T 0112/05 14-06-2005
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Kasten
Neuheit (ja)
Wesentliche Änderungen des beanspruchten Gegenstandes nach dem ersten Bescheid der Prüfungsabteilung
Notwendigkeit eines weiteren Bescheids vor Erlaß der Zurückweisungsentscheidung
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung
I. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) hat am 10. Dezember 2004 gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 2. November 2004 die europäische Patentanmeldung Nr. 01 111 481.6 zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt, gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet und die Beschwerde schriftlich begründet.
II. Die Prüfungsabteilung war zum Schluß gekommen, dass der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 im Vergleich zur D1: DE-U-9 201 801 nicht neu sei.
III. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Basis des mit Schreiben vom 10. Mai 2005 eingereichten Anspruchs 1, sowie der mit Schreiben vom 5. Mai 2004 eingereichten abhängigen Ansprüche 2 bis 15, zu erteilen. Hilfsweise wurde eine mündliche Verhandlung beantragt. Ferner wurde beantragt, die Beschwerdegebühr rückzuerstatten.
IV. Der geltende Anspruch 1 lautet wie folgt:
"1. Kasten, insbesondere an einer Ausziehführung gelagerter Schubkasten, mit einem Boden (1), zwei an gegenüberliegenden Seiten des Bodens (1) angeordneten Wandelementen (2) und einer Frontblende (31), wobei die Wandelemente (2) eine sich von der Frontblende (31) nach hinten erstreckende, als Profilstücke ausgebildete Reling (10) umfassen, dadurch gekennzeichnet, dass in der Reling (10) zur Verbindung mit weiteren Bauteilen eine einen Innenraum (110) ausbildende Nut (25) mit einem im Querschnitt verjüngten Halsabschnitt (102) und einen Boden (101, 113) angeordnet ist, so dass das Relingprofil als geschlossenes Hohlprofil ausgebildet ist."
V. Als Ergebnis einer telefonischen Rücksprache vom 8. März 2005 hat die Beschwerdeführerin auf die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, falls die Kammer beabsichtige, die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Änderungen
2.1 Der vorliegende Anspruch 1 ergibt sich aus den Merkmalen der ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 2 sowie den folgenden zusätzlichen Merkmalen:
- die Nut bildet einen Innenraum aus,
- die Nut hat einen Boden
- das Relingprofil ist als geschlossenes Hohlprofil ausgebildet.
2.2 Diese zusätzlichen Merkmale sind insbesondere in den Figuren 2, 3, 8, 9, 13, 14A und in der ursprünglich eingereichten Beschreibung, Seite 9, Zeilen 10 bis 11 offenbart.
2.3 Diese Änderungen entsprechen somit den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ.
3. Neuheit
3.1 Aus der D1 (Figuren 2, 4 bis 6, 13) ist ein Kasten, insbesondere an einer Ausziehführung gelagerter Schubkasten, mit einem Boden (implizit), zwei an gegenüberliegenden Seiten des Bodens angeordneten Wandelementen (4) und einer Frontblende (6), wobei die Wandelemente (4) eine sich von der Frontblende (6) nach hinten erstreckende Reling (3) umfassen, und die Reling (3), als C-förmige Profilschiene mit fünfeckigem Querschnitt ausgebildet ist.
3.2 Unter dem Wort "Nut" ist "eine längliche Vertiefung in einem Werkstück zur Einpassung eines in der Form korrespondierenden Teils" zu verstehen (Duden, Universal Wörterbuch, 1989). Daher kann die aus der D1 bekannte, im Querschnitt C-förmige Reling als mit einer Nut versehen betrachtet werden.
3.3 Die einzigen "weiteren Bauteile" im Sinne der Anmeldung, die in der D1 offenbart werden, sind die in den Figuren 1 und 2 vorhandenen Unterteilungselemente. Die mit Bezugszeichen 8 versehenen Stützen gehören zum Kastenaufbau und sind somit keine "weiteren Bauteile" im Sinne der Anmeldung. Die Unterteilungselemente sind jedoch an der Reling mit Hilfe von Klemmkappen 25 und 25a von Außen befestigt (siehe Seite 8, Zeilen 5 bis 21; Figuren 5, 13). Daher dient in der D1, die in der Reling ausgebildete Nut nicht dazu, weitere Bauteile zu verbinden. Zwar ist das im Anspruch 1 vorhandene Merkmal "zur Verbindung mit weiteren Bauteilen" ein funktionelles Merkmal, es impliziert jedoch für die Reling, dass die darin ausgebildete Nut sich für eine Verbindung eignen muß, also einer solchen Belastung standhalten kann. Gerade dies ist aber aus der D1 nicht zu entnehmen.
