T 1123/06 23-10-2006
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Erzeugung eines dreidimensionalen Körperteilmodells aus Fluoroskopiebilddaten und speziellen Landmarken
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung des EPA vom 22. Februar 2006, mit der die europäische Patentanmeldung 04 015 308.2 zurückgewiesen wurde.
II. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass die Ansprüche 1 bis 8 auf ein Verfahren gerichtet seien, das gemäß Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
In den Entscheidungsgründen wird darauf hingewiesen, dass das beanspruchte Verfahren der anschließenden bildunterstützten, chirurgischen Navigation bei Implantations-Operationen diene und direkt am menschlichen oder tierischen Körper ausgeführte essentielle Schritte eines Verfahrens zur therapeutischen Behandlung enthalte. Dies seien insbesondere diejenigen Schritte gemäß denen mittels eines Zeigegeräts charakteristische Landmarken am Patienten abgegriffen und Fluoroskopiebilddatensätzen gewonnen werden.
Da diese Schritte in kausaler Weise einen anschließenden Implantationsvorgang beeinflussen könnten, seien sie als therapeutisch anzusehen und führten dazu, dass das gesamte anmeldungsgemäße Verfahren ein therapeutisches Verfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ darstelle, das nicht patentierbar sei.
III. Die Beschwerdeführerin (Patentanmelderin) hat gegen diese Entscheidung die am 23. März 2006 eingegangene Beschwerde eingelegt und die Beschwerdegebühr am selben Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 19. Juni 2006 eingereicht.
Die Beschwerdeführerin beantragt, die angegriffene Entscheidung aufzuheben und ein Patent zu erteilen, wobei dieser Antrag die Aufnahme der Recherche sowie der Prüfung beinhaltet (siehe Schreiben vom 19. Juni 2006, Seite 8, Absatz 2). Da Recherche und Prüfung noch nicht erfolgt sind und grundsätzlich von der Prüfungsabteilung durchzuführen sind, ist der zweite Teil dieses Antrags offensichtlich so zu verstehen, dass die Angelegenheit an die erste Instanz zurückverwiesen werden soll mit der Anordnung, das Prüfungsverfahren auf der Grundlage der vorliegenden, d.h. der ursprünglich eingereichten Unterlagen fortzusetzen.
IV. Der ursprüngliche Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Verfahren zur Erzeugung eines dreidimensionalen Körperteilmodells mit Hilfe einer medizinischen bzw. chirurgischen Navigationseinrichtung und mit den folgenden Schritten:
- für das Körperteilmodell charakteristische Landmarken werden mit einem navigierten Zeigegerät abgegriffen und positionell bestimmt;
- mindestens zwei Fluoroskopiebilddatensätze werden jeweils für eine oder mehrere vorbestimmte, einzelne und abgegrenzte Körperteilregionen erstellt;
- charakteristische Körperteildaten werden aus einer computerunterstützten Verarbeitung und Kombination der Informationen, nämlich aus den unmittelbar ermittelten Landmarkenpositionen und aus Kenngrössen, die mittels Bildverarbeitung aus den Fluoroskopiedatensätzen gewonnen werden, ermittelt; und
- aus den charakteristischen Körperteildaten wird ein dreidimensionales und positionell bestimmtes Körperteilmodell für die bildunterstützte, chirurgische Navigation erstellt."
Ansprüche 2 bis 8 sind abhängige Ansprüche.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Verfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ
Nach Artikel 52 (4) EPÜ gelten Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden, nicht als gewerblich anwendbare Erfindungen und sind daher nicht patentfähig. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist Artikel 52 (4) EPÜ, wie jede Ausnahmeregelung, eng auszulegen.
2.1 Therapeutisches Verfahren
2.1.1 Unter einer therapeutischen Behandlung ist eine Behandlung zu verstehen, die zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient (siehe z.B. T 19/86, ABl. 1989, 24; T 290/86, ABl. 1992, 414; T 820/92, ABl. 1995, 113).
2.1.2 Die vorliegende Anmeldung betrifft ein Verfahren zur Erzeugung eines dreidimensionalen Körperteilmodells mit Hilfe einer medizinischen bzw. chirurgischen Navigationseinrichtung, welches Modell für Hüftimplantations-Operationen geeignet ist (siehe erster Absatz der Beschreibung der EP-A-1 611 863).
