T 1179/02 (Chlormethylphenylessigsäureakylester/BASF) 04-02-2005
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Verfahren und Zwischenprodukte zur Herstellung von Alpha-Methoxyiminocarbonsäuremethylamiden
Ausführbarkeit (bejaht)
Neuheit (bejaht)
Zurückverweisung an die Erstinstanz
I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das europäische Patent Nr. 0 765 304 widerrufen wurde, Beschwerde eingelegt.
Die erteilten Ansprüche 1 bis 10 betrafen Verfahren zur Herstellung von Alpha- Methoxyiminocarbonsäuremethylamiden;
Anspruch 11 betraf eine Gruppe von Zwischenprodukten, welche mittels einer allgemeinen Formel definiert war; und
Anspruch 12 war auf die Verwendung der in Anspruch 11 definierten Zwischenprodukte zur Herstellung der Alpha-Methoxyiminocarbonsäuremethylamide gerichtet.
II. Mit dem Einspruch war das Patent lediglich bezüglich der Patentansprüche 11 und 12 wegen fehlender Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ), sowie wegen mangelnder Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ), angegriffen worden. Zur Stützung des Einspruchs wurde unter anderem die folgende Druckschrift angezogen:
(2) EP-A-0 374 811.
III. Die Einspruchsabteilung stellte fest, daß die Gruppe der Zwischenprodukte nach Anspruch 11 des Hauptantrags und die Liste der Einzelverbindungen nach Anspruch 11 des Hilfsantrags im Hinblick auf die genannte Druckschrift nicht neu seien.
IV. Am 4. Februar 2005 hat eine mündliche Verhandlung vor der Kammer stattgefunden.
In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin einen Anspruch 11 eingereicht, welcher dem des in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrags entsprach und wie folgt lautete:
"11. Verbindungen der Formeln IVA und VIA:
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäureethylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure-n-propylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure-iso-propylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure-n-butylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure-iso-butylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäurebut-2-ylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure-n-pentylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure(3-methylbutyl)ester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure(2,2- dimethylpropyl)ester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure(1,1- dimethylpropyl)ester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäurepent-2-ylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäurepent-3-ylester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure(2-methylbut-1-yl)- ester,
(2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäure(3-methylbut-2-yl)- ester,
2-Methoxyimino-2-(2'- chlormethylphenyl)essigsäureethylester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure-n- propyl-ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure-iso- propyl-ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure-n- butyl-ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure-iso- butyl-ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäurebut-2- ylester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure-n- pentyl-ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure(3- methylbutyl)ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure(2,2- dimethylpropyl)ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure(1,1- dimethylpropyl)ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäurepent-2- ylster,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäurepent-3- ylster,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure(2- methylbut-1-yl)ester,
2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)essigsäure(3- methylbut-2-yl)ester."
V. Die Beschwerdeführerin hat im Wesentlichen vorgetragen, die individualisierten Einzelverbindungen gemäß dem vorliegenden Anspruch 11 seien gegenüber einer allgemeinen, sie umfassenden Stoffgruppe als neu anzusehen. Keine der beanspruchten Verbindungen sei unmittelbar und eindeutig der Druckschrift (2) zu entnehmen.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) hat geltend gemacht, die beanspruchten Einzelverbindungen nach Anspruch 11 seien quasi als eine Stofffamilie zu verstehen und diese Stofffamilie überschneide sich mit einer in der Druckschrift (2) offenbarten generischen Gruppe. Außerdem hat sie vorgebracht, daß die beanspruchte Verbindung 2-Methoxyimino-2-(2'- chlormethyl)phenylglyoxylsäureethylester in der genannten Druckschrift offenbart sei, und zwar aufgrund des Beispiels 1 in Kombination mit den Vorschriften 1 bis 4 und der jeweils in den Tabellen 1 bis 3 genannten Verbindungen 135. Somit erfüllten die Verbindungen gemäß Anspruch 11 nicht das Erfordernis der Neuheit.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung des in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Antrags, d. h. der Ansprüche 1 bis 10 wie erteilt und des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchs 11.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin, hilfsweise die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung.
