T 0804/00 06-05-2003
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BEARBEITUNGSZENTRUM
Verspätet vorgebrachte offenkundige Vorbenutzung (nicht relevant)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat gegen die am 13. Juni 2000 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 0 767 721 zurückzuweisen, am 3. August 2000 Beschwerde eingelegt und am gleichen Tag die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 4. Oktober 2000 eingereicht.
II. In ihrer Entscheidung war die Einspruchsabteilung der Meinung, der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 sei neu und erfinderisch selbst in Anbetracht des aus den Dokumenten
D1: DE-A-42 12 175;
D2: DE-A-38 16 730;
bekannten Standes der Technik.
III. In der Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents und machte erstmals die offenkundige Vorbenutzung einer Vertikal-Drehmaschine vom Typ DV 90 geltend. Sie reichte als Beweisstücke die Anlagen 1 bis 5 ein, von denen Anlage 2 eine Maschinenbeschreibung enthält und Anlage 3 die Zeichnungen Nr. E 714.55-008 und Nr. E 714.55-009 umfaßt. Außerdem nahm die Beschwerdeführerin Bezug auf "ähnliche Lösungen", die auch vorbenutzt worden seien. Darüber hinaus wurde zum Beweis der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung ein Zeuge angeboten.
IV. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vom 27. September 2002 wies die Technische Beschwerdekammer darauf hin, daß zunächst zu prüfen sei, ob das mit der Beschwerdebegründung verspätet vorgelegte Material berücksichtigt werden könne.
V. Mit Eingabe vom 11. März 2003 teilte die Beschwerdeführerin mit, daß sie den Antrag auf Entscheidung nach Lage der Akten stelle und auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verzichte.
Mit der Eingabe vom 7. April 2003 teilte sie ferner mit, daß sie den gestellten Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung zurücknehme.
VI. Am 6. Mai 2003 wurde mündlich verhandelt.
Wie schriftlich angekündigt, erschien die Beschwerdeführerin nicht zu der mündlichen Verhandlung. Das Verfahren wurde gemäß Regel 71 (2) EPÜ ohne sie fortgesetzt.
Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent wie erteilt aufrecht zu erhalten.
VII. Anspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt:
"1. Bearbeitungszentrum zur mechanischen Bearbeitung von Werkstücken (26), mit mindestens einer Arbeitseinheit (22, 22', 22"), die mindestens eine zu einer Rotationsbewegung antreibbare Arbeitsspindel (23) aufweist, die mit einem Bearbeitungswerkzeug (24) bestückbar ist, mit dem mindestens ein in einer Bearbeitungszone (28) angeordnetes Werkstück (26) bearbeitet werden kann, mit einem Werkstückträger (15), der eine Spannvorrichtung (25) zum lösbaren Festspannen des Werkstückes (26) aufweist, wobei die Arbeitseinheit (22, 22', 22") und der Werkstückträger (15) relativ zueinander verfahrbar sind, mit einer Positioniereinrichtung (16) für den Werkstücktrager (15), durch die der Werkstückträger (15) zwischen der Bearbeitungszone (28) und einer außerhalb der Bearbeitungszone (28) befindlichen Werkstück-Wechselstation (35) verfahrbar ist, und mit einem Greifer für den Wechsel von zu bearbeitenden und bereits bearbeiteten Werkstücken (26), wobei der Greifer das Werkstück (26) von einem Werkstück-Bereitstellungsplatz (37) in der Werkstück-Wechselstation (35) von oben oder von der Seite her aufnimmt, hochhebt und in die Bearbeitungszone (28) verbringt und nach der Bearbeitung an einem Werkstück-Ablageplatz (38) in der Werkstück-Wechselstation (35) von oben oder von der Seite her absetzt, wobei die Spannvorrichtung (25) des Werkstückträgers (15) den Greifer bildet und das Werkstück (26) in Bearbeitungseingriff bringt, und wobei das jeweils zu bearbeitende Werkstück (26) von der Aufnahme bis zum erneuten Absetzen in der Werkstück-Wechselstation, und somit auch während der dazwischenliegenden Bearbeitung durch das an der rotierenden Arbeitsspindel (23) der Arbeitseinheit (22, 22', 22") angeordnete Bearbeitungswerkzeug (24), ständig an der Spannvorrichtung (25) verbleibt, dadurch gekennzeichnet, daß der Werkstückträger (15) eine Palette (47) enthält, an der die Spannvorrichtung (25) vorgesehen ist, daß der Werkstückträger (15) gemeinsam mit der Spannvorrichtung (25) auswechselbar an der Positioniereinrichtung (16) angeordnet ist, und daß eine Werkstückträger-Wechselstation (92) vorhanden ist, in der die Positioniereinrichtung (16) den für einen Bearbeitungsvorgang benötigten Werkstückträger (15') von einer Zuführeinrichtung (93) aufnimmt."
