J 0020/94 (Zuerkennung eines Anmeldetags) 24-07-1995
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Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Ist es für die Begründung eines Anmeldetags einer europäischen Patentanmeldung erforderlich, daß die eingereichte Anmeldung neben einer Beschreibung zumindest einen Patentanspruch enthält, der gesondert von der Beschreibung formuliert und als solcher erkennbar ist?
2. Wenn die Frage zu 1 verneint wird: Genügt es für die Begründung des Anmeldetags im Sinne des Artikels 80 EPÜ, daß zumindest ein Patentanspruch zwar nicht ausdrücklich formuliert, aber aus der beschriebenen Erfindung herleitbar ist?
3. Wenn die Frage zu 2 bejaht wird: Welche Anforderungen sind an die Herleitbarkeit eines nicht ausdrücklich formulierten Patentanspruchs zu stellen: a) Ist es erforderlich, daß aus dem Text der Beschreibung unmittelbar und eindeutig zumindest ein Anspruch erkennbar ist, oder
b) ist es ausreichend, wenn die Beschreibung eine Erfindung so offenbart, daß ein zu schützender Gegenstand erkennbar ist, für den ein Anspruch formuliert werden könnte?
I. Die europäische Patentanmeldung ... betreffend eine Sicherheitstorflagge für den Skirennsport wurde unter Beanspruchung der österreichischen Priorität vom 26. August 1992 am 24. August 1993 eingereicht. Die an diesem Tag eingegangenen Unterlagen bestehen aus dem Erteilungsantrag (Form 1001), einer mit Ausnahme des Deckblatts handgeschriebenen Beschreibung und 5 Figuren. Die vorbereitete Empfangsbescheinigung (Blatt 5 des Erteilungsantrags) enthält in Feld 46 in der Zeile "A.2 Patentansprüche" den Hinweis "werden nachgereicht".
II. Mit Bescheid der Eingangsstelle vom 30. September 1993 wurde dem Anmelder mitgeteilt, daß die Anmeldung den Erfordernissen für die Zuerkennung eines Anmeldetags nicht genüge, da sie keinen Patentanspruch enthalte. Mit Eingabe vom 5. Oktober 1993, eingegangen am 11. Oktober 1993, reichte der Anmelder eine Reinschrift der ursprünglich eingereichten Beschreibung und zusätzlich 9 Patentansprüche ein. Mit Telefax vom 29. Oktober 1993 wurde dem Anmelder mitgeteilt, daß der Anmeldetag abgeändert werden müsse und die Priorität nicht mehr beansprucht werden könne, da der Tag der beanspruchten Priorität mehr als ein Jahr vor dem Anmeldetag liege.
III. Mit seiner Eingabe vom 2. November 1993 erwiderte der Anmelder, die ursprüngliche Beschreibung enthalte bereits einen Patentanspruch in der folgenden Passage:
"Besonders festhalten möchte ich noch, daß in den beiden Figuren 4 und 5 die Öffnung 36 in Figur 4 sowie die Öffnung 45 in Figur 5 einen besonderen Patentanspruch erhalten sollen ..."
Nach Rücksprache mit dem Recherchenprüfer konnte die Eingangsstelle in der genannten Passage nicht die Formulierung eines Patentanspruchs sehen und machte den Anmelder darauf aufmerksam, daß die Figur 5 kein Bezugszeichen 45 enthalte und daß der tatsächlich eingereichte Hauptanspruch in keinster Weise auf die in dem angegebenen Text genannten Öffnungen gerichtet sei. Mit Bescheid nach Regel 39 EPÜ vom 14. Februar 1994 teilte sie dem Anmelder mit, daß der Anmeldetag auf den 11. Oktober 1993 festgesetzt worden sei.
IV. Mit Bescheid vom 16. Februar 1994 teilte sie ihm nach Regel 41 (3) EPÜ mit, daß der in Anspruch genommene Prioritätstag mehr als ein Jahr vor dem Anmeldetag liege und daß die Angabe innerhalb eines Monats berichtigt werden könne; werde der Mangel nicht beseitigt, so bestehe kein Prioritätsanspruch. In seiner Erwiderung vom 21. Februar 1994 vertrat der Anmelder weiterhin die Auffassung, daß die ursprünglichen Unterlagen für die Zuerkennung eines Anmeldetags genügten; er beantragte, die beanspruchte Priorität anzuerkennen.
