T 1533/08 15-02-2011
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Verfahren zum Verbrennen von Abfallprodukten
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 13. Juni 2008, mit der das Patent Nr. EP-B- 1 197 706 widerrufen wurde.
Insbesondere stellte die Einspruchsabteilung fest:
- dass der Einspruch hinsichtlich der nach Artikel 100b) und 100c) EPÜ geltend gemachten Einwände nicht begründet sei,
- dass aber der beanspruchte Erfindungsgegenstand vom Stand der Technik vorbekannt bzw. in naheliegender Weise herleitbar gewesen sei, also nicht neu sei bzw. auf keiner erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 54(1) und 56 EPÜ), und somit nicht patentfähig sei (Artikel 52(1) bzw. 100a) EPÜ).
II. Die Beschwerde wurde von der Patentinhaberin (im Folgenden: Beschwerdeführerin) am 29. Juli 2008 eingelegt. Am gleichen Tag wurde die Beschwerdegebühr entrichtet.
Die Beschwerdebegründung wurde am 20. Oktober 2008 eingereicht.
III. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 15. Februar 2011 statt.
Zur Vorbereitung dieser Verhandlung erließ die Kammer am 4. Oktober 2010 einen Ladungsbescheid, in dem unter anderem auf eine von den Entscheidungsgründen der Einspruchsabteilung abweichende Meinung der Kammer bezüglich einer möglichen Verletzung des Artikels 123(2) bzw. 100c) EPÜ hingewiesen wurde.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Basis des während der mündlichen Verhandlung eingereichten neuen Hauptantrages.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
Am Schluss der Verhandlung hat die Kammer ihre Entscheidung verkündet.
IV. Der Anspruch 1 des während der mündlichen Verhandlung eingereichten neuen Hauptantrags lautet folgendermaßen (die unterstrichenen bzw. im Fettdruck dargestellten Merkmale kennzeichnen die gegenüber dem Wortlaut des Anspruchs 1 des erteilten Patents vorgenommenen Änderungen):
"Verfahren zum Verbrennen von Abfallprodukten auf einem Feuerungsrost mit Primärluftzuführung von der Unterseite des Feuerungsrostes, bei dem die Abfallprodukte zuerst getrocknet und gezündet werden, worauf der Hauptverbrennungsvorgang durchgeführt wird und danach die anfallende Schlacke ausgetragen wird,
dadurch gekennzeichnet,
dass am Ende des Hauptverbrennungsvorganges, wo noch brennbare Anteile neben sich bereits bildenden Schlackenteilen vorhanden sind, die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität in wählbaren, voneinander durch ein dazwischen liegendes Zeitintervall getrennten Zeitabschnitten unter ein Normalmass verlangsamt und in den dazwischen liegenden Zeitabschnitten auf oder über das Normalmass erhöht wird, wobei in diesem fortgeschrittenen Zustand des Hauptverbrennungsvorganges die Verlangsamung und Beschleunigung der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität am Ende des Hauptverbrennungsvorganges durch wiederkehrende Variation der Primärluftmenge in dem für die Schlackenqualität entscheidenden Abbrandstadium in den jeweiligen Zeitabschnitten erfolgt und die Variation der Primärluftmenge durch Absenken der Primärluftmenge unter ein Normalmass und anschliessendes Erhöhen der Primärluftmenge auf oder über das Normalmass erfolgt."
V. Die Parteien stützen sich im Wesentlichen auf folgende Gründe und Argumente:
a) Beschwerdeführerin
Das Streichen der im erteilten Anspruch 1 vorhandenen Begriffe "unter ein Normalmass" sowie "auf oder über das Normalmass" bezüglich der Variation der Abbrandgeschwindigkeit bzw. -intensität verstoße nicht gegen die Vorschriften des Artikels 123(3) EPÜ. Es sei dem Fachmann nämlich klar, dass ein sogenanntes Normalmass für die Abbrandgeschwindigkeit bzw. -intensität beliebig liegen könne und daher auch keine eindeutige technische bzw. einschränkende Bedeutung habe. Durch das Streichen der Begriffe an dieser Stelle werde der Schutzumfang nicht erweitert.
Anderseits sei in der Beschreibung offenbart, vgl. Absätze [0011] und [0012] der veröffentlichten Anmeldung EP-A- 1 197 706 (EP-A), dass die Variation der Abbrandgeschwindigkeit bzw. -intensität mit der Variation der Primärluftmenge unter bzw. auf/über ein Normalmass synchron sei.
Der geänderte Anspruch 1 genüge somit den Erfordernissen des Artikels 123 EPÜ und sei in das Verfahren zuzulassen.
b) Beschwerdegegnerin
Durch das Streichen der Angabe eines Normalmasses hinsichtlich der Variation der Abbrandgeschwindigkeit bzw. -intensität fielen nun erstmals Verfahren unter den Wortlaut des Anspruchs 1, in welchen die Abbrandgeschwindigkeit bzw. -intensität auf ein Niveau unterhalb des Normalmasses erhöht werde. Damit werde der Schutzumfang im Sinne von Artikel 123(3) EPÜ ganz offensichtlich erweitert. Der spät vorgebrachte Antrag sollte demnach nicht zugelassen werden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Unzulässigkeit des einzigen Antrags
2.1 Im erteilten Anspruch 1 wurde das Absenken und Erhöhen der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität im Bezug auf ein Normalmass definiert, nämlich "unter ein Normalmass verlangsamt und ... auf oder über das Normalmass erhöht". Der Begriff eines Normalmasses für die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität war allerdings als solches in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbart. Der erteilte Anspruch 1 erfüllte daher nicht die Erfordernisse des Artikels 100c) EPÜ.