Das beanspruchte Verfahren beinhaltet im Wesentlichen die folgende Schritte:
a) charakteristische Landmarken werden mit einem navigierten Zeigegerät abgegriffen und positionell bestimmt,
b) mindestens zwei Fluoroskopiebilddatensätze werden jeweils für eine oder mehrere vorbestimmte Körperteilregionen erstellt,
c) charakteristische Körperteildaten werden aus einer computerunterstützten Verarbeitung und Kombination der Informationen ermittelt und
d) aus den charakteristischen Körperteildaten wird ein dreidimensionales und positionell bestimmtes Körperteilmodell erstellt.
2.1.3 Wie die Prüfungsabteilung richtig erkannt hat, werden die Schritte a) und b) direkt am menschlichen oder tierischen Körper ausgeführt und das mit dem Verfahren nach Anspruch 1 zu erstellende Körperteilmodell ist für die Verwendung bei einem chirurgischen Eingriff vorgesehen. Es kann aber nicht bereits aus diesen Gründen als therapeutisches Verfahren angesehen werden.
Wesentlich ist, dass das anmeldungsgemäße Verfahren selbst nicht zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient, sondern lediglich dazu, ein Modell für einen späteren chirurgischen Eingriff zu erstellen. Selbst wenn dieser Eingriff ein therapeutisches Verfahren darstellen sollte, kann daraus nicht gefolgert werden, dass auch ein Verfahren, dass in irgendeiner Weise damit in Zusammenhang steht, im vorliegenden Fall durch die Erstellung eines Modells, dadurch ebenfalls einen therapeutischen Charakter erlangt. Eine solche Annahme würde zu einer unzulässigen Ausweitung der Ausnahmebestimmungen gemäß Artikel 52 (4) EPÜ führen und wäre direkt gegen die Maßgabe einer engen Auslegung dieses Artikels gerichtet. Die Tatsache, dass das beanspruchte Verfahren Schritte umfasst, die direkt am menschlichen oder tierischen Körper ausgeführt werden, ist bei dieser Sachlage für die Frage, ob das Verfahren therapeutischen Charakter hat, ohne Bedeutung.
2.2 Diagnostisches oder chirurgisches Verfahren
2.2.1 Nach G 1/04 ist der Gegenstand eines Anspruchs als ein am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren anzusehen, das unter das Patentierungsverbot des Artikels 52 (4) EPÜ fällt, wenn der Anspruch die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, also die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase als rein geistige Tätigkeit sowie die vorausgehenden Schritte, die für das Stellen dieser Diagnose konstitutiv sind, umfasst.
Da die vorliegenden Ansprüche keines dieser Merkmale enthalten, betrifft die Anmeldung auch kein Diagnoseverfahren im Sinne von Artikel 52 (4) EPC.
2.2.2 Nach der Entscheidung T 0383/03 fällt ein Verfahren, das einen physischen Eingriff am menschlichen oder tierischen Körper (einen chirurgische Behandlungsschritt) umfasst, nicht unter das Patentierungsverbot des Artikels 52 (4) EPÜ, wenn es eindeutig weder geeignet noch potentiell geeignet ist, die Gesundheit, die physische Unversehrtheit oder das physische Wohlergehen eines Menschen oder eines Tieres zu erhalten oder wieder herzustellen.
Im vorliegenden Fall könnten allenfalls das Abgreifen charakteristischer Landmarken mit einem navigierten Zeigegerät (Merkmal a) und das Erstellen von Fluoroskopiebilddatensätzen (Merkmal b) als physische Eingriffe aufgefasst werden. Diese stellen aber weder die Gesundheit, noch die physische Unversehrtheit oder das physische Wohlergehen eines Menschen oder eines Tieres wieder her oder erhalten diese Zustände. Vielmehr sind sie nur dazu geeignet, die Voraussetzungen für die Erstellung eines Modells zu schaffen. Es ist auch nicht zu erkennen, dass sie potentiell dazu geeignet wären die vorangehend genannten Zustände zu beeinflussen.
Damit stellt das beanspruchte Verfahren auch kein chirurgisches Verfahren dar, das einen Ausschluss von der Patentierbarkeit gemäß Artikel 52 (4) EPÜ begründen könnte.
3. Nachdem die Entscheidung der ersten Instanz ausschließlich auf den Artikel 52 (4) EPÜ gestützt war, hält es die Kammer bei der dargestellten Sachlage für angemessen, die Angelegenheit gemäß Artikel 111 (1) EPÜ zur weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Prüfungsverfahren auf Grundlage der ursprünglich eingereichten Unterlagen fortzusetzen.