V. Mit Entscheidung vom 5. Juli 1994 wies die Eingangsstelle den Antrag auf Anerkennung der beanspruchten Priorität und des Anmeldetags des Eingangs der ursprünglichen Unterlagen zurück. Nach ihrer Auffassung enthält die ursprüngliche Beschreibung zwar einen Hinweis auf einen Patentanspruch, aber keine ausreichenden technischen Merkmale. Eine Recherche wäre deshalb aufgrund der ursprünglichen Unterlagen nicht möglich gewesen, wie eine Rückfrage beim Recherchenprüfer ergeben habe.
VI. Mit Schreiben vom 28. Juli 1994, eingegangen am 30. Juli 1994, legte der Anmelder Beschwerde ein, begründete diese und entrichtete die Beschwerdegebühr.
VII. Er trug vor, aus der zitierten Passage habe sich unter anderem folgender Patentanspruch formulieren lassen:
"Flagge für den Skisport ... , dadurch gekennzeichnet, daß ...."
Danach hätte der Recherchenprüfer ohne weiteres recherchieren können. Im übrigen sei es dem Recherchenprüfer nicht verwehrt gewesen, nach den vor Beginn der Recherche nachgereichten Ansprüchen zu recherchieren. Die hier einschlägigen Formvorschriften des EPÜ seien eng auszulegen, da sie keinerlei Sinngehalt erkennen ließen. Auf einen Bescheid der Kammer ergänzte der Beschwerdeführer sein Vorbringen dahin, daß mit dem Satz in der Beschreibung "Besonders festhalten möchte ich noch, daß in Figur 4 die Öffnung 36 einen besonderen Patentanspruch erhalten soll" folgender Patentanspruch eingereicht worden sei:
"Torflagge, wie in Figur 4 dargestellt, mit einer Öffnung (36) nach Figur 4."
Selbst wenn ein solcher Patentanspruch Mängel enthalte, könnten diese im Lauf des Erteilungsverfahrens bereinigt werden. Hier gehe es nur um die Frage, ob ursprünglich irgendein Patentanspruch offenbart worden sei.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragte, der Anmeldung die Priorität vom 26. August 1992 zuzuerkennen und die Beschwerdegebühr zurückzuerstatten.
1. Nach Artikel 80 d) EPÜ ist es für die Zuerkennung eines Anmeldetags erforderlich, daß die eingereichten Unterlagen zumindest einen Patentanspruch enthalten. Da im vorliegenden Fall die ursprünglich eingereichten Unterlagen keinen Bestandteil enthalten, der als Anspruch bezeichnet ist, ist das Erfordernis von Artikel 80 d) EPÜ nur dann erfüllt, wenn in einem anderen Bestandteil dieser Unterlagen zugleich ein Patentanspruch gesehen werden kann. Hiervon gehen auch die Vorinstanz und der Beschwerdeführer aus (dahingestellt in J 20/85, ABl. EPA 1987, 102, Punkt 7 der Gründe).
2. Zutreffend weist der Beschwerdeführer darauf hin, daß die ursprünglichen Unterlagen nicht den Formvorschriften der Anmeldebestimmungen (Regel 26 f. EPÜ) genügen müssen (Artikel 80 d) zweiter Halbsatz EPÜ). Dementsprechend hält es die Praxis für ausreichend, wenn ein Schriftstück vorhanden ist, das offenbar einen oder mehrere Patentansprüche enthält (Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-II, 4.5). Ist allerdings kein Schriftstück vorhanden, das mit Anspruch oder Ansprüchen bezeichnet ist, so muß irgendein Anhaltspunkt ersichtlich sein, daß es sich bei einem anderen, bestimmten Bestandteil der Unterlagen um einen Anspruch handeln soll. Es scheint auch nicht von vornherein ausgeschlossen, daß ein Bestandteil der Beschreibung als Anspruch angesehen werden kann. Allerdings dienen diese beiden Anmeldungsteile verschiedenen Zwecken, die in Artikel 83 und 84 EPÜ definiert sind. Während die Beschreibung der Ort ist, wo eine ausführbare Erfindung zu offenbaren ist, ist in den Ansprüchen zu definieren, was unter Schutz gestellt werden soll. Daher kann nicht willkürlich aus der Beschreibung ein Teil herausgegriffen und als Anspruch umgedeutet werden. Vielmehr muß am Anmeldetag ein Gegenstand in den Anmeldungsunterlagen erkennbar sein, für den Schutz begehrt wird.
