiner Bezeichnung zufolge Ansprüche enthält, und wenn sie sich untereinander als Ansprüche bezeichnen, ist für die der Recherche vorausgehende Prüfung billigerweise davon auszugehen, daß es sich hier um die vom Anmelder gewünschten Ansprüche handelt und daß alles, was andernorts in der Anmeldung enthalten ist, unabhängig von Form oder Inhalt nicht als Ansprüche gedacht ist. Eine solche Annahme ist nur dann nicht vertretbar, wenn diese anderen Gegenstände die Form und den Inhalt von Ansprüchen aufweisen und der Anmelder durch seine Ausdrucksweise die Absicht bekundet, daß sie auch als Ansprüche behandelt (und von der Recherchenabteilung sogar besonders beachtet) werden sollen; dies war in der Sache J 05/87 auch der Fall. Hier ist die Sachlage jedoch eine andere.
9. Die 117 strittigen "Klauseln" im vorliegenden Fall sind zwar so numeriert und angeordnet, wie dies bei Ansprüchen für die Zwecke der Regel 29 EPÜ der Fall sein sollte, und sie scheinen auch Gegenstände durch technische Merkmale anzugeben; Tatsache ist aber, daß sie nie als Ansprüche bezeichnet werden, daß es andernorts Ansprüche gibt, die als einzige auch so genannt werden, und daß 17 der "Klauseln" (mit den Nummern 1, 19, 37, 55 - 64, 76, 94 und 105) Gegenstücke unter diesen Ansprüchen haben. Die Annahme ist also nicht vertretbar, daß die Beschwerdeführerin diese 17 "Klauseln" als Patentansprüche gedacht hatte; sie bedeuten auch keine Mehrarbeit für die Recherchenabteilung. Wenn diese Klauseln aber keine Ansprüche sind, dann können die Angaben in den verbleibenden 100 "Klauseln" ihrer Art nach nur zusammengefaßt dargestellte bevorzugte zusätzliche Merkmale sein.
10. Die Rückzahlung der für die 117 "Klauseln" entrichteten Anspruchsgebühren in Höhe von 7 605 DEM ist nach Regel 31 (2) Satz 2 EPÜ nicht ausgeschlossen, da die "Klauseln" in der europäischen Patentanmeldung Nr. 87 108 792.0 keine "gebührenpflichtigen Patentansprüche" waren und mithin die entrichteten Gebühren auch nicht anfielen. Sie wurden zu Unrecht gefordert und sind zurückzuzahlen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Rückzahlung der 117 Anspruchsgebühren in Höhe von 7 605 DEM wird angeordnet.