T 2319/14 18-02-2020
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Verfahren zur kontinuierlichen Herstellung von Nitrobenzol
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Vergleichsversuche
Erfinderische Tätigkeit - unerwartete Verbesserung (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Bonuseffekt (nein)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent EP 2 168 942 unter Artikel 101(2) EPÜ zu widerrufen.
II. Im Einspruchsverfahren war das Patent unter Artikel 100(a) und 100(b) EPÜ wegen mangelnder Neuheit, mangelnder erfinderischer Tätigkeit und mangelnder Ausführbarkeit angegriffen worden.
Dabei wurde unter anderem auf die folgenden Dokumente verwiesen:
D8a: EP 1 272 268 B1
D9: EP 0 708 076 B1
D13: EP 1 291 078 A2
D17: US 5,313,009
III. In ihrer Entscheidung hielt die Einspruchsabteilung die Erfordernisse der Ausführbarkeit (Artikel 83 EPÜ) und Neuheit (Artikel 54 EPÜ) für erfüllt. Sie kam jedoch zu dem Schluss, dass das beanspruchte Verfahren ausgehend von D8a nahegelegt sei (Artikel 56 EPÜ) und widerrief das Patent.
IV. Der unabhängige Anspruch des Patents, der auch der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegt, lautet wie folgt:
"Verfahren zur kontinuierlichen Herstellung von Nitrobenzol durch Nitrierung von Benzol mit Mischsäure in einem Reaktionsraum, bei dem Benzol und die Mischsäure mehrmals ineinander dispergiert werden, dadurch gekennzeichnet, dass
a) die eingesetzte Mischsäure mindestens 3,0 Gew.% Salpetersäure und mindestens 67,0 Gew.% Schwefelsäure, jeweils bezogen auf das Gewicht der Mischsäure, enthält, und
b) die Starttemperatur der Reaktion über 100,0°C, aber unter 102,0°C liegt, und
c) die nach der ersten Dispergierung erhaltene Emulsion aus Mischsäure und Benzol mindestens 4 mal redispergiert wird, bevor der Salpetersäureumsatz 60% beträgt, und
d) innerhalb der ersten 13 Vol.% des Reaktionsraums nach der ersten Dispergierung mindestens 60% der eingesetzten Salpetersäure umgesetzt sind."
V. In ihrer Beschwerdebegründung, und im weiteren Verfahren, brachte die Beschwerdeführerin im wesentlichen vor, das Verfahren sei ausgehend von D8a nicht nahegelegt. Durch die beanspruchte Merkmalskombination, und hier insbesondere durch die Wahl der Starttemperatur des Verfahrens, werde eine unerwartete Verbesserung des Reaktionsumsatzes erzielt. Neuheit und Ausführbarkeit seien von der Einspruchsabteilung zurecht bejaht worden.
VI. In der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung, und im weiteren Verfahren, brachte die Beschwerdegegnerin im wesentlichen vor, erfinderische Tätigkeit sei von der Einspruchsabteilung zurecht verneint worden. Eine durch unterscheidende Merkmale verursachte Verbesserung des Verfahrens sei nicht belegt, und selbst wenn, so sei dies ein Bonus einer aus D8a, möglicherweise auch in Kombination mit weiteren Dokumenten, nahegelegten Verfahrensweise. Im übrigen sei das beanspruchte Verfahren gegenüber D8a nicht einmal neu, und es offenbare dem Fachmann nicht die zu dessen Ausführung notwendigen Angaben.
VII. Anträge
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des mit Schreiben vom 16. Dezember 2015 eingereichten Hilfsantrags 1.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
VIII. Am 18. Februar 2020 fand eine mündliche Verhandlung statt. Am Ende der Verhandlung wurde die Entscheidung verkündet.
