T 0135/16 15-05-2019
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Kolbenring
Einspruchsgründe - neuer Einspruchsgrund (nicht zugelassen)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die am 17. November 2015 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 499 402 zurückzuweisen.
II. Der Einspruch ist gegen das Streitpatent in vollem Umfang eingelegt worden und mit den Einspruchsgründen nach Artikel 100 a) EPÜ (fehlende Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) begründet worden.
III. Am 15. Mai 2019 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent Nr. 2 499 402 zu widerrufen.
V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der mit der Beschwerdeerwiderung vom 29. Juni 2016 als Hilfsanträge 1 und 2 eingereichten Anspruchssätze aufrecht zu erhalten.
VI. Auf folgende Dokumente wurde Bezug genommen:
E1: DE 198 25 860 A1;
E2: JP 2001-295699 A mit maschineller Übersetzung vom 15. März 2019;
E3: JP 02161156 A;
E7: "Laufflächenverschleißschutzschichten PVD-Schichten", Auszug aus "Kolbenringhandbuch" (Onlineausgabe), Federal-Mogul Burscheid GmbH und Federal Mogul Corporation, 2008.
VII. Anspruch 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet mit durch die Kammer in eckige Klammern gesetzter Merkmalsgliederung wie folgt:
"Kolbenring [1], insbesondere Kompressionskolbenring, beinhaltend eine Lauffläche (2) [1.1], obere und untere Flankenbereiche (4) [1.2], eine innere Umfangsfläche (3) [1.3] sowie einen Stoß (5) [1.4], wobei die Wanddicke (D) des Kolbenrings (1), über seinen Umfang gesehen, gleich ausgebildet [1.5] und zumindest die Lauffläche (2) mit einer einzelnen PVD- oder CVD-Schicht (6) versehen ist [1.6], dadurch gekennzeichnet, dass die Laufflächenschicht (6) in den stoßnahen Umfangsbereichen (7, 8) ausgehend von einer jeweiligen Stoßkante (9, 10) des Stoßes (5) bis zu einem Umfangswinkel (alpha) < 20° [1.7] eine höhere Rauheit als im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche (2) [1.7.1], und eine geringere Schichtstärke (s') als die Schichtstärke (s) im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche (2) aufweist [1.7.2]."
Der weitere unabhängige Anspruch 6 hat folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Herstellung eines Kolbenrings, umfassend:
Bereitstellen eines Kolbenrings, insbesondere Kompressionskolbenring, beinhaltend eine Lauffläche (2), obere und untere Flankenbereiche (4), eine innere Umfangsfläche (3) sowie einen Stoß (5), wobei die Wanddicke (D) des Kolbenrings (1), über seinen Umfang gesehen, gleich ausgebildet ist; Beschichten zumindest der Lauffläche (2) mit einer einzelnen PVD- oder CVD Schicht (6), so dass die Laufflächenschicht (6) in den stoßnahen Umfangsbereichen (7, 8) ausgehend von einer jeweiligen Stoßkante (9, 10) des Stoßes (5) bis zu einem Umfangswinkel (alpha) < 20° eine geringere Schichtstärke (s') als die Schichtstärke (s) im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche (2) aufweist; und Umfangsbearbeiten der Lauffläche (2), so dass die Laufflächenschicht (6) im übrigen Umfangsbereich eine geringere Rauheit als in den stoßnahen Umfangsbereichen (7, 8) erhält."
VIII. Die Beschwerdeführerin hat im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
Neuer Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit
Das Streitpatent nenne die Erhöhung des Ölspeichervermögens als technische Wirkung der Erfindung, insbesondere des Merkmals, dass die Laufflächenschicht in den stoßnahen Umfangsbereichen eine höhere Rauheit aufweise als in den übrigen Umfangsbereichen. Das Ölspeichervermögen hänge jedoch nicht nur von der Rauheit der Kolbenringoberfläche ab, sondern auch davon, ob die Rillen in diesem Bereich des Kolbenringes in Umfangsrichtung oder axial orientiert seien. Zudem seien für die Rauheiten in den genannten Oberflächenbereichen bzw. die Rauheitsdifferenz im Anspruch keine Zahlenwerte genannt. In der Beschreibung seien zwar Rauigkeitswerte angegeben, jedoch fehle es an einem Hinweis, wie diese bestimmt worden seien. Angesichts dieser Defizite könne die Erfindung die gestellte Aufgabe nicht im gesamten beanspruchten Bereich lösen. Sie sei deshalb nicht über den gesamten beanspruchten Bereich ausführbar offenbart.
