T 2054/10 21-01-2016
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Vorrichtung zum Einfüllen von Blättern in ein Kuvert
Böwe Systec AG i.I.
BÖWE SYSTEC GmbH
Beitritt des vermeintlichen Patentverletzers - zulässig (ja)
Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das Patent Nr. 1 622 778 zurückzuweisen.
Mit dem Einspruch war das gesamte Patent im Hinblick auf Artikel 100 a) i.V.m. 52 (1) und Artikel 54 (1) bzw. 56 EPÜ als auch auf Artikel 100 c) EPÜ angegriffen worden.
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt sie, das Patent in geändertem Umfang auf der Basis der mit Schreiben vom 17. Dezember 2012 als Hilfsanträge 1 bis 4 eingereichten Ansprüche aufrechtzuerhalten.
III. Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt:
"Vorrichtung zum Einfüllen von Blättern in ein Kuvert mit
a) einer Halteeinrichtung (11) für das Kuvert;
b) Transportorganen (15) zum Zuführen der ein-zuführenden Blätter zur Halteeinrichtung (11);
c) einer Zuführeinrichtung (7,8,9) zum Zuführen des Kuverts zur Halteeinrichtung, (11) entlang einer Zuführungsrichtung; und
d) einer Abführeinrichtung (8,22) zum Abführen des eingefüllten Kuverts von der Halteeinrichtung (11), entlang einer Abführungsrichtung;
e) wobei die Zuführeinrichtung (7,8,9) und die Abführeinrichtung (8,22) bezüglich der Halteeinrichtung (11) so angeordnet sind, dass ein erster Winkel zwischen der Zuführungsrichtung und einer Hauptfläche der Halteeinrichtung (11) und ein zweiter Winkel zwischen der Abführungsrichtung und der Hauptfläche der Halteeinrichtung (11) fest vorgegeben sind;
dadurch gekennzeichnet, dass
f) die Zuführeinrichtung (7,8,9) derart ausgebildet ist, dass das einzufüllende Kuvert von der Zuführungsrichtung in Richtung der Halteeinrichtung (11) umgelenkt wird; und dass
g) die Abführeinrichtung (8, 22) bezüglich der Halteeinrichtung (11) so angeordnet ist, dass die Hauptfläche der Halteeinrichtung (11) permanent parallel zur Abführungsrichtung ist, so dass das eingefüllte Kuvert in gerader Richtung von der Halteeinrichtung (11) weg transportiert werden kann."
IV. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens wurde namens und im Auftrag der Firma Böwe Systec GmbH (Beitretende) eine Beitrittserklärung eingereicht. Der Beitritt stützte sich auf die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a) i.V.m. 52 (1) und Artikel 54 (1) bzw. 56 EPÜ, auf Artikel 100 b), und auf Artikel 100 c) EPÜ.
V. Die Beschwerdegegnerin hat daraufhin geltend gemacht, dass der Beitritt als unzulässig zurückzuweisen sei. Insbesondere wurde vorgetragen, dass "der gesamte Geschäftsbetrieb der sich nun in Insolvenz befindlichen Einsprechenden Böwe Systec AG ... vor der Beitrittserklärung an die Antragstellerin [Beitretenden] übertragen worden (sei)." Auf die Zurücknahme der Klage wurde auch hingewiesen.
VI. Die Kammer hat daraufhin die Beschwerdeführerin sowie die Beitretende aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Sie hat die Beschwerdeführerin auch dazu aufgefordert, einen Auszug des Handelsregisters der Böwe Systec AG einzureichen, damit gegebenenfalls der Umfang der Rechtsnachfolge geklärt werden könne.
VII. Als Antwort auf diese Aufforderung hat der Vertreter der Beitretenden u.a. die folgenden Unterlagen eingereicht:
- Anlage 4 : Erklärung vom 31. Juli 2012 des Insolvenzverwalters der Böwe Systec AG i.I., in der er bestätigt, dass die Rechtsstellung der Böwe Systec AG i.I. als Einsprechende im Einspruchsverfahren gegen das europäische patent Nr. 1 622 778 nicht auf die Böwe Systec GmbH (Beitretende) übertragen worden sei;
- Anlagen 2a und 2b: Handelsregisterauszüge der Böwe Systec AG i.I. und Böwe Systec GmbH.
VIII. Die Beschwerdeführerin hat einen aktuellen Handelsregisterauszug des Amtsgerichts Augsburg betreffend die Böwe Systec AG vorgelegt.
IX. Die Kammer hat daraufhin die Parteien davon in Kenntnis gesetzt, dass nach ihrer Ansicht aufgrund der vorgelegten Unterlagen der Beitritt zulässig erscheine und die Beschwerdegegnerin aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere auch auf die Entscheidung G 1/94 (ABl. EPA 1994, 787) hingewiesen, aus der hervorgeht, dass bei Zulassung neuer, von der Beitretenden vorgebrachte Einspruchsgründe die Sache grundsätzlich an die erste Instanz zurückverwiesen werden sollte, es sei denn, dass "der Patentinhaber selbst keine Zurückverweisung wünscht" (Punkt 13 der Entscheidungsgründe).
X. In ihrer Stellungnahme hat die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt, den Fall an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, damit der neue Einspruchsgrund durch zwei Instanzen geprüft werden könne.
1. Zulässigkeit des Beitritts
Die eingereichten Unterlagen geben Auskunft über die Verbindungen zwischen der Böwe Systec AG i.I. und der Böwe Systec GmbH. Die Erklärung des Insolvenzverwalters sowie die eingereichten Auszüge sind schlüssig; auch die Erläuterungen des Vertreters der Beitretenden sind nachvollziehbar.
Die Kammer gelangt daher zum Schluss, dass der Beitritt zulässig ist.
2. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung
In ihrer Entscheidung G 1/94, Punkt 13 der Entscheidungsgründe, hat die Grosse Beschwerdekammer Folgendes festgestellt:
"Die Große Beschwerdekammer hat in der Sache G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) ausgeführt, dass der Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens darin besteht, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zur sachlichen Anfechtung der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu geben, und die Prüfung von Einspruchsgründen, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient haben, nicht dieser Zweckbestimmung entspricht. Dass sich ein dem Beschwerdeverfahren beitretender vermeintlicher Verletzer auf neue Einspruchsgründe beruft, passt sicherlich nicht zu diesem Grundverständnis des Beschwerdeverfahrens. Andererseits soll der vermeintliche Verletzer durch den Beitritt aber gerade Gelegenheit erhalten, sich gegen die Maßnahmen des Patentinhabers zur Wehr zu setzen. Wenn man ihn daran hindern würde, das Patent, das er angeblich verletzt, mit allen verfügbaren Mitteln, also auch mit neuen, vom eigentlichen Einsprechenden nicht geltend gemachten Einspruchsgründen nach Artikel 100 EPÜ, anzufechten, würde der Zweck des Beitritts verfehlt. Überdies bestünde dann die Gefahr, daß das EPA und die nationalen Gerichte die Rechtsgültigkeit eines europäischen Patents ganz unterschiedlich beurteilen, weil sie ihren Entscheidungen jeweils andere Tatsachen und Gründe zugrunde legen. Deshalb ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, daß ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ zu einem anhängigen Beschwerdeverfahren auf jeden der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe gestützt werden kann. Falls der Beitretende einen neuen Einspruchsgrund vorbringt, sollte allerdings nach dem Grundsatz verfahren werden, den die Große Beschwerdekammer in der Sache G 10/91 für den Ausnahmefall der Zulassung neuer Einspruchsgründe im normalen Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, und die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen werden, sofern nicht besondere Gründe für eine andere Vorgehensweise sprechen, also etwa der Patentinhaber selbst keine Zurückverweisung der Sache wünscht." (Hervorhebung durch die Kammer)
Im vorliegenden Fall ist der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ 1973 erstmals von der Beitretenden vorgebracht worden. Die Kammer sieht keine besonderen Gründe, die gegen eine Zurückverweisung sprechen. Auch die Patentinhaberin hat sich im Sinne einer Zurückverweisung ausgesprochen. Deshalb folgt die Kammer der Empfehlung der Grossen Beschwerdekammer und verweist den Fall an die Einspruchsabteilung zurück.
3. Obiter dictum
Die Kammer möchte darüber hinaus zur Auslegung von Anspruch 1 des Streitpatents Stellung nehmen.
- Bezüglich des Merkmals e), dem zufolge "die Zuführeinrichtung .... und die Abführeinrichtung ... bezüglich der Halteeinrichtung ... so angeordnet sind, dass ein erster Winkel zwischen der Zuführungsrichtung und einer Hauptfläche der Halteeinrichtung ... und ein zweiter Winkel zwischen der Abführungsrichtung und der Hauptfläche der Halteeinrichtung ... fest vorgegeben sind", ist die Kammer der Auffassung, dass auch ein Winkel von 0° ein Winkel im Sinne des Anspruchs ist, zumal der Anspruch nicht verlangt, dass zwischen den zwei Richtungen ein Winkel besteht, sondern nur, dass "ein erster Winkel ... ein zweiter Winkel ... fest vorgegeben sind ...".
- Merkmal f) verlangt, dass "die Zuführeinrichtung ... derart ausgebildet ist, dass das einzufüllende Kuvert von der Zuführungsrichtung in Richtung der Halteeinrichtung ... umgelenkt wird". Die Auslegung, der zufolge das "Umlenken" des Kuverts im Sinne des Patents zwingend eine Biegung oder Deformation des noch leeren Kuverts definiert, scheint der Kammer fragwürdig. Der Wortlaut an sich ist klar und impliziert keine Biegung oder Deformation. Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, weshalb es erforderlich wäre, die Beschreibung zur Deutung dieses Merkmals heranzuziehen und das Merkmal auf dieser Grundlage einschränkend auszulegen.
- Merkmal g) verlangt, dass "die Abführeinrichtung ... bezüglich der Halteeinrichtung ... so angeordnet ist, dass die Hauptfläche der Halteeinrichtung ... permanent parallel zur Abführungsrichtung ist". Der Begriff "permanent parallel" scheint auslegungsbedürftig und muss daher im Lichte der gesamten Offenbarung des Streitpatents gelesen werden. Absatz [0007] führt dazu Folgendes aus: "Gemäß der Erfindung ist die Abführeinrichtung bezüglich der Halteeinrichtung so angeordnet, dass die Hauptfläche der Halteeinrichtung permanent parallel zur Abführungsrichtung ist. Dies hat zur Folge, dass das eingefüllte Kuvert, welches aufgrund seiner Masse träger und aufgrund seiner Dicke weniger flexibel ist als das leere Kuvert, in gerader Richtung von der Halteeinrichtung weg transportiert werden kann. Das flexible leere Kuvert hingegen wird von der Zuführungsrichtung in Richtung der Halteeinrichtung umgelenkt." "Permanent parallel" heißt hier also nicht, dass die Abführrichtung ständig zur Halteeinrichtung parallel bleibt (was auch nicht sinnvoll erscheint), sondern dass die Halteeinrichtung so montiert ist, dass ihre Fläche lokal (d.h. am Ort der Abgabe) parallel zur Abführrichtung ist und bleibt. Dass das Kuvert danach über eine konvexe Rutsche o.ä. abgeführt wird, scheint der Kammer in diesem Zusammenhang irrelevant.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.