T 1376/17 03-06-2020
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WINDTURBINENROTORBLATT MIT VERRINGERTER SCHALLEMISSION
Einspruchsgründe - unzulässige Erweiterung (nein)
Zurückverweisung an die erste Instanz
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Streitpatent zu widerrufen.
In dieser hat die Einspruchsabteilung festgestellt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in erteilter Fassung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
Im Einspruchsverfahren hatte die Einsprechende ferner Artikel 100a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Artikel 100b) EPÜ als Einspruchsgründe geltend gemacht.
II. Eine mündliche Verhandlung fand am 3. Juni 2020 in Anwesenheit beider Parteien statt.
III. Die Beschwerdeführerin-Patentinhaberin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung eines der zuletzt im Einspruchsverfahren vorgelegten Hilfsanträge 1 und 2.
Die Beschwerdegegnerin-Einsprechende beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.
Beide Parteien beantragen die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung zur Prüfung der Einspruchsgründe nach Artikel 100a) und 100b) EPÜ.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
1. "Rotorblattspitze eines Rotorblatts einer Windenergieanlage,
wobei das Rotorblatt ein eine Druck- und eine Saugseite aufweisendes aerodynamisches Profil aufweist,
wobei die Rotorblattspitze in ihrem Außenbereich in Richtung der Druckseite des Rotorblattes abgebogen oder abgewinkelt ist,
dadurch gekennzeichnet, dass sich die Rotorblattspitze in ihrem Außenbereich zur Randbogenoberkante hin verjüngt und eine Randbogenvorderkante (32) und eine Randbogenhinterkante (34) aufweist und die Randbogenvorderkante und die Randbogenhinterkante gleichermaßen in einer vorgegebenen, gosohwungenen, elliptischen Steigung zu der Randbogenoberkante (36) hin verlaufen."
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin-Patentinhaberin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Anspruch 1 wurde ausgehend vom ursprünglichen Anspruch 17 mithilfe von für das Ausführungsbeispiel der Fig. 9 ursprünglich offenbarten Merkmalen eingeschränkt.
Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Beschreibung des Ausführungsbeispiels der Fig. 9 auf Seite 10 der Offenlegungsschrift ist unklar und inkonsistent. Zumindest der dem ursprünglichen Anspruch 17 hinzugefügte Begriff "gleichermaßen" ist der ursprünglichen Offenbarung weder wörtlich, noch implizit im Sinne von eindeutig und unmittelbar zu entnehmen. Zudem sind nicht alle auf Seite 10 erwähnten Merkmale des Ausführungsbeispiels in Anspruch 1 übernommen, sondern nur einige willkürlich herausgelöst worden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Gegenstand des Streitpatents ist ein Rotorblatt für eine Windenergieanlage, das ohne wesentliche Effizienzeinbußen geräuscharm arbeiten soll.
2.1 Die ursprüngliche PCT-Anmeldung verfolgt zwei unterschiedliche Lösungsansätze (Seite 1, erster Absatz; Seite 4, dritter Absatz):
a) aerodynamisches Profil mit Rotorvorderkante und Rotorhinterkante, dessen Endbereich (in der Rotorblattebene) in Richtung der Hinterkante abgebogen oder abgewinkelt ist (Anspruch 1, Fig. 1 - 4);
b) Rotorblattspitze, die in ihrem End- bzw. Außenbereich (aus der Rotorblattebene) in Richtung der Druckseite des Rotorblatts abgebogen oder abgewinkelt ist und sich verjüngt (Anspruch 17, Fig. 6 - 9).
Im Ausführungsbeispiel der Fig. 10 sind beide Lösungsansätze in einem Rotorblatt kombiniert (Seite 10, Zeilen 25/26 der Offenlegungsschrift).
2.2 Das Patent beschränkt sich auf den zweiten Lösungsansatz auf Basis des ursprünglichen Anspruchs 17, der auf den Seiten 9 und 10 der Offenlegungsschrift anhand der in den Fig. 6 - 9 dargestellten Ausführungsbeispiele beschrieben ist.