1. Die Beschwerde ist zulässig
Hauptantrag
2. Ausführbarkeit (Artikel 83 EPÜ)
2.1 Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin ist das beanspruchte Verfahren nicht ausreichend offenbart. Im Einzelnen bemängelt sie folgende Punkte:
a) Merkmale c) und d) des Verfahrens, i. e. die Anzahl der Redispersionen der Reaktionsmischung vor dem Erreichen von 60% Umsatz an Salpetersäure bzw. der Umsatz von mindestens 60% der Salpetersäure innerhalb der ersten 13% des Reaktionsraums seien Desiderata, für die das Patent keine konkret ausführbare Lehre offenbare.
b) Die geforderte Raum-Zeit-Ausbeute definiere ebenfalls nur das zu erreichende Ergebnis.
c) Die verschiedenen Prozentangaben in den Ansprüchen seien unklar (Gewichtsprozent, Volumenprozent, Prozent des Reaktionsraums etc.), was nach der Rechtsprechung der Kammern auch zu einem Mangel an Ausführbarkeit führe; T 464/05 und T 593/09 und werden dazu angeführt.
d) Das Patent enthalte keine Angabe, wie und wo die beanspruchte Starttemperatur zu bestimmen sei. Auf T 923/13 wurde verwiesen.
e) Die Ausführungsbeispiele seien hinsichtlich der erzielten Ergebnisse widersprüchlich.
2.2 Die Einspruchsabteilung hielt die Argumente der Beschwerdegegnerin nicht für überzeugend (Punkt 2 der Entscheidungsgründe).
Die Kammer schließt sich der Ansicht der Einspruchsabteilung an. Es liegen keine Gründe vor, die einen Fachmann daran hindern würden, das beanspruchte Verfahren zur Nitrierung von Benzol ausführen zu können. Zu den vorgebrachten Gründen im Einzelnen:
a) Wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, enthält das Patent in Absätzen [0030] bis [0032] Anleitungen, wie das Verfahren apparativ umzusetzen ist, um die angegebenen Verfahrensparameter zu erzielen. Verwendbare Apparaturen sind dort aufgelistet. Selbst wenn in den Ausführungsbeispielen kein detaillierter Reaktor beschrieben ist, so sind doch die Anzahl der Dispergierelemente und deren Anordnung angegeben.
b) Eine bestimmte Raum-Zeit-Ausbeute ist nicht in den Ansprüchen definiert und muss daher auch nicht erreicht werden, um Artikel 83 EPÜ zu genügen. Im übrigen ist in den Ausführungsbeispielen gezeigt, wie eine solche Ausbeute zu erreichen ist.
c) Prozentuale Angaben des Gewichts, Volumens, Reaktorvolumens, Umsatzes etc. sind gebräuchliche Begriffe, deren Bedeutung der Fachmann kennt. Im übrigen führt eine eventuelle Unschärfe in der Bestimmung des Anspruchsbereichs nicht automatisch zu mangelnder Offenbarung der Erfindung, wie die von der Beschwerdegegnerin selbst zitierte Entscheidung T 593/09 verdeutlicht. Betreffend die zitierte Entscheidung T 464/05 wird darauf hingewiesen, dass nach neuerer Rechtsprechung (e. g. T 1811/13) eine Unschärfe in den Grenzen des Anspruchs nicht als Problem der mangelnden Ausführbarkeit angesehen werden kann.
d) Der Begriff "Starttemperatur" wird dem Fachmann erklärt, vgl. Absatz [0010] der Beschreibung. Der Ort der Temperaturmessung wird dort angegeben, nämlich unmittelbar nach der Eindosierung des Benzols in die Mischsäure vor der ersten Dispergierung. Methoden zur Messung der Temperatur sind dem Fachmann ebenfalls geläufig. Es wurde zwar behauptet, diese Temperatur ließe sich nicht mit der erforderlichen Genauigkeit bestimmen, dazu wurden aber keine Belege eingereicht. Die angeführte Entscheidung T 923/13 beschäftigte sich mit der Frage, ob ein normalerweise zugänglicher Parameter eines Polymers in einem bestimmten Endprodukt noch bestimmt werden kann. Diese Frage ist aber vorliegend nicht relevant.
e) Etwaige Widersprüche in den Ergebnissen der Beispiele (Ausbeuten etc.) sind für die Frage der Ausführbarkeit des Verfahrens unerheblich. Die Nitrierung an sich ist ja in der beanspruchten Weise durchführbar.
3. Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
3.1 In der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, das beanspruchte Verfahren sei gegenüber D8a neu (Punkt 3 der Entscheidungsgründe). Insbesondere das Merkmal (b) des Anspruchs, i. e. die Starttemperatur des Verfahrens, sei in D8a nicht offenbart.
Die Kammer schließt sich dieser Ansicht an, auch unter Berücksichtigung der von der Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Argumente. Die Gründe hierfür sind im Folgenden ausgeführt.
3.2 Das Ausführungsbeispiel der D8a offenbart die anspruchsgemäßen Merkmale (c) und (d), aber nicht (a) und (b). Dies war unstrittig. Die Konzentration der Schwefelsäure liegt unter dem beanspruchten Bereich. Zudem ist die Starttemperatur nicht explizit angegeben, die zu vermischenden Säuren werden aber bei 95°C bzw. 60°C vorgelegt, so dass die Starttemperatur deutlich unter 100°C liegen dürfte. Dies wurde von den Parteien in der mündlichen Verhandlung bestätigt; dort wurde von einer Temperatur von etwas über 90°C ausgegangen.
3.3 Die Frage ist nun, ob, wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt, eine Kombination des Ausführungsbeispiels mit Merkmalen aus dem allgemeinen Teil der Beschreibung möglich ist, um zu einer neuheitsschädlichen Offenbarung zu gelangen.
3.3.1 Die Beschwerdegegnerin war der Ansicht, die Temperaturangabe "preferably 60-100°C" in Absatz [0040] von D8a überlappe mit dem beanspruchten Bereich. Im gleichen Absatz werde auch das vorherige Mischen der Reaktionsteilnehmer genannt. Eine Auswahl des Temperaturbereichs liege auch nicht vor, weil zum offenbarten Punkt 100°C kein Abstand eingehalten wurde. Anspruchsgemäße Konzentrationen der verwendeten Säuren seien in Absatz [0039] beschrieben.
Im Sinne eines "whole content approach" sei das beanspruchte Verfahren daher in D8a vorbeschrieben. Dabei wurde auf entsprechende Rechtsprechung der Kammern verwiesen (Rechtsprechung, 9. Auflage 2019, I.C.4.1. "Allgemeine Auslegungsregeln").
Des weiteren sei es auch möglich, aus den in D8a in Absatz [0041] ("preferably 120° to 150°C") und im Ausführungsbeispiel ("135°C") offenbarten Endtemperaturen unter Berücksichtigung der verschiedenen Konzentrationen der Säuren auf die verwendeten Starttemperaturen rückzuschließen.
3.3.2 Die Kammer bestreitet nicht, dass ein Dokument als Ganzes gelesen werden muss und daher im Einzelfall möglicherweise allgemein offenbarte Merkmale mit Merkmalen aus den Beispielen kombiniert werden können.
Dies ist vorliegend aber nicht die entscheidende Frage, denn selbst eine solche Kombination führt zu keiner direkten und unmittelbaren Offenbarung, die unter die Ansprüche des Streitpatents fiele.
3.3.3 Die Angaben in Absatz [0040] beziehen sich auf die Temperatur der Reaktanden vor dem Vermischen, nicht auf die hier definierte Starttemperatur der Reaktion. Des weiteren beziehen sich diese Angaben auf Nitrierungsreaktionen allgemein, und nicht speziell auf die Mononitrierung von Benzol. Ebenfalls würde eine Starttemperatur im beanspruchten Bereich nur erreicht, wenn alle Reaktanden auf 99-100°C erhitzt werden. Die auf Seite 25 der Eingabe der Beschwerdegegnerin vom 25. Juni 2015 vorgestellte Berechnung der Starttemperatur aus den bevorzugten Konzentrationsangaben in Absatz [0039] der D8a benötigt diese zusätzliche Annahme, die in D8a aber so nicht offenbart ist.
