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T 1028/01 (Immunglobulinlösungen/OCTAPHARMA) 16-08-2004
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Verfahren zur Herstellung von virusinaktivierten Immunglobulinlösungen
Erweiterung des Schutzbereichs - (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Das europäische Patent Nr. 0 525 502 wurde auf der Basis eines zehn Ansprüche enthaltenden Anspruchssatzes erteilt. Anspruch 1 lautete:
"Verfahren zur Herstellung von zur intravenösen Applikation geeigneten virusinaktivierten Immunglobulinlösungen, wobei das Immunglobulin mit nichtionischen Tensiden behandelt wird, die anschließend durch Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien entfernt werden, dadurch gekennzeichnet, daß nach der Behandlung mit nichtionischen Tensiden mit biologisch kompatiblen Pflanzenölen extrahiert wird und diese dann abgetrennt werden."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 betrafen weitere Ausgestaltungen von Merkmalen des unabhängigen Anspruchs 1.
II. Gegen dieses Patent wurden zwei Einsprüche eingelegt. Die Einsprechenden beantragten seinen Widerruf wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ), mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) und mangelnder Offenbarung (Artikel 83 EPÜ). Die Einsprechende 02 nahm ihren Einspruch während des Verfahrens vor der ersten Instanz zurück.
III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent gemäß Artikel 102 (1) EPÜ mit der Begründung, daß der Gegenstand der erteilten Ansprüche und der Ansprüche des während der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrages nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhten. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin).
IV. Die Einsprechende 01 (Beschwerdegegnerin) nahm ihren Einspruch mit Schreiben vom 4. April 2003 zurück.
V. Am 16. August 2004 fand vor der Beschwerdekammer eine mündliche Verhandlung statt, in der die Beschwerdeführerin einen neuen Anspruchssatz sowie eine geänderte Beschreibung einreichte. Anspruch 1 dieses Anspruchssatzes lautet:
"Verfahren zur Herstellung von zur intravenösen Applikation geeigneten virusinaktivierten Immunglobulinlösungen, wobei das Immunglobulin mit nichtionischen Tensiden behandelt wird, die anschließend durch Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien entfernt werden, dadurch gekennzeichnet, daß nach der Behandlung mit nichtionischen Tensiden mit biologisch kompatiblen Pflanzenölen extrahiert wird, diese abgetrennt werden und dann die Festphasenextraktion durchgeführt wird."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 sind mit denen der erteilten Fassung identisch.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der neuen Ansprüche 1 bis 10 und der geänderten Beschreibung. In der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Beschwerdekammer.
VI. Auf die folgenden Dokumente wird in der vorliegenden Entscheidung Bezug genommen:
(1) EP-0 366 946 A1
(2) EP-0 239 859 A2
(3) WO 91/14439
(11) Virex News, 1989, Vol. 3, No. 1
(12) Virex News, 1990, Vol. 4, No. 1
(13) Virex News, 1991, Vol. 4, No. 1
(18) EP-0 073 371 A2
(19) T. Dengler et al., Vox Sang., 1990, Vol. 58, S. 257-263 = Appendix 10 von Dokument (13)
(20) T. Burnouf et al., Vox Sang., 1989, Vol. 57, S. 225-232 = Attachment 4 von Dokument (12)
(21) H. Schwinn et al., Arzneimittel Forschung/Drug Research, 1989, Vol. 39, No. 10, S. 1302-1305 = Attachment 5. von Dokument (12)
(30) Erklärung von Christine Watklevicz vom 2. Juli 2001.
VII. Die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Argumente lassen sich, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, wie folgt zusammenfassen:
Die im Anspruch 1 des neuen Hauptantrages und in der Beschreibung durchgeführten Änderungen stehen in Einklang mit den Erfordernissen der Artikel 84, 123 (2) und (3) sowie Regel 88 EPÜ.