3. Hierfür ist im vorliegenden Fall ein Anhaltspunkt gegeben. Aus der vom Anmelder zitierten Passage wird deutlich, daß die Öffnung 36 in Figur 4 unter Schutz gestellt werden soll. Es fehlt jedoch an dieser Stelle eine unzweideutige Definition dieser Öffnung. Der Wortlaut der Passage ("erhalten soll") ist in die Zukunft gerichtet und deutet darauf hin, daß die Definition des zu schützenden Gegenstands erst noch erfolgen wird. Dies steht in Einklang mit dem Hinweis des Anmelders in der vorbereiteten Empfangsbescheinigung, daß die Ansprüche nachgereicht werden. Jedenfalls scheint die Passage allein nicht für eine Definition des zu schützenden Gegenstands geeignet und bestimmt. Zum einen bleibt offen, wie die Öffnung gestaltet ist. Wenngleich der Leser aus der Figur 4 und ihrer Beschreibung eine Vorstellung über die Ausgestaltung der Öffnung hat, besteht doch eine Vielzahl von Möglichkeiten, sie zu definieren.
Der Beschwerdeführer hat zuletzt vorgetragen, der genannte Text enthalte einen Anspruch, in dem die Torflagge mit ihrer Öffnung durch eine bloße Bezugnahme auf die Figur definiert sei. Eine solche Definition ist dem zitierten Text aber nicht unmittelbar zu entnehmen. Sie liegt auch nicht auf der Hand, weil es sich im Hinblick auf Regel 29 (6) EPÜ sicher nicht um eine übliche Anspruchsformulierung handelt. Weiter läßt der Text offen, ob die Öffnung allein oder in Verbindung mit anderen Merkmalen beansprucht werden soll. Für letzteres könnte die vom Beschwerdeführer nicht herangezogene zweite Satzhälfte
"... , denn ohne diese Öffnungen wäre eine Funktion ... , gar nicht möglich."
sprechen, die auf ein Zusammenwirken der Öffnungen mit noch anderen Merkmalen hindeutet. Der Beschwerdeführer hat mehrere Fassungen eines Patentanspruchs vorgelegt, der in der ursprünglichen Beschreibung enthalten sein soll. Die Tatsache, daß er aus derselben Passage mehrere, inhaltlich durchaus verschiedene Anspruchsformulierungen ableitet, deutet wohl darauf hin, daß die eindeutige Formulierung eines Anspruchs aus dem Text der Beschreibung nicht sofort erkennbar ist.
4. Zudem würde der Leser nach dem gesamten Inhalt der Beschreibung kaum einen einzigen Patentanspruch erwarten, der auf das vom Beschwerdeführer herausgegriffene konstruktive Detail einer von fünf Figuren gerichtet ist. Das Schwergewicht der Offenbarung liegt auf den Merkmalen für ... Dies wird durch die nachgereichten Ansprüche nur bestätigt. Ein dem gesamten Offenbarungsgehalt entsprechender Anspruch läßt sich daher nicht aus dem vom Beschwerdeführer herangezogenen Detail einer Figurenbeschreibung herleiten. Er wäre vielmehr in dem allgemeinen Teil der Beschreibung (dort S. 1) zu suchen, wonach (Beschreibungseinleitung und letzter Absatz) folgender Anspruch denkbar wäre:
"Sicherheitstorflagge für den Skirennsport, die ... ."
5. Auch hierin kann aber letztlich nur eine von verschiedenen in Betracht kommenden Möglichkeiten gesehen werden. Struktur und Text der Beschreibung erlauben keinen sicheren Schluß, daß die genannten Passagen als Anspruch zu verstehen sind. Aus alledem folgt, daß die ursprüngliche Beschreibung keinen Textbestandteil enthielt, der unmittelbar als Patentanspruch erkennbar war.
6. Die Entscheidung des Falles hängt daher nicht nur von der in J 20/85 (a.a.O.) dahingestellten Frage ab, ob eine Passage der Beschreibung zugleich als Anspruch angesehen werden kann. Vielmehr könnte die Kammer der Beschwerde nur stattgeben, wenn sie es für das Erfordernis des Artikel 80 (d) EPÜ bereits als ausreichend ansehen würde, daß aus der Beschreibung ein Anspruch hergeleitet werden kann. Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, die hier einschlägigen Vorschriften seien als reine Formvorschriften eng auszulegen, überdies entbehrten sie jeden Sinngehalts.
7. Dem kann sich die Kammer allerdings nicht anschließen. Für einen Auslegungsgrundsatz, daß Formvorschriften generell eng auszulegen sind, sieht die Kammer keine vertretbare Grundlage. Die Vorschriften des Übereinkommens sind in erster Linie nach ihrem Sinn und Zweck auszulegen (vgl. etwa G 1/94, ABl. EPA 1994, 787, insbes. Punkt 7 der Gründe). Daher ist bei Zweifeln über die Auslegung einer Formvorschrift zu prüfen, welche Auslegung mit den Zielen der Vorschrift in Einklang steht. Dabei dürfte sicherlich zu berücksichtigen sein, daß Formvorschriften den anzuerkennenden Zweck haben können, der Rechtssicherheit oder einer effektiven Gestaltung des Verfahrens zu dienen.