2.2 In dem geänderten Anspruch 1 gemäss dem Hauptantrag wurde, nebst der Aufnahme von neuen zusätzlichen Merkmalen, dieses bereits während des Prüfungsverfahrens hinzugefügte Merkmal wieder gestrichen.
Die nun zu beantwortende Frage betrifft die Zulässigkeit einer derartigen Änderung im Rahmen von Artikel 123(3) EPÜ.
2.2.1 Zuerst stellt die Kammer fest, dass das mit der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität zusammenwirkende Merkmal eines "Normalmasses", anders als nach der von der Beschwerdeführerin vertretenen Meinung, durchaus einen technischen Beitrag zum beanspruchten Verfahren, insbesondere im Hinblick auf die in Zeitintervallen erfolgenden Absenkungs- oder Anhebungsvorgänge der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität, leistete und somit auch eine bedeutungsvolle Einschränkung definierte.
Der Fachmann hat aus diesem Merkmal nämlich unmittelbar entnehmen müssen, dass die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität in einer Zone und für ein bestimmtes Zeitintervall von einem Ausgangsniveau (Normalmass) in einem derart merklichen Mass reduziert wird, dass sich ein Grossteil der noch brennbaren Anteile in der Zone ansammelt, und für folgende Zeitintervalle sie zumindest auf ihr Ausgangsniveau (Normalmass) zurück erhöht wird. Eindeutig ausgeschlossen waren somit Verfahren, in welchen die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität auf einen gegenüber dem Ausgangsniveau (Normalmass) niedrigeren Wert zurück erhöht wird.
Durch das Streichen des Verweises auf den Begriff "Normalmass" für die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität wurde also der Schutzumfang ganz offensichtlich erweitert.
2.2.2 Die hinzugefügten Merkmale betreffen ihrerseits die Variation der Primärluftmenge unter bzw. auf oder über ein Normalmass.
Sie können aber keineswegs das gestrichene Merkmal des Normalmasses für die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität in äquivalenter Weise ersetzen. Der Abbrand kann zwar auch durch eine Variation der Primärluftmenge verlangsamt oder beschleunigt werden, jedoch wird er nicht allein durch diese Variable bestimmt. So wird im Patent selbst angegeben (siehe Absätze [0016] und [0017]), dass die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität noch von anderen Parametern, wie der Temperatur der Primärluft, dem Sauerstoffgehalt der Primärluft, abhängt.
2.2.3 Die aufgenommenen Merkmale mit folgendem Wortlaut:
" wobei in diesem fortgeschrittenen Zustand des Hauptverbrennungsvorganges die Verlangsamung und Beschleunigung der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität am Ende des Hauptverbrennungsvorganges durch wiederkehrende Variation der Primärluftmenge in dem für die Schlackenqualität entscheidenden Abbrandstadium in den jeweiligen Zeitabschnitten erfolgt und die Variation der Primärluftmenge durch Absenken der Primärluftmenge unter ein Normalmass und anschliessendes Erhöhen der Primärluftmenge auf oder über das Normalmass erfolgt";
haben somit nicht die gleiche technische Bedeutung wie die gestrichenen Begriffe im erteilten Anspruch 1, dass:
" die Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität in wählbaren, voneinander durch ein dazwischen liegendes Zeitintervall getrennten Zeitabschnitten unter ein Normalmass verlangsamt und in den dazwischen liegenden Zeitabschnitten auf oder über das Normalmass erhöht wird";
und können sie deswegen als sinngemäß und umfangsmäßig äquivalente Merkmale auch nicht ersetzen.
2.2.4 Zusammenfassend gelangt die Kammer also zum folgenden Ergebnis:
- das im Prüfungsverfahren hinzugefügte Merkmal eines Normalmasses bezüglich der Abbrandgeschwindigkeit bzw. Abbrandintensität ist als hinzugefügter Gegenstand zu betrachten, welcher im Sinne des Artikels 123(2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht,
- der Ausnahmefall gemäß Absatz 2 des Leitsatzes der Entscheidung G001/93 findet somit in dieser Sache keine direkte Anwendung,
- die Änderungen im während der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruch 1 verstoßen daher gegen die Vorschriften des Artikels 123(3) EPÜ.
2.3 Aufgrund dieses ganz offensichtlichen Mangels nach Artikel 123(3) EPÜ ist der während der mündlichen Verhandlung neu eingereichten Anspruch 1 des einzigen Antrags der Beschwerdeführerin im Einklang mit Artikel 13 VoBK nicht zuzulassen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.