Der Gegenstand der Ansprüche des neuen Hauptantrags sei neu. Die Dokumente (11) bis (13) seien verspätet vorgelegt worden und hätten von der Einspruchsabteilung nicht in das Verfahren zugelassen werden dürfen. Diese Dokumente stellen überhaupt keinen Stand der Technik nach Artikel 54. (2) EPÜ dar, da sie nicht öffentlich zugänglich gewesen seien. Bei den "Virex News" handele es sich um Mitteilungen der früheren Einsprechenden 01 (New York Blood Center) an die Lizenznehmer ihrer "S/D ("Solvent/Detergent")-Vireninaktivierungstechnologie". Die Lizenznehmer seien verpflichtet gewesen, diese Informationen vertraulich zu behandeln. Eine solche Vertraulichkeitsverpflichtung ergebe sich aus § 12 des Lizenzvertrags zwischen der früheren Einsprechenden 01 und der Beschwerdeführerin und könne darüber hinaus durch Zeugenvernehmung bewiesen werden.
Darüber hinaus verwenden die Verfahren, die in Dokument (12) in den Berichten "Kabi Biopharma, Schweden" und "Freie und Hansestadt Hamburg, Federal Republic of Germany" dargestellt sind, zur Beseitigung der für die Vireninaktivierung benutzten Chemikalien - im Unterschied zur Lehre des streitgegenständlichen Patents - keine Umkehrchromatographie, sondern entweder eine Ionenaustauschchromatographie oder eine nicht weiter spezifizierte Chromatographie.
Der Gegenstand der Ansprüche des neuen Hauptantrags sei auch erfinderisch. Da Dokument (11) nicht öffentlich zugänglich gewesen sei, könne seine Lehre nicht mit der Lehre des Dokuments (1) kombiniert werden. Das erfindungsgemäße Verfahren sei auch nicht durch eine Kombination der Dokumente (1) und (2) nahegelegt. Die frühere Beschwerdegegnerin habe lediglich gezeigt, daß bestimmte Verfahrensschritte in diesen Dokumenten offenbart sind, es aber versäumt, eine Aufgabe zu identifizieren, die der Fachmann in naheliegender Weise durch eine Kombination dieser Dokumente lösen würde. Darüber hinaus enthalte Dokument (1) den klaren Hinweis, daß die Lehre des Dokuments (2) für die Entfernung von Detergenzien ungeeignet sei.
Den nächstliegenden Stand der Technik bilde in Wirklichkeit Dokument (18), da es auf den gleichen Zweck gerichtet sei wie die Erfindung, nämlich die Bereitstellung eines Verfahrens, mit dem ein zur intravenösen Applikation geeignetes, langfristig stabiles Produkt erhalten wird. Ausgehend von Dokument (18) sei das erfindungsgemäße Verfahren durch keines der zitierten Dokumente nahegelegt. Dokument (9) zeige im übrigen die überlegenen Eigenschaften des erfindungemäß hergestellten Produktes.
VIII. Die von den früheren Einsprechenden vorgetragenen Argumente lassen sich, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, wie folgt zusammenfassen:
Die Dokumente (11) bis (13) seien Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ. Die Lizenznehmer der S/D-Technologie der früheren Einsprechenden 01 seien als Mitglieder der Öffentlichkeit anzusehen. Aus Dokument (30), einer schriftlichen Erklärung der Herausgeberin der Virex News, Christine Watklevicz, ergebe sich, daß diese Druckschriften den Lizenznehmern ohne Vertraulichkeitsvereinbarung überlassen worden seien. Dokument (11) sei insgesamt an 23, Dokumente (12) an 28 und Dokument (13) an 29 Lizenznehmer übersandt worden. Auch § 12 des Lizenzvertrags zwischen der früheren Einsprechenden 01 und der Beschwerdeführerin erlaube keine andere Schlußfolgerung, da dort nur die Geheimhaltung vertraulicher Informationen geregelt sei und die in den Virex News enthaltenen Informationen Allgemeinwissen darstellen.
Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 3 sei gegenüber Dokument (12) nicht neu. Dieses Dokument beschreibe auf Seite 2 unter "Kabi Biopharma, Sweden" das Immunglobulin- Präparat "Gammonativ" und auf Seite 6 unter "Freie und Hansestadt Hamburg, Federal Republic of Germany" ein IgG- anti-Rh-Präparat. Bei beiden Präparaten handele es sich um S/D behandelte, intravenös applizierbare Immunglobulinlösungen, bei denen die S/D-Reagenzien wie im angefochtenen Patent durch Ölextraktion und Chromatographie entfernt worden seien.