Erfinderische Tätigkeit
Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit sei vom Dokument E2, insbesondere den Figuren 1 bis 4, auszugehen. Diese zeigten einen Kolbenring mit einer PVD-Schicht (20), auf die außen eine Schutzschicht (30) aufgebracht sei. Während der Einlaufphase werde die Schutzschicht an den Stoßenden stärker verschlissen als in den übrigen Bereichen, weshalb sie am Ende des Einlaufens zu den Stoßenden hin stärker verjüngt sei (vgl. E2, Figur 3). Im Ergebnis führe dies zu einer über den gesamten Außenumfang gleichen Andruckkraft der Ringaußenseite gegenüber der Zylinderinnenseite. Zu der im Streitpatent genannten technischen Wirkung eines verbesserten Ölspeichervermögens sei festzustellen, dass diese nicht nur von der Rauheit der Kolbenringoberfläche abhänge, sondern auch davon, ob die Rillen in diesem Bereich des Kolbenringes in Umfangsrichtung oder axial orientiert seien. Da das Streitpatent im Anspruch aber hinsichtlich dieser Einflussfaktoren nur auf einen nicht quantifizierten Rauheitsunterschied abstelle, werde die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte technische Wirkung nicht für alle unter den Anspruch fallenden Ausführungen erreicht. Sie könne daher nicht für die Formulierung der zu lösenden technischen Aufgabe herangezogen werden. Diese könne nur darin bestehen, die Herstellung der Vorrichtung nach Anspruch 1 zu vereinfachen, was immer ein Bestreben des Fachmannes sei. Es sei für einen Fachmann eine triviale Erkenntnis, dass diese wünschenswerten ortsunabhängig gleichen Andruckkräfte auch dann erreicht werden könnten, wenn die Laufflächenbeschichtung eines Kolbenringes bereits bei dessen Herstellung mit einer zu den Stoßenden hin abnehmenden Dicke erzeugt werde, so dass auf die Einlaufphase verzichtet werden könne. In diesem Zusammenhang seien Beschichtungsverfahren wie CVD- oder PVD-Verfahren aus Sicht eines Fachmanns besonders bevorzugt, weil sie die Möglichkeit böten, die Beschichtungsdicke ortsabhängig zu steuern. Aus dem Dokument E7 gehe hervor, dass die CVD- oder PVD-Schicht auch ohne Schutzschicht nicht rissig werde oder abblättern würde. Die Zusammenfassung des Dokuments E7 weise in Zusammenhang mit PVD-Schichten auch auf ein gutes Einlaufverhalten sowie einen reduzierten Zylinderverschleiß hin. Die Zusammenfassung des Dokuments E1 hebe das gute Verschleißverhalten derartiger Schichten hervor. Im Ergebnis könne auf diese Weise ein Kolbenring hergestellt werden, der von Anfang an überall ideal gleiche Andruckkräfte aufweise. Würde der Fachmann so vorgehen und im Dokument E2 die äußerste Schicht, d.h. die Laufflächenschicht (30), im Stoßbereich von vornherein dünner ausbilden, würde dies zudem dazu führen, dass die Rauigkeiten der äußeren Schicht (30) in dem (stoßnahen) Bereich, in welchem diese dünner ausgebildet sei, größer sei als in den sonstigen (stoßfernen) Bereichen, da die Rauigkeiten der zugrunde liegenden Schicht (20) dort durch die größere Schichtdicke der äußeren Schicht ausgeglichen werde. Dies gehe auch aus dem Dokument E1 hervor (vgl. Spalte 4, Zeilen 15 bis 35). Somit werde bei Verwirklichung der Merkmale 1 bis 1.7 und 1.7.2 zwangsläufig auch das Merkmal 1.7.1 verwirklicht. Es habe folglich keinerlei erfinderischer Tätigkeit bedurft, um ausgehend vom Dokument E2 zu einem Kolbenring nach Anspruch 1 und zu einem Verfahren nach Anspruch 6 zu gelangen.