3.4 Der nun geltende Anspruch 1 sieht auch vor, dass das Relingprofil als geschlossenes Hohlprofil ausgebildet ist. Dies ist bei der aus der D1 bekannten Reling nicht der Fall.
3.5 Aus der D1 ist auch nicht erkennbar wie die Wandungen der Nut verlaufen. Dass die Nut mit einem sich im Querschnitt verjüngten Halsabschnitt versehen ist, ist aus der D1 jedenfalls nicht zu entnehmen. Die in der D1 offenbarte Nut ist in Richtung des Innenraums der Profilschiene offen (kein geschlossenes Hohlprofil) und besitzt somit auch keinen Boden im Sinne der Anmeldung.
3.6 Daher offenbart die D1 nicht die Merkmale, wonach in der Reling zur Verbindung mit weiteren Bauteilen eine einen Innenraum ausbildende Nut mit einem im Querschnitt verjüngten Halsabschnitt und einen Boden angeordnet ist, so dass das Relingprofil als geschlossenes Hohlprofil ausgebildet ist.
3.7 Auch keine der anderen im Recherchenbericht genannten Druckschriften offenbart alle Merkmale des Gegenstandes des Anspruchs 1 der Anmeldung.
3.8 Die Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 ist gegenüber den im Recherchenbericht genannten Druckschriften gegeben.
3.9 Da die Prüfungsabteilung noch nicht geprüft hat, ob die Anmeldung die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt, wird die Sache nach Artikel 111 (1) EPÜ an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.
4. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
4.1 Da der Beschwerde stattgegeben werden kann, ist gemäß der Regel 67 EPÜ die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen, falls ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt.
4.2 In ihrem Bescheid vom 23. Dezember 2003 hat die Prüfungsabteilung der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass die Merkmale der Ansprüche 1 und 2 von der D1 neuheitsschädlich vorweggenommen seien.
4.3 Mit Schreiben vom 5. Mai 2004 hat die Beschwerdeführerin neue Ansprüche eingereicht, in denen die Merkmale der Ansprüche 1 und 2 kombiniert und noch durch die Merkmale ergänzt werden, dass die Nut einen Innenraum ausbildet und einen Boden aufweist. Diese beiden Merkmale gehen nicht aus den abhängigen Ansprüchen sondern aus der Beschreibung und den Figuren hervor.
Die Beschwerdeführerin hat insbesondere die Prüfungsabteilung darauf hingewiesen, dass:
- sich der Spalt (Nut) der D1 wegen der mangelnden Verwindungssteifigkeit und wegen der Möglichkeit des Aufweitens des Profils nicht für die Montage weiterer Elemente eines Schubkastens eigne (Seite 2, letzter Satz des ersten Abschnitts),
- es Aufgabe der Erfindung sei, einen Kasten mit einer Reling vorzuschlagen, die flexibel zur Montage weiterer Bauteile an dem Kasten eingesetzt werden könne (Seite 2, zweiter Abschnitt)
- erfindungemäß eine Nut in der Reling ausgebildet sei, mit einem Innenraum, einen im Querschnitt verjüngten Halsabschnitt und einem Boden, wobei die Festigkeit der Reling erhöht werde, indem der Halsabschnitt und der Boden miteinander zur Ausbildung eines Innenraums verbunden seien (Seite 2, letzter Abschnitt),
- die Reling im Querschnitt somit als geschlossenes Profil ausgebildet sei, das ein wesentlich höhere Verwindungssteifigkeit besitze und auch andere mechanische Belastungen besser aufnehmen könne. Zudem eigne sich die Nut besonders gut für Rast- oder Klemmverbindungen (Seite 2, letzter Abschnitt),
- bei der D1 ein vollkommen anderes Befestigungssystem verwendet werde, bei dem die Reling von außen umgriffen werde. Die Nut sei letztlich funktionslos für das Unterteilungssystem (Seite 3, erster Abschnitt).