Ferner beruhe der Gegenstand von Anspruch 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination der Dokumente (11), (12) oder (13) mit Dokument (1). Die Offenbarung nach Dokument (11), (12) oder (13) unterscheide sich vom beanspruchten Gegenstand allenfalls durch die Verwendung eines unterschiedlichen Säulenmaterials. In Dokument (1) werde aber das anspruchsgemäß verwendete Säulenmaterial zu einem ähnlichen Zweck eingesetzt.
Auch gegenüber einer Kombination der Dokumente (1) und (2) sei der beanspruchte Gegenstand nicht erfinderisch. Das objektive technische Problem sei die Bereitstellung eines Verfahrens zur Herstellung einer virusfreien, intravenös applizierbaren Immunglobulinlösung. Dokument (2) offenbare ein Verfahren, in dem die für die Vireninaktivierung eingesetzten Chemikalien mit Pflanzenölen extrahiert werden. Dokument (2) weise aber auch darauf hin, daß nicht alle Tenside quantitativ entfernt würden und verbleibende Spuren hiervon neurotoxisch wirken können. Demgegenüber entferne die in Dokument (1) beschriebene Festphasenextraktion diese Chemikalien vollständig, ohne die biologische Aktivität und Stabilität der Immunglobulinlösung zu beeinflussen. Eine Verknüpfung der Verfahrensschritte von Dokument (1) und (2) habe für den Fachmann nahegelegen. Hindernisse wären bei der Durchführung eines solchen kombinierten Verfahrens nicht aufgetreten und auch nicht zu erwarten gewesen.
1. Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse der Artikel 106 bis 108 und der Regel 64 EPÜ und ist daher zulässig.
Artikel 123 (2) und (3) EPÜ
2. Anspruch 1 des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatzes unterscheidet sich von dem erteilten Anspruch 1 dadurch, daß er eindeutig festlegt, daß der Verfahrensschritt der Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien zeitlich nach dem Verfahrensschritt der Extraktion mit biologisch kompatiblen Pflanzenölen und ihrer Abtrennung erfolgt. Diese Reihenfolge der Verfahrensschritte ist der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung (vgl. Beschreibung, Seite 4, letzter Absatz bis Seite 5, Absatz 2) direkt und unmittelbar zu entnehmen, so daß die Änderung in Einklang mit Artikel 123 (2) EPÜ steht.
3. Nach Artikel 123 (3) EPÜ dürfen die Patentansprüche des europäischen Patents nicht in der Weise geändert werden, daß der Schutzbereich erweitert wird. Die vorgenannte Änderung ist daher nur dann mit dem EPÜ vereinbar, wenn bereits der erteilte Anspruch 1 die nunmehr eindeutig festgelegte Reihenfolge der Verfahrensschritte umfaßt hat. Dies ist nach Auffassung der Kammer der Fall: In Anspruch 1 in der erteilten Fassung sind beide Verfahrensschritte nicht explizit in einen zeitlichen Bezug zueinander gesetzt worden. Vielmehr stehen sie - jeweils für sich - nur in einem zeitlichen Bezug zu dem Verfahrensschritt der Behandlung mit nichtionischen Tensiden. Die Festphasenextraktion soll "anschließend" an diese Behandlung erfolgen, die Extraktion mit Pflanzenölen soll "nach der Behandlung" erfolgen. Auch wenn das Wort "anschließend" im allgemeinen einen unmittelbareren Zeitbezug als das Wort "nach" impliziert, so ist dieses sprachliche Indiz zu schwach, um die Reihenfolge der Verfahrensschritte "Festphasenextraktion" und "Planzenölextraktion" zueinander im erteilten Anspruch als eindeutig festgelegt ansehen zu können. Bei der Bestimmung des Schutzbereichs ist gemäß Artikel 69 EPÜ die Beschreibung zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen. Sowohl aus der allgemeinen Darstellung der Erfindung in der Beschreibung (Spalte 3, Zeilen 11 bis 24 der Patentschrift) als auch aus dem einzigen Ausführungsbeispiel (Spalte 3, Zeile 57 bis Spalte 4, Zeile 7) ergibt sich, daß die Pflanzenölextraktion der Festphasenextraktion vorausgeht. Der Fachmann würde den erteilten Anspruch daher so auslegen, daß er jedenfalls auch diese Reihenfolge der Verfahrensschritte umfaßt. Die nunmehrige eindeutige Festlegung dieser Reihenfolge stellt daher keine Schutzbereichserweiterung dar und steht in Einklang mit Artikel 123 (3) EPÜ.
