T 0586/13 (Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung / AREVA) 11-09-2019
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WANNENARTIGE KERNSCHMELZE-RÜCKHALTEEINRICHTUNG
Zulässigkeit des Einspruchs - Substantiierung des Einspruchs (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
I. Die Einspruchsabteilung entschied in ihrer Zwischenentscheidung, dass das Streitpatent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags die Erfordernisse des EPÜ erfülle. Insbesondere hatte sie entschieden, dass der Einspruch zulässig sei und der Gegenstand des Hilfsantrags erfinderisch sei.
II. Gegen diese Entscheidung legte sowohl die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin I) als auch die Einsprechende (Beschwerdeführerin II) Beschwerde ein.
III. In ihrer Beschwerdebegründung machte die Patentinhaberin geltend, dass der Einspruch als unzulässig zu verwerfen sei, da das Veröffentlichungsdatum des Dokuments D10 nicht nachgewiesen und der Einspruch daher nicht substantiiert worden sei. Außerdem legte die Patentinhaberin Argumente vor, die die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes vom erteilten Anspruch 1 belegen sollen.
IV. In ihrer Beschwerdebegründung machte die Einsprechende geltend, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des damaligen Hilfsantrags nicht erfinderisch sei.
V. Mit einer Mitteilung zur Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, dass der Einspruch zulässig sei. Es wurden auch einige Anmerkungen zur erfinderischen Tätigkeit der unabhängigen Ansprüche der erteilten Fassung und der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Fassung des Hilfsantrags gemacht.
VI. Auf die Mitteilung reichte die Patentinhaberin vier Anspruchsfassungen gemäß Hilfsanträge 1 bis 4 ein. Es wurden Argumente in Bezug auf die erfinderischen Tätigkeit der Ansprüche der jeweiligen Anträge vorgebracht.
VII. Als Reaktion auf die neuen Hilfsanträge reichte die Einsprechende Dokumente D15 bis D20 ein.
VIII. Am Ende der mündlichen Verhandlung präsentierte sich die Antragslage wie folgt:
Die Patentinhaberin beantragt, die angefochtene Zwischenentscheidung aufzuheben und das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten. Hilfsweise beantragt sie das Patent auf der Grundlage einer der mit Schriftsatz vom 23. Juli 2019 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4 aufrechtzuerhalten.
Die Einsprechende beantragt, die angefochtene Zwischenentscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Ferner beantragt sie, die mit Schriftsatz vom 28. August 2019 eingereichten Dokumente D15 bis D20 in das Verfahren zuzulassen.
IX. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
Anordnung für eine atomare Kernkraftanlage, mit
1.1 einer zur Anordnung unmittelbar unterhalb eines Reaktor-Druckgefäßcs [sic] ausgebildeten wannenartigen Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung, mit
1.1.1 einem äußeren Mantel, der innenseitig eine mehrschichtige Auskleidung aufweiset [sic], wobei die Auskleidung, von innen nach außen, eine monolithische Opferschicht, eine Schicht aus > 1000°C temperaturbeständigen Formteilen und eine monolithische Füllschicht zwischen Mantel und Formteil-Schicht umfasst, sowie mit
1.1.2 einem bei Bedarf zu öffnenden Auslaufbereich und
1.2 einem sich daran anschließenden Kanal, der eine > 1000°C temperaturbeständige Auskleidung aufweist und
1.3 einer Auffangwanne ohne feuerfeste Auskleidung, in die der Kanal einmündet.
X. Der Wortlaut der Hilfsanträge spielt für die vorliegende Entscheidung keine Rolle und wird hier nicht wiedergegeben.
XI. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:
D10: FISCHER, M.: "Severe accident mitigation and core melt retention in the European Pressurized Reactor (EPR)"; 11th International Conference on Nuclear Engineering, Tokyo, Japan, 20-23 April 2003;
Dl4: FISCHER, M.: "The severe accident mitigation concept and the design measures for core melt retention of the European Pressurized Reactor (EPR)"; Nuclear Engineering and Design, Vol. 230, Mai 2004, Seiten 169-180;
D4: GB-A-2 236 210.
XII. Das für die Entscheidung relevante Vorbringen der jeweiligen Parteien wird in den Entscheidungsgründen wiedergegeben.