VIII. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren
Die Befugnis der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer, über das Streitpatent im Rahmen eines Einspruchsverfahrens bzw. eines Einspruchsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden, hängt grundsätzlich von dem Umfange ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde (G 9/91, ABl. EPA 1993, 406). Nachdem im vorliegenden Fall der Einspruch ausdrücklich nur gegen die erteilten Ansprüche 11 und 12 gerichtet war und die erteilten Ansprüche 1 bis 10 mit dem Einspruch nicht angegriffen wurden, hat die Kammer lediglich die Befugnis zu prüfen ob der Gegenstand des Anspruchs 11 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
3. Ausführbarkeit
Die Beschwerdegegnerin hat während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer anerkannt, daß die von Anspruch 11 umfaßten Verbindungen herstellbar seien. Trotzdem war sie der Meinung, das Erfordernis der Ausführbarkeit sei nicht erfüllt, da die beanspruchten Ethylester nicht leichter von Verunreinigungen abzutrennen seien als die Methylester.
Bei der Beurteilung der Ausführbarkeit im Sinne der Artikel 100 b) und 83 EPÜ ist jedoch die zu beantwortende Frage, ob die Patentschrift und die ursprüngliche Anmeldung jeweils als Ganzes die Erfindung so offenbaren, daß ein Fachmann sie ausführen kann. Im vorliegenden Fall sind die beanspruchten Verbindungen hinsichtlich der gegebenen Informationen, wie von der Beschwerdegegnerin anerkannt, herstellbar und hat die Kammer außerdem keinerlei Grund zu bezweifeln, daß der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand in der Lage ist festzustellen, inwieweit man die beanspruchten Alkylester von Verunreinigungen befreien kann. In diesem Zusammenhang weist die Kammer darauf hin, daß die Frage, ob die beanspruchten Alkylester leichter von Verunreinigungen befreit werden können als die entsprechenden Methylester sich primär bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit stellt, und zwar insbesondere bei der Beurteilung, inwieweit das nach dem vorliegenden Patent angestrebte Ergebnis erreicht wird.
4. Änderungen (Artikel 123 (2) und (3) EPÜ)
Die Kammer hat sich davon überzeugt, daß Anspruch 11 nicht gegen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ verstößt. Da die Beschwerdegegnerin dies niemals in Zweifel gezogen hat, erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu.
5. Neuheit
5.1. Die Beschwerdegegnerin hat geltend gemacht, daß es einen großen Überschneidungsbereich zwischen den einzelnen in Anspruch 11 beanspruchten Verbindungen und den in der Druckschrift (2) offenbarten Verbindungsgruppen der Formel III und V gebe, und daß daher der Gegenstand des Anspruchs nicht neu sei.
5.2. Die Druckschrift (2) offenbart auf der Seite 3 Halogeniden der Formel (III) und (V)
FORMEL (III), (V)
in denen Hal Chlor, Brom oder Jod ist und R1 und R2 Wasserstoff oder C1-C5-Alkyl bedeuten.
5.3. Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern enthält eine Druckschrift, welche polysubstituierte chemische Verbindungen umfaßt, keine differenzierte Offenbarung einer Einzelverbindung, wenn diese Einzelverbindung nur aus einer allgemeinen Offenbarung durch Auswahl jeweils einer einzelnen Substituentenbedeutung aus zwei oder mehr Listen hergeleitet werden kann (siehe z. B. T 7/86, ABl. EPA 1988, 381, Punkt 5.1 der Entscheidungsgründe).
5.4. Um im vorliegenden Fall von der allgemeinen Offenbarung der Halogeniden der Formel (V) zu einem konkret beanspruchten (2- Chlormethyl)phenylglyoxylsäurealkylester des Anspruchs 11 zu gelangen, ist, neben der Auswahl von Chlor als Halogen, eine weitere Auswahl des spezifischen Alkylradikals aus den beiden offenbarten, jeweils unabhängigen Listen mit alternativen Bedeutungen für Hal und R1 notwendig. Um von der allgemeinen Offenbarung der Halogeniden der Formel (III) zu den konkret beanspruchten 2-Methoxyimino-2-(2'- chlormethylphenyl)essigsäureester zu gelangen, ist zusätzlich zu der oben genanten Auswahl aus zwei unabhängigen Listen sogar noch eine dritte Auswahl von Methyl als dem R2 Substituenten notwendig.
5.5. Die beanspruchten Verbindungen sind daher nicht eindeutig und unmittelbar der Verbindungsgruppen der Formel III und IV zu entnehmen.