Artikel 54 EPÜ
4. Im Beschwerdeverfahren hat die frühere Einsprechende 01 ihren Neuheitseinwand auf die Offenbarungen gestützt, die in Dokument (12) unter den Titeln "Kabi Biopharma, Sweden" und "Freie und Hansestadt Hamburg, Federal Republic of Germany" enthalten sind. Die Beschwerdeführerin hat jedoch bestritten, daß das Dokument (12) zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich war.
5. Dokument (12) ist - ebenso wie die weiteren im Verfahren befindlichen Dokumente (11) und (13) - eine Ausgabe der Virex News. Dabei handelt es um ein Mitteilungsblatt ("Newsletter"), das die frühere Einsprechende 01 offenbar in unregelmäßigen Abständen an ihre Lizenznehmer der S/D-Technologie versandt hat. Dem auf der Titelseite befindlichen Vermerk "Published by The New York Blood Center for S/D Process Licensees" ist zu entnehmen, daß die Verteilung des Mitteilungsblattes auf eine bestimmte eng umgrenzte Adressatengruppe beschränkt war. Die Informationen des Mitteilungsblattes beziehen sich auf die lizenzierte Technologie und beschreiben in Kurzfassung verschiedene eigene Entwicklungen der Lizenznehmer in diesem Zusammenhang.
6. Die genannten Umstände sprechen dagegen, die Adressaten der Virex News als Mitglieder der Öffentlichkeit zu betrachten. Es kann für den Regelfall davon ausgegangen werden, daß Lizenznehmer, denen von ihrer Lizenzgeberin über Neuentwicklungen anderer Lizenznehmer berichtet wird, diesbezüglich zur Vertraulichkeit verpflichtet sind, selbst wenn es keine explizite Geheimhaltungsabrede geben sollte. Die Beschwerdeführerin hat zudem dargetan, daß jedenfalls in ihrem Lizenzvertrag mit der früheren Einsprechenden 01 eine grundsätzliche Geheimhaltungsklausel eingefügt war. Ferner ist zu berücksichtigen, daß Dokument (13) hinsichtlich der speziellen Mitteilung "Over 1,7 million doses of S/D treated product safely infused" den folgenden Hinweis enthält: "Please feel free to share this news with your colleagues." Dies legt den Gegenschluß nahe, daß hinsichtlich aller anderen Mitteilungen grundsätzlich Vertraulichkeit vereinbart oder erwartet wurde. Im übrigen haben Lizenznehmer bei Informationen, die die lizenzierte Technologie betreffen und nur einem ausgewählten Kreis von Personen mitgeteilt werden, typischerweise ein eigenes Geheimhaltungsinteresse.
7. Angesichts der genannten Umstände kann prima facie nicht davon ausgegangen werden, daß die Adressaten der Virex News Mitglieder der Öffentlichkeit waren. Auch das von der früheren Einsprechenden 01 in diesem Zusammenhang vorgelegte Beweismittel (= Dokument (30)), die schriftliche Erklärung der Herausgeberin der Virex News C. Watklevicz, ist nicht ausreichend. Zwar enthält sie unter Ziffer 3 die pauschale Aussage, daß die Virex News den S/D-Lizenznehmern ohne Verpflichtung zur Geheimhaltung zur Verfügung gestellt worden ist. Angesichts des Fehlens jeglicher Erläuterungen oder Präzisierungen ist der Wert dieser Aussage jedoch zweifelhaft. So kann beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, daß sie sich nur auf das Nichtvorhandensein expliziter zusätzlicher Geheimhaltungsabreden bezieht. Vertraulichkeitspflichten infolge bestehender Lizenzverträge oder impliziter Natur wären dann ohne weiteres mit der Erklärung der Virex News- Herausgeberin Watklevicz vereinbar. Auch die Möglichkeit des Bestehens eigener Geheimhaltungsinteressen der Lizenznehmer wird durch die Erklärung nicht ausgeräumt.