8. Das Erfordernis der Einreichung eines Anspruchs bereits am Anmeldetag dient ersichtlich der zügigen Durchführung der Recherche. Der Recherchenbericht ist nach Artikel 92 (1) EPÜ in Verbindung mit Regel 86 (1) EPÜ auf der Grundlage der ursprünglichen Patentansprüche zu erstellen und soll mit der europäischen Patentanmeldung veröffentlicht werden (Artikel 93 (2) EPÜ). Europäische Nachanmeldungen werden meist - wie auch im vorliegenden Fall - am Ende des Prioritätsjahrs eingereicht. Dies bedeutet, daß für Eingangs- und Formalprüfung, Recherche und Veröffentlichung im Regelfall insgesamt nur etwa sechs Monate zur Verfügung stehen. Da die Formalprüfung (Artikel 91 EPÜ) parallel zur Recherche durchgeführt wird, bleibt für die Recherche der Zeitraum zwischen Abschluß der Eingangsprüfung (Artikel 90 EPÜ) und dem Beginn der Drucklegung (vgl. Artikel 92 EPÜ). Der verfügbare Zeitraum kann erheblich eingeschränkt sein, wenn eine Übersetzung der Anmeldungsunterlagen nach Artikel 14 (2), Regel 6 (1) EPÜ einzureichen ist, die in Artikel 90 (3) EPÜ genannten Gebühren erst innerhalb der Nachfrist nach Regel 85a EPÜ entrichtet werden oder nach Regel 46 (1) EPÜ zur Entrichtung weiterer Recherchengebühren aufzufordern ist. Schon derartige Umstände allein können, unabhängig von der Belastung der Recherchenabteilungen, dazu führen, daß der Recherchenbericht nicht rechtzeitig für die Veröffentlichung der Anmeldung erstellt werden kann. Für ein zusätzliches Mängelbeanstandungsverfahren entsprechend Artikel 91, Regel 40 EPÜ für die Nachreichung von Ansprüchen unter Gewährung der üblichen Fristen (Regel 84 f. EPÜ) bliebe in diesem engen zeitlichen Rahmen kein Raum, ohne eine weitere Ursache für die verspätete Erstellung von Recherchenberichten zu setzen.
9. Dem Gesetzgeber war die frühzeitige Information der Öffentlichkeit über noch nicht geprüfte Anmeldungen ein besonderes Anliegen. Da der Recherchenbericht Rückschlüsse auf die Erfolgsaussichten einer Anmeldung erlaubt, ist er für die Information des Anmelders und seiner Wettbewerber von erheblicher Bedeutung. Zugleich war der Gesetzgeber bestrebt, die an die Veröffentlichung des europäischen Recherchenberichts geknüpfte Prüfungsantragsfrist auf ein Minimum zu beschränken (van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Rdn. 370). Wenngleich der Gesetzgeber die Möglichkeit der späteren, gesonderten Veröffentlichung des Recherchenberichts vorgesehen hat (Artikel 93 (2) Satz 2 EPÜ), war ihm aus den genannten Gründen daran gelegen, daß der Recherchenbericht zugleich mit der Anmeldung veröffentlicht wird, und er ging davon aus, daß dies nach Möglichkeit geschieht (Denkschrift zum EPÜ, Anmerkung zu Artikel 93, veröffentlicht in Begründung zum Entwurf des Gesetzes über internationale Patentübereinkommen, Bundestagsdrucksache 7/3712, S. 416). Die getroffenen Regelungen, die Artikel 11 (1)iii)e) und (3) PCT entsprechen, dienen dem Ziel, Verzögerungen bei der Erstellung des Recherchenberichts möglichst zu vermeiden. Die Einwände des Beschwerdeführers gegen den Sinngehalt von Artikel 80 d), 90 (2) EPÜ können daher nicht überzeugen.
10. Allerdings steht der Beschwerdeführer mit seiner Forderung nach einer einschränkenden Auslegung von Artikel 80 d) EPÜ nicht allein. Bossung vertritt die Auffassung, der zu Anfang des Verfahrens geforderte Patentanspruch sei rechtlich bedeutungslos. Nach einer sinnvollen Textinterpretation könnten nur ursprüngliche Unterlagen mit einem Text verlangt werden, der dem Anschein nach die Offenbarung einer Erfindung enthält (Münchner Gemeinschaftskommentar, 8. Lfg. 1986, Art. 80 EPÜ, Rdn. 99 - 101). Den vorstehend skizzierten Gesetzeszweck sieht er nicht als ausreichenden Grund für die Versagung des Anmeldetags an, da die Einreichung eines nur formalen Anspruchs zwar für Artikel 80 d) EPÜ genüge, für die Recherche aber untauglich sei, wenn der Anspruch die Erfindung schlecht kennzeichne (a.a.O., Rdn. 97).