VIII. Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung, daß das Bearbeitungszentrum nach Anspruch 1 durch den aus D1 und D2 bekannten Stand der Technik nahegelegt sei. D1 offenbare ein Bearbeitungszentrum gemäß dem Oberbegriff des Anspruchs 1, bei dem mittels der an der Positioniereinrichtung angeordneten Spannvorrichtung einerseits der Werkstückwechsel in der Wechselstation vorgenommen und andererseits das Werkstück während der Bearbeitung festgehalten werde. Um eine rasche Umrüstung des Bearbeitungszentrum auf andere Werkstücke zu ermöglichen, sei im Kennzeichen des Anspruchs 1 des Streitpatents vorgesehen, zusätzlich den Werkstückträger in gleicher Weise auszuwechseln und an dem Werkstückträger eine Palette anzuordnen, an der die Spannvorrichtung vorgesehen sei. Aus D2 sei ein als Palette ausgebildeter Werkstückträger bereits bekannt, an dem eine als Spannfutter ausgebildete Spannvorrichtung für das Werkstück vorgesehen sei. Die bekannte Palette sei gemeinsam mit dem Spannfutter auswechselbar an der Positioniereinrichtung angeordnet. Es könne also nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen, ein Bearbeitungszentrum vorzusehen, bei dem neben dem Werkstückwechsel nach D1 zusätzlich auch der Werkstückträger-Wechsel nach D2 möglich sei.
Darüber hinaus sei die Verwendung eines zusätzlichen kraftbetätigten Spannfutters an einer Palette gemäß D2 bereits offenkundig vorbenutzt worden durch Lieferung einer Vertikal-Drehmaschine vom Typ DV 90 der Firma Hessapp an die Firma Renk sowie durch Lieferung von ähnlichen Lösungen der Firma Hessapp an die Firma ZF Passau.
IX. Der Beschwerdegegner trug im wesentlichen folgendes vor:
Bei dem auf dem Sektor der Werkzeugmaschinentechnik gebräulichen Palettenprinzip stehe im Vordergrund, daß die jeweiligen Werkstücke auf den ihnen zugeordneten Paletten verbleiben und auf einem Transportband von einem Bearbeitungszentrum zum andern transportiert werden. D2 gebe dem Fachmann nicht den geringsten Anlaß, über dieses konventionelle Palettenprinzip hinauszudenken. Wenn der Fachmann die Lehre von D2 in einer Vertikaldrehmaschine gemäß D1 anwende, so erhalte er eine Vertikaldrehmaschine, die die von ihr zu bearbeitenden, bereits auf rotationssymmetrischen Paletten montierten Werkstücke von einem Transportband aufnimmt, bearbeitet und dort wieder zusammen mit der Palette absetzt. Bei dem erfindungsgemäßen Bearbeitungszentrum werde aber zunächst die Positioniereinrichtung mit der Palette versehen und somit optimal an das im anschließenden Schritt von der Positioniereinrichtung bzw. von der Palette aufzunehmende Werkstück angepaßt. Eine Palette könne somit für längere Zeit an der Positioniereinrichtung verbleiben und nacheinander mehrere Werkstücke mit ihrer als Greifer ausgebildeten Spannvorrichtung aufnehmen und nach der Bearbeitung wieder ablegen. Um das Bearbeitungszentrum an die Aufnahme unterschiedlicher zu bearbeitender Werkstücke anzupassen, werde die Palette in einer Werkstückträger-Wechselstation gewechselt.