Zudem ist es nach Ansicht der Kammer nicht ohne weiteres möglich, die von der Beschwerdegegnerin aus dem Ausführungsbeispiel der D8a errechneten Parameter für (c) und (d) mit der Temperaturangabe in Absatz [0040] zu kombinieren. Wie von der Beschwerdeführerin angeführt, hängen diese Umsatzparameter, insbesondere der Parameter (d), nicht nur von der Reaktorgeometrie und den Durchflussraten ab, sondern auch von der Starttemperatur, die im Ausführungsbeispiel nicht den vorliegend beanspruchten Werten entspricht. Es ist daher gar nicht klar, ob bei einer eventuellen Einstellung der Starttemperatur im Intervall von 100°C bis 102°C im Beispiel die Umsatzparameter im Bereich des Anspruchs blieben.
3.3.4 Der Verweis der Beschwerdegegnerin auf die Rechtsprechung für Auswahlerfindungen geht auch deshalb ins Leere, weil es sich vorliegend nicht um eine eindimensionale Auswahl des Temperaturbereichs von 100°C bis 102°C aus der Angabe "50 to 120°C, preferably 60-100°C" der D8a handelt. Wie vorstehend ausgeführt, findet sich in Absatz [0040] keine spezifische Offenbarung einer Mononitrierung von Benzol. Zudem findet sich auch keine spezifische Offenbarung, die dem Punkt "100°C Starttemperatur" entspräche, und von dem ein Abstand einzuhalten wäre, denn dazu müssten, wie oben ausgeführt, alle Reaktanden auf diese Temperatur erhitzt werden. Dies ist jedoch in D8a nicht direkt beschrieben.
3.3.5 Eine Rückrechnung der Starttemperatur aus der Endtemperatur, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, führt ebenfalls nicht zu einem anspruchsgemäßen Verfahren. Aus den allgemeinen Angaben in Absatz [0041] lässt sich keine spezifische Starttemperatur einer spezifischen Reaktion errechnen, ohne dass zusätzliche, nicht direkt offenbarte Annahmen, etwa zu Konzentrationen der Reaktanden, gemacht werden. Im Ausführungsbeispiel muss, wie oben ausgeführt, von einer Starttemperatur von etwas über 90°C ausgegangen werden, so dass eine Rückrechnung ohnehin zwecklos ist.
3.4 Zusammenfassend ist also festzustellen, dass das Dokument D8a keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung eines anspruchsgemäßen Verfahrens enthält.
Insbesondere die in Merkmal (b) verlangte Starttemperatur ist dort nicht in einem dem Anspruch entsprechenden Verfahren offenbart.
4. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
Der Ansicht der Einspruchsabteilung, das beanspruchte Verfahren sei dem Fachmann aus dem Stand der Technik nahegelegt, folgt die Kammer nicht. Die Gründe hierfür sind im Folgenden ausgeführt.
4.1 Nächster Stand der Technik
Die Ansprüche richten sich auf ein kontinuierliches Verfahren zur Herstellung von Nitrobenzol durch Nitrierung von Benzol mit Mischsäure. Nächster Stand der Technik ist unbestritten D8a.
D8a offenbart im Ausführungsbeispiel ein Verfahren, von dem sich das vorliegend beanspruchte Verfahren zumindest durch die höhere Starttemperatur unterscheidet.
4.2 Aufgabe
Gemäß Absatz [0023] des Patents war es Ziel der Erfindung, ein Verfahren bereit zu stellen, das bei einer hohen Raum-Zeit-Ausbeute eine zufriedenstellende Produktqualität gewährleistet.
Ausgehend von D8a wird die technische Aufgabe formuliert, ein verbessertes solches Verfahren bereit zu stellen.
4.3 Beanspruchte Lösung der Aufgabe
Das beanspruchte Verfahren zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass bei einer Starttemperatur der Reaktion von 100°-102°C gearbeitet wird. Dadurch wird bei zumindest gleichbleibender Produktqualität ein höherer Umsatz erreicht.