8. Die Behauptung der früheren Einsprechenden 01, das Dokument (12) sei der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, ist somit durch die schriftlichen Beweismittel nicht ausreichend bewiesen worden. Die Kammer hat daher keinen Anlaß gesehen, den von der Beschwerdeführerin gegenbeweislich angebotenen Zeugen zu vernehmen. Denn die aus Artikel 114 (1) EPÜ folgende Verpflichtung zur Amtsermittlung ist nicht unbeschränkt. Scheidet etwa ein Beteiligter, der eine offenkundige Vorbenutzung oder eine frühere mündliche Offenbarung geltend gemacht hat, aus dem Einspruchsverfahren aus, so sollte das EPA in der Regel aus Gründen der Verfahrensökonomie von weiteren Ermittlungen absehen (T 129/88, ABl. EPA 1993, 598, Nr. 3.2). Das gleiche gilt, wenn - wie hier - von einem früheren Einsprechenden geltend gemacht wurde, daß eine schriftliche Offenbarung öffentlich zugänglich gewesen ist.
9. Im Einspruchsverfahren vor der ersten Instanz hat die frühere Einsprechende 01 erfolglos einen weiteren Neuheitseinwand erhoben, den sie auf die Offenbarung des Dokuments (3) stützte. Dokument (3) gehört zum Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ. Da sich dieses Dokument mit Blutplasma befaßt, nicht aber mit einer Immunglobulinlösung gemäß dem Gegenstand des Anspruchs 1, sieht die Kammer keinen Grund, die erstinstanzliche Entscheidung diesbezüglich in Frage zu stellen.
Artikel 56 EPÜ
10. Wie oben dargelegt, gehört Dokument (12) nicht zum Stand der Technik. Die gleichen Erwägungen treffen auch auf die Dokumente (11) und (13) zu, die daher ebenfalls nicht zum Stand der Technik zählen.
11. Den nächstliegenden Stand der Technik bildet in der Regel das Dokument, welches einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit dem selben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 4. Aufl., Seite 118). Wie sich aus der Patentschrift (Spalte 2, Zeilen 20 bis 25) ergibt, ist es das Ziel der beanspruchten Erfindung, ein Verfahren zu entwickeln, das zu einem Immunglobulin-Produkt führt, welches so stabil ist, daß es selbst ohne Lyophilisierung direkt als Injektionslösung hergestellt und gelagert werden kann, und bei dessen Applikation keine Virusübertragungen auf den Patienten auftreten.
12. Dokument (1) betrifft die Bereitstellung von biologischen Materialien, insbesondere von Blutplasmaprodukten, die zwecks Vireninaktivierung mit Solvenzien und Detergenzien ("S/D- Verfahren") behandelt worden sind (Seite 2, Zeilen 41 bis 46). Die in Dokument (1) beschriebene Erfindung besteht darin, diese Solvenzien und Detergenzien, die vom menschlichen Körper nicht gut toleriert werden (Seite 2, Zeilen 47 bis 49), mit Hilfe einer Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien ("hydrophobic interaction chromatography") wieder zu entfernen (Seite 5, Zeilen 1 bis 6). Zu den Blutplasmaprodukten, auf die das Extraktionsverfahren angewendet werden kann, zählt Dokument (1) ausdrücklich auch Immunglobuline (Seite 5, Zeilen 20, 26 bis 29, Seite 6, Zeilen 6, 28 bis 29, Seite 7, Zeilen 53 bis 54). Die so behandelten Blutplasmaprodukte können direkt den Patienten im Wege einer Transfusion verabreicht werden (Seite 7, Zeilen 17 bis 21) und sind infolge der Entfernung der Solvenzien und Detergenzien stabil (Seite 4, Zeilen 55 bis 59). Die in Dokument (1) offenbarte Lehre verfolgt somit die gleiche Zielsetzung wie die beanspruchte Erfindung und hat mit ihr wichtige technische Merkmale gemeinsam.