Zulässigkeit des Einspruchs
1. Die Patentinhaberin machte geltend, dass der Einspruch nicht zulässig sei, weil die zur Begründung der fehlenden erfinderischen Tätigkeit vorgebrachten Tatsachen auf eine Kombination der Dokumente D10 und D4 als Beweismittel gestützt wurden. Da das Dokument D10 kein Veröffentlichungsdatum trage, sei der Einspruch nicht substantiiert worden.
2. Ein Einspruch wird als unzulässig verworfen, wenn die Erfordernisse des Artikels 99(1) EPÜ oder der Regel 76 EPÜ nicht erfüllt sind.
3. Der Einspruch wurde fristgemäß eingelegt und auf Artikel 100(a) EPÜ (fehlende erfinderische Tätigkeit) gestützt. Die Begründung dazu beruht auf der Feststellung, dass Anspruch 1 des angefochten Patentes im Hinblick auf eine Kombination der Dokumente D10 und D4 nicht erfinderisch sei.
4. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel wurden innerhalb der Einspruchsfrist vorgebracht. Insbesondere wurde D10 in dem Einspruchsschriftsatz identifiziert. Ob sich die Substantiierung als überzeugend herausstellt - und hierzu gehört auch die Frage, ob die zitierten Dokumente tatsächlich zum Stand der Technik gehören - betrifft allenfalls die Begründetheit, nicht aber die Zulässigkeit des Einspruchs. Zweifel an der öffentlichen Zugänglichkeit des Dokuments D10 können deshalb nicht die Zulässigkeit des Einspruchs in Frage stellen.
5. Außerdem weist die Einspruchschrift auf die Äquivalenz der Dokumente D10 und Dl4 hin. Vollständige Kopien von D10 und Dl4 wurden innerhalb der Einspruchsfrist eingereicht. Dl4 wurde von der Zeitschrift "Nuclear Engineering and Design" in einem Sonderband in Mai 2004 veröffentlicht und wurde somit zweifelsohne vor dem Prioritätsdatum des angefochtenen Patents veröffentlicht.
6. Obwohl die Inhalte von D10 und D14 nicht identisch sind, gelten die Argumente, die auf dem Dokument D10 beruhen, für Dl4 gleichermaßen. Dies bedeutet, dass die vorgebrachten Argumente bezüglich der erfinderischen Tätigkeit (d.h. D10 i.V.m. D4) gleichermaßen für eine Kombination von D14 und D4 gelten.
7. Da alle Erfordernisse des Artikels 99(1) EPÜ und der Regel 76 EPÜ erfüllt sind, ist der Einspruch zulässig.
Anspruch 1 in der erteilten Fassung - erfinderische Tätigkeit
8. Es ist nicht bestritten, dass D14 als der nächstliegende Stand der Technik anzusehen ist. Dieses Dokument beschreibt eine Anordnung für die European Pressurized Reactor (EPR) Kernkraftanlage, die, im unwahrscheinlichen Fall einer Kernschmelze, die Kernschmelze aufnimmt, diese soweit wie möglich unter Kontrolle hält, und kühlt. Die Anordnung umfasst eine unmittelbar unterhalb des Reaktordrückgefäßes angeordnete Reaktorgrube, die wannenartig ausgebildet ist und als Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung dient. Diese Reaktorgrube weist innenseitig zwei Schichten auf. Die innerste Schicht ist eine monolithische Opferschicht aus Beton. Zwischen Opferschicht und der Wand der Grube befindet sich eine hochtemperaturbeständige Schicht ("Protective Layer"). Die genaue Ausgestaltung dieser Schutzschicht ist allerdings nicht offenbart.
Der gesamte Vorgang von der Schmelzefreisetzung aus dem Reaktor-Druckgefäß bis zur langfristigen Kühlung der Kernschmelze ist in zwei getrennte Schritte geteilt. Die Kernschmelze wird zunächst in der Reaktorgrube aufgefangen, wo sie temporär zurückgehalten und akkumuliert wird. Anschließend wird sie durch einen Kanal in eine seitlich zum Reaktor-Druckbehälter liegende Ausbreitungskammer überführt, wo die endgültige Kühlung der Kernschmelze erfolgt.