Die Formulierung der Aufgabenstellung und der beanspruchten Lösung war zwischen den Parteien unstrittig. Strittig hingegen war, ob diese Aufgabe auch gelöst wurde. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen.
4.3.1 In der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass diese Aufgabe nicht gelöst wurde. Es sei kein durch die Erhöhung der Starttemperatur bedingter Effekt bewiesen worden.
Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, aus dem Vergleich des Vergleichsbeispiels 2 mit dem erfindungsgemäßen Beispiel 3 in Tabelle 1 des Patents 2 könne nicht geschlossen werden, dass die Erhöhung der Starttemperatur zu einer Erhöhung des Umsatzes der Reaktion führe. Es ergebe sich zwar ein erhöhter Salpetersäureumsatz im erfindungsgemäßen Beispiel 3 im Vergleich zum Vergleichsbeispiel 2. Allerdings gehe aus dieser Tabelle auch hervor, dass dieser erhöhte Umsatz im erfindungsgemäßen Beispiel 3 im Vergleich zum Vergleichsbeispiel 2 bei einem geringeren Temperaturanstieg zwischen Start-und Endtemperatur erzielt werde, obwohl eigentlich das Gegenteil zu erwarten sei. Da laut Absatz [0040] des Patents der Temperaturanstieg mit dem Umsatz an Salpetersäure korreliert, seien aufgrund dieser Unstimmigkeit nach Ansicht der Einspruchsabteilung die Vergleichsdaten nicht glaubwürdig und eine Verbesserung des Verfahrens daher nicht erwiesen.
Die Beschwerdegegnerin schloss sich dieser Ansicht an.
4.3.2 Die Kammer stellt zunächst fest, dass aus Tabelle 1 tatsächlich hervorgeht, dass der Salpetersäureumsatz in Beispiel 3 höher ist als in Beispiel 2. Die Menge der gebildeten Nebenprodukte bleibt dabei im wesentlichen konstant, der Anteil der explosiven Pikrinsäure an den Nebenprodukten geht um ein Drittel zurück. Da die Starttemperatur der einzige Unterschied in der Verfahrensweise ist, muss die Erhöhung des Umsatzes darauf zurückgeführt werden.
Die Kammer kann sich der Begründung in der Einspruchsentscheidung nicht anschließen. Es ist zwar richtig, dass die Beschreibung in den Beispielen in Absatz [0040] angibt, der Temperaturanstieg diene zur Berechnung der Umsätze. Allerdings bezieht sich Absatz [0040] nur auf die Berechnung der Zwischenumsätze; die Endumsätze wurden nach Angabe der Beschwerdeführerin gemessen und nicht berechnet. Die Endumsätze sind tabelliert und daher zunächst so zur Kenntnis zu nehmen. Die Kammer hat keinen Grund, die tabellierten Werte anzuzweifeln. Die Beschwerdegegnerin hat ihrerseits keine Versuche durchgeführt, die derartige Zweifel bestätigen könnten.
4.3.3 Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin ist der im Patent gemachte Vergleich unzulässig. Vergleichsversuche müssten immer mit dem nächsten Stand der Technik erfolgen, in diesem Falle mit Beispiel der D8a. Sie verwies dabei auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, etwa auf T 197/86. Intrinsische Vergleichsversuche seien nicht erlaubt. Ein aussagekräftiger Vergleich mit dem Beispiel aus D8a sei nicht gemacht worden. Vergleiche man die Beispiele trotzdem miteinander, so sei klar, dass im vorliegenden Patent die Menge der gebildeten Nebenprodukte trotz höherer Temperatur deutlich ansteige.