Richtig ist, daß bei einer Recherche aufgrund der ursprünglichen Patentansprüche keine Gewähr dafür besteht, daß die Ansprüche für die Recherche zweckmäßig abgefaßt sind. Artikel 92 (1) EPÜ sieht deshalb vor, daß die Recherche unter angemessener Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen erstellt wird. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß für die Erstellung einer vorschriftsgemäßen Recherche als Grundlage für die Beurteilung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit (Regel 44 (1) EPÜ) auf Patentansprüche ganz verzichtet werden könnte.
11. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß die rechtzeitige Erstellung der Recherche in der Praxis des europäischen Patenterteilungsverfahrens nicht in dem Maß verwirklicht wird, wie es sich der Gesetzgeber vorgestellt hat. So sind etwa im Jahr 1994 knapp ein Drittel der Anmeldungen ohne Recherchenbericht veröffentlicht worden (Europäisches Patentamt, Jahresbericht 1994, S. 37). Dies kann Zweifel daran wecken, ob die einschneidende Rechtsfolge aus Artikel 80 d), 90 (2) Satz 2 EPÜ ein geeignetes und angemessenes Mittel ist, um die frühzeitige Erstellung des europäischen Recherchenberichts sicherzustellen.
12. Die Kammer möchte in diesem Zusammenhang auch auf Artikel 8 (2) und Regel 7 (2) des Entwurfs eines Patent Law Treaty hinweisen, der den Vertragsparteien den in Artikel 80 d), 90 (2) Satz 2 EPÜ vorgesehenen Mechanismus nicht erlauben würde. Das Fehlen der Ansprüche in den ursprünglichen Unterlagen würde nach diesem Entwurf die Sanktion der Versagung des Anmeldetags erst dann gestatten, wenn der Anmelder einer Aufforderung nach Beseitigung des Mangels, ggf. unter Zahlung einer Zuschlagsgebühr, nicht nachgekommen ist (Records of the Diplomatic Conference for the Conclusion of a Treaty Supplementing the Paris Convention as far as Patents Are Concerned, Volume I: First Part of the Diplomatic Conference The Hague, 1991, WIPO Geneva 1991, Basic Proposal, S. 18-20, S. 50 f.; ebenso der Vorschlag der schweizerischen Delegation in Dok. PLT/DC/56, a.a.O. S. 154 f.; zu den Erörterungen im Hauptausschuß I siehe a.a.O. S. 294-321).
13. Die Zuerkennung eines Anmeldetags gehört zu den grundlegenden Voraussetzungen im Patenterteilungsverfahren, weil sowohl die Begründung einer Priorität als auch die Wahrung des Prioritätsjahrs von der Einhaltung der vorgeschriebenen Voraussetzungen abhängen. Angesichts der dargestellten Zweifelsfragen und Auffassungsunterschiede und wegen des drohenden, endgültigen Rechtsverlusts für den betroffenen europäischen Patentanmelder hält die Kammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu der Frage für erforderlich, unter welchen Voraussetzungen ein Anmeldetag zuerkannt werden kann, wenn ausdrücklich formulierte Patentansprüche fehlen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Ist es für die Begründung eines Anmeldetags einer europäischen Patentanmeldung erforderlich, daß die eingereichte Anmeldung neben einer Beschreibung zumindest einen Patentanspruch enthält, der gesondert von der Beschreibung formuliert und als solcher erkennbar ist?
2. Wenn die Frage zu 1 verneint wird:
Genügt es für die Begründung des Anmeldetags im Sinne des Artikels 80 EPÜ, daß zumindest ein Patentanspruch zwar nicht ausdrücklich formuliert, aber aus der beschriebenen Erfindung herleitbar ist?
3. Wenn die Frage zu 2 bejaht wird:
Welche Anforderungen sind an die Herleitbarkeit eines nicht ausdrücklich formulierten Patentanspruchs zu stellen:
a) Ist es erforderlich, daß aus dem Text der Beschreibung unmittelbar und eindeutig zumindest ein Anspruch erkennbar ist, oder
b) ist es ausreichend, wenn die Beschreibung eine Erfindung so offenbart, daß ein zu schützender Gegenstand erkennbar ist, für den ein Anspruch formuliert werden könnte?