9. Anspruch 1 des Streitpatents definiert eine Anordnung für eine atomare Kernkraftanlage, die die gleichen Ziele verfolgt wie die von D14. Die beanspruchte Anordnung besteht aus drei Teilen, nämlich einer wannenartigen Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung, einen sich daran anschließenden Kanal und eine Auffangwanne, in die der Kanal einmündet. Die Rückhalteeinrichtung ist derart definiert, dass sie zur Anordnung unmittelbar unterhalb eines Reaktor-Druckgefäßes ausgebildet ist. Ferner besteht sie aus einem äußeren Mantel, der innenseitig eine mehrschichtige Auskleidung aufweist, und einem Auslaufbereich. Die Auskleidung umfasst eine monolithische Opferschicht, eine Schicht aus Formteilen, die über 1000°C temperaturbeständig sind und eine monolithische Füllschicht, die zwischen Mantel und Formteil-Schicht liegt.
10. Es wurde nicht bestritten, dass die Anordnung gemäß Anspruch 1 sich von derjenigen von D14 dadurch unterscheidet, dass die Schutzschicht aus Formteilen besteht, die eine Temperaturbeständigkeit von über 1000°C aufweise und dass eine monolithische Füllschicht sich zwischen dem Mantel und der Formteil-Schicht befindet. Bezüglich der Frage, ob die Rückhalteeinrichtung von D14 einen äußeren Mantel umfasst, waren sich die Parteien jedoch nicht einig.
11. Die Reaktorgrube in D14 ist in das Gebäude integriert. Der Beton des Gebäudes wird so gegossen, dass eine Wanne entsteht. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass das Mauerwerk, das die Wand der Reaktorgrube bilde, in Form einer getrennten Wanne gegossen werden würde. Diese getrennte Wanne könne den Mantel im Sinne des Streitpatents gleichgesetzt werden. Die Einspruchsabteilung sah folglich keinen Unterschied zwischen dem äußeren Mantel gemäß Anspruch 1 und der Betonwanne, die in D14 impliziert sei.
12. Es gibt in D14 keine Hinweise darauf, dass eine diskreter Betonwanne unabhängig von der umgebenden Gebäudestruktur gegossen werden würde. Das Reaktorgebäude weist eine komplexe Struktur auf, die das Reaktor-Druckgefäß umgibt. Wie der Beton gegossen wird, um an diese komplexe Struktur zu gelangen, ist nicht offenbart.
13. Selbst die Einsprechende gab zu, dass die in D14 offenbarte Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung keinen diskreten Mantel enthielt. Jedoch gehe ein diskreter Mantel aus den Wortlaut des Anspruchs nicht hervor. Die Einsprechende machte geltend, dass der umgebende Gebäudeteil in D14 als "Mantel" bezeichnet werden könne. Aufgrund der Tatsache, dass das Mauerwerk eine den "Protective Layer" umgebenden, unmittelbar angrenzenden Hülle darstelle, verstehe es sich von selbst, dass es sich bei dem umgebenden Mauerwerk tatsächlich um einen Mantel handele. Dadurch, dass der Mantel in Anspruch 1 eine solche Interpretation nicht ausschließe, sei dieses Merkmal aus D14 bekannt. Dieses Argument sei unterstrichen, indem Anspruch 16 definiere, dass der Mantel von einer Betonwanne gebildet wird. Dass der "Mantel" in D14 in Wirklichkeit ein Teil des Gebäudes sei, sei irrelevant, wenn es lediglich darum gehe, ob D14 einen Mantel offenbare. Das umhüllende Mauerwerk von D14 diene nämlich dem gleichen Zweck wie der beanspruchte Mantel, indem er die äußere Wand der Rückhalteeinrichtung definiere.
14. Die Kammer vermag dieser Ansicht nicht beipflichten.
Die Anordnung gemäß Anspruch 1 weist eine Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung auf, die (a) zur Anordnung unmittelbar unterhalb eines Reaktor-Druckgefäßes und (b) wannenartig ausgebildet ist. Ferner ist die Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung derart definiert, dass sie aus drei Teilen besteht: einem Mantel, einer Auskleidung und einem Auslaufbereich. Da der äußere Mantel Bestandteil der Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung ist, muss zwangsläufig auch der äußere Mantel unmittelbar unterhalb des Reaktor-Druckgefäßes anordenbar sein. Somit handelt es sich bei der Rückhalteeinrichtung um eine eigenständige Einheit, so dass ihr Mantel nicht in die umliegende Gebäudestruktur integriert ist.