Die Kammer kann dem nicht beipflichten. Es ist richtig, dass gemäß ständiger Rechsprechung der Beschwerdekammern Vergleichsversuche mit dem Stand der Technik dergestalt ausgeführt werden müssen, dass ein Effekt auf das unterscheidende Merkmal zurückgeführt werden kann. Allerdings ist es dazu ebenfalls erlaubt und kann sogar geboten sein, Ausführungsformen aus dem Stand der Technik so an die Erfindung anzunähern, dass sie sich nur durch das den Anspruch abgrenzende Merkmal unterscheiden (Rechtsprechung, 9. Auflage 2019, I.D.10.9). Genau dies wird in der von der Beschwerdegegnerin angeführten Entscheidung T 197/86 ausgeführt. Es wäre im vorliegenden Fall nicht zielführend, Vergleichstests durchzuführen, bei denen jeweils in einer anderen Apparatur gearbeitet wird. In so einem Fall könnte ja gerade keine Aussage über den Effekt der Temperatur gemacht werden. Es ist daher zulässig, einen solchen Effekt entweder mit dem Versuchsaufbau der D8a, oder mit demjenigen des Streitpatents zu zeigen; beide Möglichkeiten sind gleichwertig.
4.3.4 Weiterhin war die Beschwerdegegnerin der Ansicht, der gemessene punktuelle Effekt könne nicht auf alle Arten von Apparaturen verallgemeinert werden. Ein Effekt sei daher nicht über die gesamte Anspruchsbreite nachgewiesen. Es sei ja zumindest offensichtlich, dass im Vergleich zum Ausführungsbeispiel der D8a eine Erhöhung der Starttemperatur die Menge der Nebenprodukte erhöhe, und also keine Verbesserung bringe.
Nach Ansicht der Kammer verkennt eine solche Betrachtungsweise jedoch das Wesen von unterscheidenden Merkmalen und Vergleichstests. Durch den gemachten Vergleichstest ist gezeigt, dass eine Erhöhung der Starttemperatur bei sonst gleichen Versuchsbedingungen zu einem erhöhten Umsatz führt. Es ist damit, bis zum Beweis des Gegenteils, glaubhaft, dass dieses Merkmal auch in anderen Apparaturen oder bei anderen geänderten Reaktionsparametern zu einem solchen Effekt führt, solange diese jeweils konstant gehalten werden. Daher ist das unterscheidende Merkmal des Anspruchs in seiner gesamten Breite durch den Vergleichstest gestützt. Es ist nicht verlangt, dass jede beliebige unter den Anspruch fallende Reaktion zu einem höheren Umsatz bei gleichbleibender Menge von Nebenprodukten führt als jede beliebige Reaktion mit niedrigerer Starttemperatur (wie etwa das Ausführungsbeispiel der D8a).
Um zu zeigen, dass der gemessene Effekt nicht über die gesamten Anspruchsbreite eintritt, stand es der Beschwerdegegnerin ja frei, mittels der Apparatur etwa der D8a oder einer eigenen Versuchsanordnung, eine Reaktion, die den weiteren Anspruchsmerkmalen genügt, auf den Effekt der Starttemperatur hin zu untersuchen. Eine bloße Behauptung hingegen kann die Glaubhaftigkeit des von der Beschwerdeführerin gemessenen Effekts nicht erschüttern.
4.3.5 Auch die weiteren von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu überzeugen.
Es wurde vorgebracht, die Beispiele des Patents seien eine Art Black Box und nicht nachvollziehbar, da die genaue Ausgestaltung der Apparatur nicht offenbart sei. Allerdings geben die Beispiele an, dass es sich um einen Rohrreaktor mit Tantaleinbauten handelt, derartige Reaktoren sind bekannt (siehe Absätze [0031] und [0032]). Ebenfalls ist angegeben, dass in Beispiel 2 und Beispiel 3 mit derselben Apparatur gearbeitet wird. Dieses Argument vermag daher die Aussagekraft der Vergleichsversuche nicht zu erschüttern.