4.4 Ohne weiteren Bescheid hat die Prüfungsabteilung eine Zurückweisungsentscheidung erlassen. Die Prüfungsabteilung gesteht darin zwar zu, dass sich der Gegenstand des neuen Anspruchs 1 gegenüber der Kombination der Merkmalen der ursprünglichen Ansprüche 1 und 2 durch die Merkmale "Innenraum" und "Boden" unterscheidet, behauptet aber "Nach Meinung der Prüfungsabteilung besitzt aber auch die Nut nach D1 naturgemäß sowohl einen Innenraum als auch einen Boden - und zwar auch ohne daß dies explizit gesagt ist". Die Beschwerdeführerin wurde somit erstmals in der Zurückweisungsentscheidung darüber unterrichtet, dass diese beiden neuen beanspruchten Merkmale aus der D1 bekannt seien, so dass der wesentlich geänderte Gegenstand gemäß Anspruch 1 im Hinblick auf diesen Stand der Technik nicht neu sei.
Artikel 96 (2) EPÜ sieht jedoch vor, dass die Prüfungsabteilung die Anmelderin so oft wie nötig zur Stellungnahme auffordert. In dem ersten Bescheid sind alle wesentlichen Gründe sowohl rechtlicher als auch faktischer Natur anzugeben, die zu einer Zurückweisung führen können, damit der Anmelderin gemäß Artikel 113 (1) EPÜ das rechtliche Gehör ausreichend gewährt wird (siehe u. a. T 951/92 EPA ABl. 96, 53).
Wenn aber der beanspruchte Gegenstand vor allem durch Aufnahme von neuen wesentlichen Merkmalen im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1, die ausschließlich aus der Beschreibung und den Figuren hervorgehen, wesentlich geändert und ein solcher geänderte Gegenstand auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung hin eingereicht wird, dann sind die im ersten Bescheid genannten faktischen Gründe, die zu einer Zurückweisung führen können, nicht mehr ausreichend.
In diesem Fall kann die Prüfungsabteilung die Patentanmeldung nicht zurückweisen ohne gegen Artikel 113 (1) EPÜ zu verstoßen, sofern sie nicht einen weiteren Bescheid erlässt, der diese neuen faktischen Gründe - d. h. eine Auseinandersetzung mit den zu ersten Mal beanspruchten Merkmalen in Hinblick auf den erhobenen Einwand - enthält.
Die angefochtene Entscheidung verstößt somit gegen die Erfordernisse des Artikels 113 (1) EPÜ.
Eine Patentanmeldung kann zwar nach dem ersten Bescheid zurückgewiesen werden, jedoch unter der Voraussetzung, dass sich der zugrunde liegende Sachverhalt nicht geändert hat. Dies gilt vor allem dann, wenn der beanspruchte Gegenstand nicht wesentlich geändert wurde (siehe T 63/93).
Wenn hingegen, wie im vorliegenden Fall, der beanspruchte Gegenstand wesentlich geändert wurde, ergibt sich, dass die Patentanmeldung nicht vor Erlass eines weiteren Bescheides im Sinne des Artikels 96 (2) EPÜ zurückgewiesen werden konnte. Da kein weiterer Bescheid erlassen wurde, liegt ein Verstoß gegen Artikel 96 (2) EPÜ vor.
Nach Auffassung der Kammer stellen diese Verstöße einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar.
4.5 Des Weiteren sind Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen (Regel 68 (2) EPÜ). Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumente kurz zusammengefaßt und diese pauschal mit der Behauptung beantwortet, dass keinerlei eindeutiger und nachvollziehbarer Zusammenhang zwischen den im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 angegebenen Merkmalen und der Lösung der gestellten Aufgabe bestehe, ohne diese Behauptung genauer zu begründen. Sie ist auch in keiner Weise auf die Argumente der Beschwerdeführerin, die zum einem entegegengesetzten Schluß führen sollten, eingegangen, um diese zu widerlegen.
Daher ist die angefochtene Entscheidung nicht im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ als begründet anzusehen.
4.6 Es liegt daher ein weiterer wesentlicher Verfahrenmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ vor; nach Auffassung der Kammer entspricht es daher unter diesen Umständen der Billigkeit, die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.