Dabei ist in Fig. 6 zunächst in einer Seitenansicht eines Außenbereichs einer Rotorblattspitze mit einem Randbogen 30 gezeigt, wie dessen Hauptebene (lang - kurz gestrichelt) zu der des Rotorblatts 10 abgewinkelt ist. In den folgenden Fig. 7 bis 9 sind dann alternative Gestaltungen der Verjüngung des abgewinkelten bzw. -gebogenen Außenbereichs oder Randbogens der Fig. 6 anhand verschiedener Randbogenverläufe dargestellt, die nur in einer Vorderansicht auf den abgewinkelten bzw. -gebogenen Außenbereich oder Randbogen sichtbar sind, siehe auch Seite 4, Zeilen 16 - 18 der Offenlegungsschrift.
3. Hauptantrag - Unzulässige Erweiterung
Anspruch 1 enthält neben den Merkmalen des ursprünglichen Anspruchs 17 geometrische Bezeichnungen für den Umriss der Rotorblattspitze (Randbogen, -ober-, -vorder- und -hinterkante) und folgende zusätzliche einschränkende Merkmale:
Die Randbogenvorderkante und die Randbogenhinterkante verlaufen gleichermaßen in einer vorgegebenen, geschwungenen, elliptischen Steigung zu der Randbogenoberkante hin.
Bis auf das strittige "gleichermaßen" finden sich diese Merkmale wörtlich auf Seite 10, Zeilen 5 - 8 der Offenlegungsschrift.
3.1 Zunächst ist zu klären, welche Bedeutung ein sachkundiger Leser dem Merkmal "gleichermaßen" in dem beanspruchten Zusammenhang zumisst.
3.1.1 Die Kammer stimmt einerseits mit der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden darin überein, dass der Begriff "gleichermaßen" in Anspruch 1 nicht einfach ein Füllwort ohne einschränkende Bedeutung darstellt, also im Sinne von "sowohl die Randbogenhinterkante, als auch die Randbogenvorderkante verlaufen (jeweils) mit einer (beliebigen) elliptischen Steigung". Andererseits hat "gleichermaßen" offensichtlich nicht dieselbe Bedeutung wie "identisch" oder "absolut gleich", wie aus der Wortzusammensetzung selbst sowie aus zahlreichen Zitaten und Synonymen aus dem Duden und anderen Wörterbüchern hervorgeht.
"Gleichermaßen" bedeutet vielmehr "in gleichem (Aus)Maß", also z.B. "in gleicher Größenordnung" oder "in gleicher Art und Weise".
3.1.2 Der wörtlich aus der Beschreibung übernommene Begriff der "elliptischen Steigung" ist mathematisch betrachtet einigermaßen unklar, denn eine Ellipse ist ein Kegelschnitt, also eine Kurve im Raum, die sich auch als eine Funktion in der Schnittebene darstellen lässt - nicht jedoch deren Steigung. Folglich muss dieser Begriff des Anspruchs 1 in Einklang mit der Beschreibung und den Zeichnungen des Patents sowie dem Verständnis des Fachmanns ausgelegt werden.
In Anspruch 1 ist bereits von einem Verlauf der Randbogenkanten die Rede. In Absatz [0033] der Patentschrift, der der ursprünglichen Offenbarungsstelle entspricht, ist dieser Verlauf zuerst entsprechend der Darstellung in Fig. 9 in einer Ebene beschrieben, bevor im nächsten Satz die räumliche Anordnung dieses Verlaufs bezüglich der Rotorblattebene angegeben wird ("Dabei..."). Im nächsten Absatz [0034] wird der Ausdruck "elliptische Ausbildung" verwendet.