Die Palette gemäß der angeblichen öffentlichen Vorbenutzung weise keine selbsttätige Greiferfunktion zum Aufnehmen eines Werkstücks auf, sondern sei bereits mit dem jeweiligen Werkstück bestückt, wenn sie von einem Greifer aufgenommen und auf die Arbeitsspindel aufgesetzt werde. In dieser Hinsicht gehe die angebliche öffentliche Vorbenutzung über die Offenbarung aus D2 nicht hinaus. Im Lichte der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts brauche daher die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte angebliche öffentliche Vorbenutzung nicht berücksichtigt zu werden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Berücksichtigung des verspätet vorgebrachten Materials
2.1. Das erstmals mit der Beschwerdebegründung von der Beschwerdeführerin zum Nachweis einer angeblich offenkundigen Vorbenutzung vorgelegte Material (Anlagen 1 bis 5) ist im Sinne von Artikel 114 (2) EPÜ als verspätet vorgebracht zu betrachten (siehe z. B. T 326/87, Abl. 1992, 522). Es liegt gemäß Artikel 114 (2) EPÜ im pflichtgemäßen Ermessen der entscheidenden Instanz, über die Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens zu entscheiden. Die daher von der Kammer aufgrund von Artikel 114 (1) EPÜ von Amts wegen durchgeführte Relevanzprüfung hat ergeben, daß die Anlagen 1 bis 5 einen Stand der Technik dokumentieren, der nicht über den aus der im Einspruchsverfahren genannten Entgegenhaltung D2 bekannten Stand der Technik hinausgeht. Tatsächlich ist den Anlagen 2 und 3 zu entnehmen, daß die Vertikal-Drehmaschine vom Typ DV 90 eine Palette mit einem kraftbetätigten Spannfutter aufweist. Dieses Spannfutter ist aber nicht so ausgelegt, daß es die Funktion eines Greifers ausüben kann.
Aus diesem Grunde ist die Kammer der Auffassung, daß das verspätet vorgelegte Material nicht zu berücksichtigen ist (Artikel 114 (2) EPÜ).
2.2. Abgesehen von dem pauschalen Satz "ähnlichen Lösungen mit Paletten und umlaufendem Transportband, die mit Werkstückträgern ausgerichtet sind und automatisch gewechselt werden" hat die Beschwerdeführerin weder Angaben gemacht noch Material eingereicht, die Ermittlungen in Bezug auf solche "ähnlichen Lösungen" ermöglichen könnten. Folglich werden auch diese nicht berücksichtigt.
3. Neuheit
Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 ist nicht bestritten worden, so daß sich Ausführungen hierzu erübrigen.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1. Dokument D1, welches unbestritten den nächstliegenden Stand der Technik darstellt, offenbart ein Bearbeitungszentrum gemäß dem Oberbegriff des Anspruchs 1. des Streitpatents, nämlich (siehe Fig. 21) ein Bearbeitungszentrum zur mechanischen Bearbeitung von Werkstücken (103), mit mindestens einer Arbeitseinheit (48), die mindestens eine zu einer Rotationsbewegung antreibbare Arbeitsspindel (74) aufweist, die mit einem Bearbeitungswerkzeug (73) bestückbar ist, mit dem mindestens ein in einer Bearbeitungszone (34) angeordnetes Werkstück bearbeitet werden kann, mit einem Werkstückträger (3), der eine Spannvorrichtung (Spannfutter 54, siehe Fig. 5) zum lösbaren Festspannen des Werkstückes aufweist, wobei die Arbeitseinheit (48) und der Werkstückträger (54) relativ zueinander verfahrbar sind (z. B. in X und Z Richtungen gemäß Fig. 4), mit einer Positioniereinrichtung (5) für den Werkstückträger (3), durch die der Werkstückträger (3) zwischen der Bearbeitungszone (34) und einer außerhalb der Bearbeitungszone (39) befindlichen Werkstück-Wechselstation verfahrbar ist, und mit einem Greifer (Spannfutter 54) für den Wechsel von zu bearbeitenden und bereits bearbeiteten Werkstücken, wobei der Greifer das Werkstück (103) von oben (Fig. 5) her aufnimmt, hochhebt (Fig. 6) und in die Bearbeitungszone verbringt (Fig. 7) und nach der Bearbeitung an einem Werkstück-Ablageplatz in der Werkstück-Wechselstation von oben her absetzt (Fig. 16), wobei die Spannvorrichtung (54) des Werkstückträgers (3) den Greifer bildet (Spalte 18, Zeilen 1 bis 4) und das Werkstück in Bearbeitungseingriff bringt, und wobei das jeweils zu bearbeitende Werkstück (103) von der Aufnahme bis zum erneuten Absetzen in der Werkstück-Wechselstation, und somit auch während der dazwischenliegenden Bearbeitung durch das an der rotierenden Arbeitsspindel (74) der Arbeitseinheit (48) angeordnete Bearbeitungswerkzeug (73), ständig an der Spannvorrichtung verbleibt.