13. Weder Dokument (2) noch Dokument (18) kommen der Erfindung so nahe. Dokument (2) beschreibt ein Verfahren zur Extraktion von zur Vireninaktivierung eingesetzten Solvenzien und Detergenzien aus Blutplasmaprodukten. Die beschriebene Ölextraktion entfernt diese Stoffe allerdings nicht vollständig. Dokument (1) (Seite 3, Zeilen 32 bis 34) nimmt auf Dokument (2) ausdrücklich Bezug und stellt fest, daß das dort beschriebene Extraktionsverfahren nicht in der Lage ist, die meisten Detergenzien zu entfernen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Durchschnittsfachmann einen in Dokument (1) explizit als weniger geeigneten Stand der Technik als Ausgangspunkt für die beanspruchte Erfindungen wählen sollte. Dokument (18) wurde von der Beschwerdeführerin als nächster Stand der Technik angesehen. Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Dokument (18) befaßt sich zwar mit der Entwicklung intravenös applizierbarer Immunglobuline, jedoch nicht mit den Problemen, die mit einer Vireninaktivierung verbunden sind, insbesondere auch nicht mit der Extraktion von Mitteln, die zur Vireninaktivierung eingesetzt werden. Es ist daher von Dokument (1) als nächstem Stand der Technik auszugehen.
14. Das beanspruchte Verfahren unterscheidet sich von dem in Dokument (1) beschriebenen dadurch, daß nach der Behandlung mit Solvenzien und Detergenzien, aber vor der Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien ein zusätzlicher Verfahrensschritt erfolgt, nämlich die Extraktion mit biologisch kompatiblen Pflanzenölen und deren Abtrennung. Für die Beurteilung der technischen Wirkungen, die durch die Einfügung dieses Verfahrensschrittes erzielt werden, ist folgendes zu berücksichtigen:
15. Tabellen 1 und 3 von Dokument (1) zeigen, daß weder Solvenzien noch Detergenzien anhand des dort beschriebenen Verfahrens vollständig entfernt werden. Insbesondere beträgt die Restkonzentration an Triton im Falle eines Immunserumglobulin-Präparats 12,2 ppm (Tabelle 3). Dagegen ergibt sich aus der letzten Zeile der von der Beschwerdeführerin eingereichten Vergleichstabelle (Seite 7 der Beschwerdebegründung), daß bei dem im vorliegenden Patent beschriebenen Verfahren die verbleibende Restkonzentration an TNBP bzw. Triton X-100 weniger als 0,005% bzw. 0,01% der Startwerte beträgt. Dies bedeutet, daß - ausgehend von der in Dokument (1) verwendeten Anfangskonzentration an Triton X-100 von 1% (= 10000 ppm) - das patentgemäße Verfahren zu einer Restkonzentration von weniger als 1 ppm führt, d. h. zu einer mehr als zehnmal geringeren Restkonzentration gegenüber dem in Dokument (1) beschriebenen Verfahren. Die Richtigkeit der auf Vergleichsversuchen der Beschwerdeführerin basierenden Vergleichstabelle ist von der früheren Einsprechenden 01 weder bestritten noch in Zweifel gezogen worden.
16. Somit besteht die objektive Aufgabe, die durch die beanspruchte Erfindung gelöst wurde, in der Zurverfügungstellung eines gegenüber der Lehre von Dokument (1) verbesserten Verfahrens zur Herstellung einer langfristig stabilen virusinaktivierten Immunglobulinlösung, die zur intravenösen Applikation geeignet ist.