Dies trifft für die in D14 offenbarte Konstruktion nicht zu. So offenbart D14 ein vollständiges Reaktorgebäude, das lediglich einen Bereich unterhalb des Reaktor-Druckgefäßes zum Auffangen der Kernschmelze aufweist. Das Reaktorgebäude (in seiner Gesamtheit) ist jedoch nicht "zur Anordnung unmittelbar unterhalb des Reaktor-Druckgefäßes" ausgebildet, sondern umfasst das Reaktor-Druckgefäß vielmehr vollständig.
15. Folglich unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von der Offenbarung des Dokuments D14 durch folgende Merkmale:
a) Die Rückhalteeinrichtung umfasst ein äußerer Mantel;
b) Die Schutzschicht besteht aus Formteilen, die eine Temperaturbeständigkeit von über 1000°C aufweise; und
c) Eine monolithische Füllschicht befindet sich zwischen dem Mantel und der Formteil-Schicht.
16. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern besteht das richtige Verfahren zur Formulierung der technischen objektiven Aufgabe darin, eine Aufgabe auf der Grundlage der technischen Wirkung genau jener Merkmale auszuwählen, die den Anspruch vom Stand der Technik unterscheiden, die so spezifisch wie möglich ist, ohne Elemente oder Hinweise auf die Lösung zu enthalten (T 1019/99 Contrast enhancement/AGFA-GEVAERT).
17. Die Patentinhaberin machte geltend, dass es die Aufgabe der vorliegenden Erfindung sei, die Wärme aus dem geschmolzenen Kern über die Schichten der Rückhalteeinrichtung und aus dessen äußeren Mantel abzuleiten. Somit werde die thermische Belastung an das Gebäude minimiert. Alle drei oben genannten Unterscheidungsmerkmale seien synergetisch verknüpft, um diese Aufgabe zu lösen. Insbesondere seien Formteile, die eine Temperaturbeständigkeit von über 1000°C aufweisen, sehr dicht und weisen daher eine gute Wärmeleitfähigkeit auf. Durch die Bereitstellung einer Füllschicht sei sichergestellt, dass kein isolierender Luftspalt zwischen den Formteilen und dem äußeren Mantel vorhanden sei. Die Füllschicht verbessere somit auch die Wärmeleitfähigkeit der Rückhalteeinrichtung. Die Bereitstellung eines äußeren Mantels, der nicht Teil des umgebenden Gebäudes sei, ermögliche eine effiziente Wärmeabfuhr aus der Rückhalteeinrichtung. Weil die Rückhalteeinrichtung nicht Teil des Gebäudes sei, hätte die Wärme der Kernschmelze keine negativen Auswirkungen auf das Gebäude. Insofern sei die objektive technische Aufgabe die Bereitstellung einer Rückhalteeinrichtung, die die Wärme aufnimmt und transportiert, um eine besser Schutz des Gebäudes zu erreichen.
18. Die von der Patentinhaberin formulierte objektive technische Aufgabe ist nicht auf genau jener Merkmale basiert, die den Anspruch vom Stand der Technik unterscheiden. Vielmehr hat die Patentinhaberin die Aufgabe auf der Grundlage von Merkmalen formuliert, die sie in Anspruch 1 hineininterpretiert hat, die aber im Anspruch nicht ausdrücklich definiert sind. Insbesondere sind die Eigenschaften der Formteile und der Füllschicht, die zu einer hohen Wärmeleitfähigkeit dieser Schichten beitragen sollten, in Anspruch 1 nicht festgelegt. Zum Beispiel sind in Anspruch 1 weder die Dicke der Schichten noch ihre Wärmeleitkoeffizienten erwähnt. Die beanspruchte Ruckhalteeinrichtung leitet daher nicht zwangsweise Wärme von der Kernschmelze weg, wie von der Patentinhaberin behauptet. Da es auch nicht definiert ist, dass die Rückhalteeinrichtung und das Gebäude thermisch getrennt sind, kann eine Wärmeabfuhr über den Mantel ohne thermische Belastung des Gebäudes nicht aus Anspruch 1 abgeleitet werden. Eine Minimierung der thermischen Belastung an das Gebäude und der damit verbundene Schutz der strukturellen Integrität kann daher nicht als technischer Effekt des Mantels angesehen werden. Wie die Einsprechende zu Recht vorgetragen hat, müssen die beanspruchten Merkmale die gestellte Aufgabe tatsächlich lösen, was in diesem Fall nicht unbedingt geschieht.