IX. Der Vortrag der Beschwerdegegnerin im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung war im Wesentlichen wie folgt:
Neuer Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit
Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ sei erstmals im Beschwerdeverfahren genannt worden. Die Patentinhaberin stimme seiner Einführung in das Verfahren nicht zu.
Erfinderische Tätigkeit
Das nächstkommende Dokument E2 lehre das Gegenteil der Erfindung, nämlich einen Ring herzustellen, bei dem im stoßnahen Umfangsbereich eine äußere Einlaufschicht (30), also nicht die PVD-Schicht (20), eine erhöhte Schichtdicke aufweise, siehe Figur 1 der Druckschrift E2. Beim Merkmal der unterschiedlichen Rauheit sei zu beachten, dass das Streitpatent konkrete Zahlenwerte und Herstellungsverfahren offenbare; zudem sei der beanspruchte Rauigkeitsunterschied am fertigen Kolbenring feststellbar. Die Tatsache, dass eine größere Rauigkeit an der Kolbenringoberfläche auch bei axialen Rillen mehr Volumen für eine Öleinlagerung biete und so ein größeres Ölspeichervermögen bewirke, könne nicht bestritten werden. Auch gebe es keinen Anlass zu der Annahme, dass eine geringere Schichtdicke zwangsläufig zu einer größeren Rauheit führen würde. Die Rauheit unbearbeiteter Schichten hänge unter anderem vom Auftragsverfahren ab und nur in Extremfällen (sehr unebene Unterlage im Vergleich zur Beschichtungsdimension) könne die Rauheit im Bereich der Rauheit der Unterlage liegen. Daraus könne aber keinesfalls geschlossen werden, dass das grundsätzlich bei jedem Schichtdickenunterschied passiere und dann gerade im Stoßbereich eine andere Rauheit vorliegen würde. Der Fachmann würde auch nicht, wie die Beschwerdeführerin behaupte, die ursprüngliche Ringform an den Ring "nach der Einlaufphase" anpassen. Es sei technisch nicht möglich, die Einlaufphase zu überspringen; diese Phase entstehe ja gerade dadurch, dass ein Ring nicht exakt und ohne Toleranzen an die Verhältnisse im anliegenden Kolben angepasst werden könne, sondern zwangsläufig erst ein Einschleifen der gegeneinander anliegenden Flächen im Betriebszustand erfahre. Außerdem führe auch die Druckschrift E2 aus, dass eine Einlaufschicht notwendig sei, da sonst die PVD-Laufflächenschicht beschädigt werde. Die Druckschrift E2 habe für die Einlaufphase eine völlig andere Lösung gefunden als die Erfindung, nämlich das Aufbringen einer weichen zweiten Schicht, die im Stoßbereich dicker ausgestaltet sei. Der Fachmann finde davon ausgehend im vorgelegten Stand der Technik nichts, was die Merkmale 1.7 bis 1.7.2 als alternative Lösung nahelegen würde. Aus diesen Gründen beruhten die Ansprüche 1 und 6 gegenüber dem Stand der Technik auf einer erfinderischen Tätigkeit.
1. Neuer Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit
Im Einspruchverfahren hat die Einspruchsabteilung nur über die von der Beschwerdeführerin genannten Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ entschieden. Insofern stellt der erstmals im Beschwerdeverfahren genannte Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit nach Artikel 100 b) EPÜ einen neuen Einspruchsgrund dar, der im Beschwerdeverfahren nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden darf (vgl. G 10/91, ABl. EPA 1993, 420, Gründe 18).