17. Die früheren Einsprechenden haben die Auffassung vertreten, daß es für den Durchschnittsfachmann nahegelegen hätte, die Dokumente (1) und (2) zu kombinieren und ein Verfahren zu entwickeln, das sowohl eine Festphasenextraktion an hydrophoben Materialien als auch eine Ölextraktion enthält. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, daß Dokument (1) eine Verbesserung der im Stand der Technik befindlichen Extraktionsverfahren zum Ziele hat und u. a. auch die Lehre des Dokuments (2), das im übrigen von der gleichen Anmelderin (New York Blood Center, Inc.) stammt, als eines dieser Verfahren explizit erwähnt. Dies geschieht in eindeutig negativer Weise. Es wird nämlich hervorgehoben, daß das Verfahren die meisten Detergenzien nicht beseitigt. Allein diese Information dürfte den Durchschnittsfachmann bereits davon abhalten, die Lehren aus Dokument (1) und (2) zu kombinieren. Hinzu kommt, daß die in Dokument (2) enthaltenen Analysenergebnisse (s. etwa Tabelle 1 hinsichtlich der Restkonzentration von Triton) weniger zufriedenstellend erscheinen als die Analysenergebnisse in den Tabellen 1 und 3 des Dokuments (1). Es ist daher nach Überzeugung der Kammer kein Grund ersichtlich, der den Fachmann zu einer Kombination der Lehren der Dokumente (1) und (2) veranlaßt hätte.
18. Dieses Ergebnis wird des weiteren dadurch untermauert, daß dem Fachmann offensichtlich unterschiedliche Strategien zur Verfügung standen, um ausgehend von der Lehre von Dokument (1) eine verbesserte Extraktion der zur Vireninaktivierung verwendeten Solvenzien und Detergenzien zu erreichen. Dies ergibt sich insbesondere aus den Dokumenten (19), (20) und (21), die sich in den Anhängen der - als solche nicht öffentlich zugänglichen - Dokumente (12) und (13) befinden, aber bereits zuvor in öffentlich zugänglichen Zeitschriften erschienen waren und daher zum Stand der Technik zählen. In diesen drei Dokumenten werden ebenfalls Verfahren beschrieben, die die Entfernung der für die Vireninaktivierung verwendeten Solvenzien und Detergenzien zum Ziel haben. Nach der Offenbarung von Dokument (19) wird eine Chromatographie auf Sephacryl S 300HR oder S 400HR verwendet, die zur Entfernung der Solvenzien und Detergenzien und von 98% der kontaminierenden Proteine führt (vgl. Seite 257, Abstract, und Seite 260, rechte Sp., erster Absatz). In Dokument (20) wird ein Verfahren beschrieben, das Ionenaustauschchromatographie und Affinitätschromatographie (Seite 226, linke und rechte Spalte überbrückender Absatz) miteinander kombiniert und zu einer Restkonzentration von Detergenzien führt, die unter der Nachweisgrenze liegt (Seite 227, linke Spalte). Auch nach der Lehre von Dokument (21) werden Affinitätsabsorption und Ionenaustauschchromatographie zusammen verwendet (Tabelle 3) und führen zu der Entfernung der Solvenzien und Detergenzien (Seite 8). Dokumente (19) bis (21) zeigen somit, daß sich dem Durchschnittsfachmann alternative Möglichkeiten boten, um das in Dokument (1) offenbarte Extraktionsverfahren abzuwandeln und zu verbessern.
19. Die Kammer ist daher davon überzeugt, daß sich die in Anspruch 1 definierte technische Lehre nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, sondern auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Sie entspricht somit den Erfordernissen des Artikel 56 EPÜ. Das gleiche gilt für die Gegenstände der von Anspruch 1 abhängigen Ansprüche 2 bis 10.
Anpassung der Beschreibung
20. In Einklang mit der Änderung des Anspruchs 1 hat die Beschwerdeführerin eine angepaßte Beschreibung eingereicht, um deutlich zu machen, daß sich die Erfindung nur auf ein Extraktionsverfahren bezieht, in dem die Festphasenextraktion nach der Extraktion mit Pflanzenölen erfolgt. Ferner wurden zwei offensichtliche Unrichtigkeiten in der Beschreibung (Spalte 2, Zeilen 50 und 51) berichtigt. Die genannten Änderungen stehen in Einklang mit Artikel 123 (2) EPÜ.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
Ansprüche: 1 bis 10 gemäß Hauptantrag, eingereicht in der mündlichen Verhandlung.
Beschreibung: Seiten 2 und 3 (= Spalten 1 bis 4), eingereicht in der mündlichen Verhandlung.