19. Der Einsprechende trug vor, dass die Unterscheidungsmerkmale zu zwei getrennten Teilproblemen führen. Sie war der Meinung, dass die erste Teilaufgabe, gelöst durch Merkmale b) and c), als die konkrete Ausgestaltung der Schutzschicht von D14 betrachtet werden könne. Die zweite Teilaufgabe, gelöst durch Merkmal a), könne nur als die Bereitstellung einer Alternative zu dem in das Gebäude integrierten Mantel formuliert werden. Da es lediglich zwei alternative Anordnungen gebe - entweder die Integration des Mantels in das Gebäude (wie in D14) oder die Bereitstellung eines separaten Mantels - könne der beanspruchte Mantel nicht als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend angesehen werden.
20. Obwohl die erste Teilaufgabe in Übereinstimmung mit der oben genannten Rechtsprechung formuliert ist, ist die zweite Teilaufgabe zu allgemein formuliert. Während die Spezifität der Aufgabeformulierung dadurch eingeschränkt wird, dass sie keine Hinweise auf die Lösung enthält oder die Lösung vorwegnimmt, gibt es auch eine Einschränkung, wie weit sich die Formulierung von dieser Spezifität "zurückziehen" kann, d.h. eine Einschränkung der Allgemeingültigkeit der Aufgabe (T 1019/99, Gründe 3.3). Diese Einschränkung der Allgemeingültigkeit stellt sicher, dass die formulierte Aufgabe sich nicht zu weit von den Unterscheidungsmerkmalen entfernt. Im vorliegenden Fall ist die von der Einsprechenden zweite Teilaufgabe so weit gefasst, dass nur eine einzige Lösung existiert, nämlich die Bereitstellung eines Mantels, der nicht in das Gebäude integriert ist. Auf diese Weise stellt die Einsprechende eine Situation her, in der die Aufgabe lediglich eine einzige Lösung hat, die trivial ist: Entweder ist der Mantel der Rückhalteeinrichtung in das Gebäude integriert oder er ist es nicht. Um allerdings eine ex post facto Analyse zu vermeiden, muss die Aufgabe so spezifisch wie möglich formuliert werden, was im vorliegenden Fall nicht geschehen ist.
21. Das Patent erwähnt einige Vorteile, die dadurch erreicht werden, dass die Vorrichtung mit einem äußeren Mantel versehen wird. Insbesondere heißt es in den Absätzen [0020] und [0021], dass der Mantel beispielsweise aus Metal oder einem keramischen Werkstoff bestehen kann. Dementsprechend besteht ein Vorteil des beanspruchten Mantels darin, dass er aus einem anderen Material als dem Baubeton hergestellt werden kann. Die Materialien von Rückhalteeinrichtung und Gebäude können unabhängig voneinander gewählt werden, um ihre jeweilige Funktion zu optimieren. Dies bedeutet wiederum, dass die strukturelle Integrität des Gebäudes nicht durch einen Kompromiss bei der Wahl seiner Materialeigenschaften beeinträchtigt wird. Die technische Wirkung des Mantels ist somit die Entkopplung der Rückhalteeinrichtung vom Material des Gebäudes.
22. Die Einsprechende machte geltend, dass die technische Wirkung der Entkopplung der Rückhalteeinrichtung vom Gebäude nicht aus den Merkmalen von Anspruch 1 abgeleitet werden könne. Insbesondere wurde in Anspruch 1 nicht erwähnt, dass der Mantel mechanisch oder thermisch vom Gebäude getrennt sei. Es sei daher nicht zulässig, die objektive technische Aufgabe auf diesen angeblichen technischen Effekt zu stützen.