Weiterhin wurde vorgebracht, ein Effekt der Starttemperatur sei nicht erwiesen, da ja Vergleichsbeispiel 1 bei gleicher Starttemperatur arbeite wie das erfindungsgemäße Beispiel 3, aber niedrigere Umsätze zeigt. Allerdings ist in Vergleichsbeispiel 1 die Anzahl der Dispergierelemente geringer und daher Merkmal (c) des Anspruchs nicht erfüllt. Die Beschwerdeführerin behauptet ja nicht, die Temperatur sei das einzige Merkmal, das einen Effekt auf den Reaktionsumsatz hat. Dieses Argument vermag daher die Aussagekraft der Vergleichsversuche ebenfalls nicht zu erschüttern.
4.3.6 Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass die oben definierte technische Aufgabe durch das beanspruchte Verfahren gelöst wurde.
4.4 Naheliegen der Lösung
Es bleibt zu entscheiden, ob es für den Fachmann ausgehend von D8a naheliegend war, zur Verbesserung des Verfahrens Starttemperaturen von 100°-102°C zu wählen.
4.4.1 D8a offenbart, dass allgemein die Reaktanden vor dem Vermischen auf eine Temperatur von 50°-120°C, vorzugsweise 60°-100°C erhitzt werden (Absatz [0040]).
Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin gab es für den Fachmann keinerlei Grund, die Reaktion ausgerechnet nicht in dem vom Streitpatent ausgewählten Temperaturbereich durchzuführen. Ein eventueller dabei erzielter Effekt sei unerheblich, da er als Konsequenz der Ausübung der Lehre der D8a automatisch auftrete. Auf die Rechtsprechung bezüglich sogenannter Bonuseffekte wurde hingewiesen (Rechtsprechung, 9. Auflage 2016, I.D.10.8).
Die Kammer folgt dieser Argumentation nicht. Es gibt in D8a keinen Hinweis darauf, dass mit einer Starttemperatur von 100°-102°C verbesserte Umsätze zu erzielen sind. Im Ausführungsbeispiel beträgt diese Temperatur etwa 90°C. Es ist in D8a nicht beschrieben, dass die Auswahl einer bestimmten Starttemperatur mit irgendwelchen Vorteilen verbunden ist. Der in Absatz [0040] bevorzugte Bereich liegt außerhalb des Anspruchs und ist zudem nicht einmal spezifisch für die beanspruchte Reaktion offenbart. Es handelt sich hier auch nicht um einen Bonuseffekt. Ein solcher Bonuseffekt würde ja voraussetzen, dass der Fachmann in D8a einen Hinweis darauf erhielte, schon aus anderen Gründen in dem beanspruchten Bereich zu arbeiten. So ein Hinweis existiert aber nicht. Es wurde im Gegenteil hier ein spezifischer Temperaturbereich ausgewählt, der mit einer vorteilhaften Verfahrensführung verbunden ist.
4.4.2 Kombination mit Dokumenten
Die Beschwerdegegnerin hat auch vorgebracht, eine Kombination mit den Dokumenten D9, D13 und D17 führe den Fachmann zum beanspruchten Verfahren. Insbesondere offenbare D9 eine Starttemperatur von 100° bis 130°C und D17 von 100° bis 120°C.
Dies kann jedoch nicht überzeugen. Wie von der Beschwerdeführerin richtigerweise angeführt, beschäftigt sich D9 mit der Dinitrierung aromatischer Verbindungen, nicht mit Mononitrierungen. In D17 wird als kritisches Merkmal herausgestellt, dass die Konzentration der Schwefelsäure unter 3% liegt (siehe Spalte 3, Zeilen 5ff), was vorliegend nicht der Fall ist. D13 beschäftigt sich mit der Ausgestaltung von Rohrreaktoren und offenbart überhaupt keine Starttemperaturen für Nitrierungsverfahren.
4.5 Das beanspruchte Verfahren ist daher eine nicht naheliegende Lösung des technischen Problems, ausgehend von D8a ein verbessertes Verfahren zur Mononitrierung von Benzol zur Verfügung zu stellen.
5. Insgesamt steht daher keiner der vorgebrachten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegen (Artikel 101(2) EPÜ). Auf den eingereichten Hilfsantrag braucht somit nicht eingegangen zu werden.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Einspruch wird zurückgewiesen.