5.6. Die Beschwerdegegnerin hat im Hinblick auf die Druckschrift (2) außerdem vorgebracht:
i) daß aus den Vorschriften 1 bis 4 die Herstellung von
- (2-Brommethyl)phenylglyoxylsäuremethylester;
- (2-Chlormethyl)phenylglyoxylsäuremethylester;
- 2-Methoxyimino-2-(2'- brommethylphenyl)essigsäuremethylester; bzw.
- 2-Methoxyimino-2-(2'- chlormethylphenyl)essigsäuremethylester
bekannt sei;
ii) daß im Beispiel 1 zitiert sei, daß "unter entsprechender Abwandlung der vorstehenden Angaben die in der Tabelle 1 aufgeführten Verbindungen synthetisiert werden können";
iii) daß dieses Zitat sich nicht nur auf das Beispiel 1 sondern auch auf die Vorschriften 1 bis 4 beziehe;
iv) daß der Fachmann daher nur zwei Möglichkeiten habe, die in den Tabellen 1 bis 3 beschriebenen Ethylester Nr. 135 herzustellen, nämlich die Synthese über 2-Methoxyimino-2-(2'- chlormethyl)phenylessigsäureethylester oder über 2-Methoxyimino-2-(2'- brommethyl)phenylessigsäureethylester; und
v) daß somit der im Anspruch 11 beanspruchte 2- Methoxyimino-2-(2'- chlormethyl)phenylglyoxylsäureethylester offenbart sei.
5.7. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, daß das betreffende Zitat in Beispiel 1 sich auf die Vorschriften 1 bis 4 erstrecken würde, findet jedoch keinerlei Stütze im Beispiel. Tatsächlich beschreibt das Beispiel die Herstellung von 2-Methoxyimino-2-(2'- phenylthiomethylphenyl)-essigsäuremethylester unter Verwendung des 2-Methoxyimino-2-(2'-brommethylphenyl)- essigsäuremethylesters als Zwischenprodukt und gibt es zusätzlich den Hinweis, daß unter entsprechender Abwandlung der vorstehenden Angaben die in der Tabelle 1 aufgeführten Verbindungen synthetisiert werden könnten, wobei offensichtlich anstatt der genannten Tabelle 1 die Tabellen 1 bis 3 gemeint seien. Der Fachmann würde daraus entnehmen, daß man zur Herstellung der in den Tabellen aufgeführten Endprodukte das im Beispiel angegebene Zwischenprodukt lediglich so abwandeln solle, daß man die herzustellende Struktur der erwünschten Endprodukte erhalte. Er würde dabei keinerlei Anlaß haben, das Brom durch ein anderes Halogen zu ersetzen.
Die Kammer schließt daraus, daß aus dem Beispiel und dem betreffenden Hinweis nicht zwangsläufig der Einsatz eines 2-(2'-Chlormethylphenyl)-essigsäurealkylesters als Zwischenprodukt hervorgeht und daß daher das Beispiel in Kombination mit den in den Tabellen beschriebenen Ethylester-Endprodukten 135 die Neuheit des beanspruchten 2-Methoxyimino-2-(2'-chlormethylphenyl)- essigsäureethylesters nicht vorwegnimmt.
5.8. Da die beanspruchten Einzelverbindungen des Anspruchs 11 der Druckschrift (2) deshalb nicht eindeutig und unmittelbar zu entnehmen sind, steht die Druckschrift (2) dem Anspruch 11 nicht neuheitsschädlich entgegen.
6. Zurückverweisung (Artikel 111 (1) EPÜ)
6.1. Im Allgemeinen entspricht es nicht der Funktion der Beschwerdekammern, Fragen zu prüfen und zu entscheiden, die sich erstmals im Beschwerdeverfahren stellen. Die Kammer hält es daher nicht für angezeigt, die Frage der erfinderischen Tätigkeit bezüglich der im Anspruch 11 beanspruchten Zwischenprodukte erstmalig im Beschwerdeverfahren zu entscheiden, sondern verweist in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß Artikel 111 (1) EPÜ das Verfahren zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurück. Dadurch wird den Parteien nicht die Möglichkeit eröffnet, vor der Einspruchsabteilung auf bereits von der Kammer entschiedene Fragen zurückzukommen, da die Einspruchsabteilung bei unverändertem Tatbestand gemäß Artikel 111 (2) EPÜ an die rechtliche Beurteilung durch die Kammer gebunden ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Verfahren wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen, zur weiteren Prüfung des in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer gestellten Antrags auf Aufrechterhaltung des Patents mit den Ansprüchen 1 bis 10 wie erteilt und dem in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Anspruch 11.