23. Diesem Argument kann nicht beigepflichtet werden. Wie oben dargestellt, besteht die beanspruchte Kernschmelze-Rückhalteeinrichtung aus drei Teilen: einem Mantel, einer Auskleidung und einem Auslaufbereich. Der Mantel ist somit Teil der eigenständigen Rückhalteeinrichtung und nicht in das Gebäude integriert. Dabei ist es unerheblich, ob Rückhalteeinrichtung und Gebäude voneinander mechanisch oder thermisch entkoppelt sind. Wichtig ist nur dabei, dass der Mantel und das Gebäude zwei getrennte Einheiten sind, die unabhängig voneinander konstruiert werden können.
24. Jede Aufgabe, die so formuliert wäre, dass sie sich auf die Unabhängigkeit von Rückhalteeinrichtung und Gebäude bezieht, würde einen Hinweis auf die Lösung enthalten. Sie muss sich daher von dieser Spezifität zurückziehen und etwas allgemeiner formuliert werden. Nach Auffassung der Kammer wären die zwei zu lösenden Teilaufgaben deshalb wie folgt zu definieren:
i) Die konkrete Ausgestaltung der aus D14 bekannten "Protective Layer".
ii) Die Bereitstellung einer Rückhalteeinrichtung, die einen verbesserten Schutz der baulichen Integrität des Gebäudes bietet.
25. Die beiden beanspruchten Merkmalsgruppen (auf der einen Seite der Mantel und auf der anderen Seite die Formteile und die Füllschicht) stehen in keiner erkennbaren funktionellen Wechselwirkung zueinander. Es ist somit zu untersuchen, ob die beiden Merkmalsgruppen jeweils für sich naheliegend sind. Zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstandes genügt es dabei, wenn eine dieser Gruppen etwas erfinderisches enthält (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, 9. Auflage 2019, I.D.9.2.2).
26. Es wurden keine Argumente vorgebracht, die belegen, dass die Fachperson die Bereitstellung einer eigenständige Rückhalteinrichtung - und somit eines äußeren Mantels - in Betracht gezogen hätte, um die strukturelle Integrität des Gebäudes zu verbessern. Um eine fehlende erfinderische Tätigkeit nachzuweisen, müsste begründet werden, warum die Fachperson versuchen würde, die bekannte Anordnung zu ändern, indem sie sich von der Aufbringung der Schutz- und Opferschichten direkt auf das Mauerwerk der Reaktorgrube abwendet. Es genügt nicht in diesem Fall zu argumentieren, dass die beanspruchte Struktur eine bloße Alternative sei.
27. Das einzige Dokument (D4), das eine separate Rückhalteeinrichtung offenbart, wurde nur in Bezug auf die Gestaltung der Schutzschicht erwähnt. Zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens argumentierte die Einsprechende, dass die Fachperson die Lehre von D4 in Betracht gezogen hätte, um eine diskrete Rückhalteeinrichtung bereitzustellen. Tatsächlich hätte die Fachperson, ausgehend von D14, keinen Grund, die veraltete Technologie von D4 auf das System von D14 anzuwenden. Wie die Patentinhaberin betonte,
betrifft D14 den damals allerneuesten Stand der Technik und bezieht sich auf das Konzept eines "ex-vessel core catcher". Die veraltete Lehre von D4 ist nicht mit dem neuesten Sicherheitskonzept von D14 vereinbar.
28. Infolgedessen kann es nicht als naheliegend angesehen werden, die Anordnung von D14 so zu modifizieren, dass eine eigenständige Rückhalteeinrichtung mit einem äußeren Mantel bereitgestellt wird. Ob die übrigen Unterscheidungsmerkmale offensichtlich sind oder nicht, kann daher offen gelassen werden.
29. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.
30. Da bereits dem Hauptantrag der Patentinhaberin stattgegeben werden kann, sind die Hilfsanträge gegenstandslos. Es besteht daher kein Anlass, über die Zulässigkeit der Dokumente D15 bis D20 zu entscheiden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
Das Patent wird in erteilter Form aufrechterhalten.