4.2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich von diesem bekannten Bearbeitungszentrum durch die Merkmale des kennzeichnenden Teils, daß der Werkstückträger eine Palette enthält, an der die Spannvorrichtung vorgesehen ist, daß der Werkstückträger gemeinsam mit der Spannvorrichtung auswechselbar an der Positioniereinrichtung angeordnet ist, und daß eine Werkstückträger-Wechselstation vorhanden ist, in der die Positioniereinrichtung den für einen Bearbeitungsvorgang benötigten Werkstückträger von einer Zuführeinrichtung aufnimmt.
Zwar offenbart D1, daß für den Transport der Werkstücke Paletten eingesetzt werden können (Spalte 12, Zeilen 5 bis 10). Dieses Dokument offenbart aber nicht, daß die Spindeleinheit 3, die als Werkstückträger dient, eine Palette enthält, an der das Spannfutter, das als Spannvorrichtung dient, vorgesehen ist.
4.3. In Übereinstimmung mit der Einspruchsabteilung (siehe Punkt 3 der angefochtenen Entscheidung) ist die Kammer der Meinung, daß durch die unterscheidenden Merkmale die objektive Aufgabe gelöst wird, eine rasche, automatisierte Umrüstung des Bearbeitungszentrums auf Werkstücke, die eine anders gestaltete Spannvorrichtung erfordern, zu ermöglichen.
4.4. Dokument D2 bezieht sich auf eine Palette zur Verwendung nach dem bekannten Palettenprinzip, bei dem zunächst ein Werkstück auf der Palette und sodann diese Einheit auf eine Bearbeitungsstation gespannt werden (Spalte 1, Zeilen 8 bis 19). Die Lehre des Dokuments D2 besteht darin, die Palette als rotationssymmetrisches, auf eine Drehspindel zu spannendes Bauteil auszubilden (Anspruch 1), so daß sie auch zum Aufspannen in einer Drehmaschine geeignet ist (Spalte 1, Zeilen 18 bis 21). Um das Werkstück zu spannen, ist eine Spannvorrichtung auf der Palette vorgesehen (Spalte 2, Zeilen 9 und 21,22).
Wendet der Fachmann nun die Lehre von D2 für ein Bearbeitungszentrum gemäß D1 an, so erhält er ein Bearbeitungszentrum, das die von ihm zu bearbeitenden, bereits auf einer Palette gemäß D2 montierten Werkstücke von dem Transportband (Bezugszeichen 41 in D1) aufnimmt, bearbeitet und dort wieder zusammen mit der Palette absetzt. Dabei wird die Funktion eines Greifers für das Werkstücks keineswegs von der Spannvorrichtung der Palette gemäß D2 übernommen, sondern von dem Spannfutter (54 in Fig. 5) des Bearbeitungszentrum nach D1. Tatsächlich sind Spanneinrichtungen von üblichen Paletten lediglich zum Spannen von Werkstücken ausgelegt, nicht aber zum Greifen eines Werkstückes, da diese Funktion bei Paletten, die nach dem - oben dargelegten - bekannten Palettenprinzip angewendet werden, weder benötigt noch vom Stand der Technik angeregt wird.
Daher würde, wie die Einspruchsabteilung richtig festgestellt hat, die Anwendung der Lehre gemäß D2 auf das aus D1 bekannte Bearbeitungszentrum nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 des angegriffenen Patents führen.
5. Die Kammer kommt somit zu dem Schluß, daß der entgegengehaltene Stand der Technik den Gegenstand des Anspruchs 1 nicht nahelegt (Artikel 56 EPÜ). Dasselbe gilt für die davon abhängigen Ansprüche 2 bis 17.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.