Da die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin im vorliegenden Fall der Prüfung des neuen Einspruchsgrundes nicht zugestimmt hat, kann der Einwand der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung nach Artikel 100 b) EPÜ nicht im Beschwerdeverfahren geprüft werden.
2. Erfinderische Tätigkeit
2.1 Beide Parteien gehen davon aus, dass das Dokument E2 den nächstkommenden Stand der Technik offenbart. Es ist unstreitig, dass die Merkmale 1 bis 1.6 des Oberbegriffs von Anspruch 1 im Dokument E2 offenbart sind. Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass dort die Einlauf- oder Schutzschicht (30) als PVD-Schicht ausgebildet sein kann (vgl. E2, Absatz [0019]) und dass diese nach der Einlaufphase (vgl. Figur 3) in den stoßnahen Umfangsbereichen, ausgehend von einer jeweiligen Stoßkante des Stoßes bis zu einem Umfangswinkel < 20°, eine geringere Schichtstärke als die Schichtstärke im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche aufweist. Damit sind auch die Merkmale 1.7 und 1.7.2 von der Figur 3 des Dokuments E2 vorweggenommen.
Folglich unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von dem in Figur 3 des Dokuments E2 dargestellten Ausführungsbeispiel durch das Merkmal 1.7.1, wonach die PVD-Laufflächenschicht in den stoßnahen Umfangsbereichen eine höhere Rauheit als im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche aufweist. Auch das Verfahren nach Anspruch 6 unterscheidet sich durch dieses Merkmal von dem im Dokument E2 offenbarten Verfahren.
2.2 Das Streitpatent nennt als technische Wirkung des Unterscheidungsmerkmals ein verbessertes Ölspeichervermögen im stoßnahen Umfangsbereich (vgl. Absatz [0012]). Selbst wenn das Ölspeichervermögen an der Kolbenringoberfläche, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, auch von weiteren Parametern beeinflusst wird, wie beispielsweise der Orientierung von an der Oberfläche des Kolbenringes vorhandenen Rillen, so ist die physikalische Tatsache, dass der stoßnahe, mit größerer Rauheit versehene Bereich des anspruchsgemäßen Kolbenrings ein größeres Ölspeichervermögen aufweist als der relativ gesehen weniger raue Nachbarbereich, doch nicht zu bestreiten und von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten worden.
Auf Grundlage dieser technischen Wirkung des Unterscheidungsmerkmals besteht die objektive technische Aufgabe folglich darin, einen Kolbenring und ein Verfahren zu seiner Herstellung zu schaffen, bei denen das Ölspeichervermögen des Kolbenrings im stoßnahen Bereich verbessert ist.
2.3 Hinsichtlich des Naheliegens der beanspruchten Lösung ist festzustellen, dass keine der von der Beschwerdeführerin angezogenen Entgegenhaltungen eine Anregung enthält, dass die PVD-Laufflächenschicht in den stoßnahen Umfangsbereichen eine größere Rauheit als im übrigen Umfangsbereich der Lauffläche aufweisen soll. Insbesondere ist bei objektiver Betrachtung nicht ersichtlich, warum der Fachmann bei dem Kolbenring nach der Druckschrift E2, wie von der Beschwerdeführerin behauptet, in Erwägung ziehen sollte, auf die Einlaufphase zu verzichten und die Laufflächenbeschichtung bereits bei dessen Herstellung mit einer zu den Stoßenden hin abnehmenden Dicke zu versehen, zumal er damit diametral gegen die ausdrückliche Lehre des Dokuments E2 handeln würde, die von einer zu den Stoßenden hin zunehmenden Dicke der Laufflächenbeschichtung ausgeht (vgl. E2, Figur 1). Derartige Überlegungen sind von einer rückschauenden Betrachtung des Standes Technik bei Kenntnis der zu beurteilenden Erfindung beeinflusst. Sie sind folglich nicht geeignet, die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands der unabhängigen Ansprüche 1 und 6 in Frage zu stellen.
2.4 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist dem Gegenstand der Patentansprüche in ihrer erteilten Fassung eine erfinderische Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ zuzusprechen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.