Daraus ergibt sich, dass ein sachkundiger Leser den Begriff der Steigung nicht mathematisch auffasst, sondern eher bildlich als ein Aufeinanderzulaufen von Randbogenvorder - und hinterkante in einem "sich zuspitzende[n] Bereich" "sich verringernde[r] Blatttiefe" der Rotorblattspitze, Absatz [0008] der Patentschrift. Eine in diesem Sinne sich gemäß Anspruch 1 in ihrem Außenbereich zur Randbogenoberkante hin verjüngende Rotorblattspitze schließt aus, dass Randbogenvorder- und -hinterkante mit identischer mathematischer Steigung gleichen Vorzeichens parallel zueinander verlaufen. Nur mit aufeinander zu laufenden Randbogenvorder- und hinterkanten kann in der in Absatz [0033] der Patentschrift beschriebenen Ausführungsform der Fig. 9 eine stumpf auslaufende Blattgeometrie vermieden werden und eine Umströmung der Blattspitze weitestgehend entfallen, wie im folgenden Absatz [0034] erläutert.
Dass ein Fachmann die "elliptischer Steigung" der Randbogenvorder- und hinterkante in der z.B. in Fig. 6 zu sehenden Abbiegung des Randbogens aus der Rotorblattebene verortet, wie die Beschwerdegegnerin-Einsprechende argumentiert, scheint der Kammer eher abwegig. Zumal sie im Gegensatz zur Beschwerdegegnerin-Einsprechenden nicht davon ausgeht, dass Fig. 9 in Absatz [0033] der Patentschrift fehlerhaft im Zusammenhang mit einer "elliptischen Steigung" erwähnt wird, sondern durchaus eine Art von sich zuspitzendem Randbogenverlauf zeigt, der "besonders bevorzugt" elliptisch ausgeführt sein kann.
3.1.3 Zusammenfassend entnimmt der Fachmann dem kennzeichnenden Teil von Anspruch 1, dass Randbogenvorder- und -hinterkante "in einer vergleichbaren elliptischen Steigung" zu der Randbogenoberkante hin verlaufen bzw. "in gleicher Art und Weise elliptisch" oder "als Ellipsenbögen gleicher Größenordnung" ausgebildet sind.
3.2 In diesem Sinne ist das Anspruchsmerkmal "gleichermaßen" eindeutig der ursprünglichen Fig. 9 zu entnehmen, in deren unmittelbaren Zusammenhang der bevorzugte elliptische Verlauf auf Seite 10, zweiter Absatz der Offenlegungsschrift offenbart ist.
3.2.1 Da Fig. 9 eine schematische Darstellung ist, kann ihr nicht unmittelbar und eindeutig entnommen werden, dass Randbogenvorder- und -hinterkante 32, 34 exakt spiegelbildlich zu einer gedachten mittigen Symmetrieachse verlaufen, sich also mit identischer Steigung von links bzw. rechts dem Scheitelpunkt oder der Randbogenoberkante 36 nähern; wohl aber, dass Randbogenvorderkante 32 und Randbogenhinterkante in gleicher Art und Weise geschwungen ausgebildet sind und mit vergleichbarer Steigung in Kurven gleicher Größenordnung, mithin "gleichermaßen" in einer vorgegebenen, geschwungenen Steigung zu der Randbogenoberkante 36 hin verlaufen.
3.2.2 Dass die Kurven 32, 34 in Fig. 9 nicht typisch elliptisch aussehen, ist für die Offenbarung des Begriffs "gleichermaßen" durch Fig. 9 unerheblich. Zum einen wird in der Beschreibung nicht behauptet, dass Fig. 9 die besonders bevorzugte elliptische Ausführungsform tatsächlich zeigt. Zum anderen kann der Außenbereich bzw. Randbogen in einer abgewinkelten Ebene liegen und nur dessen Projektion auf die Zeichenebene in Fig. 9 zu sehen sein.
3.3 Der geschwungene, bevorzugt elliptische Verlauf des Randbogens der Rotorblattspitze und dessen inhärente technische Wirkungen werden auf Seite 10 der Offenlegungsschrift im zweiten und dritten Absatz als besonderes Merkmal einer Ausführungsform der Erfindung ausführlich behandelt. Sämtliche in diesen beiden Absätzen erwähnten strukturellen Merkmale finden sich in Anspruch 1.
Im folgenden vierten Absatz werden weitere konstruktive Details der Ausführungsform zahlenmäßig definiert, die offensichtlich nicht notwendigerweise funktionell oder strukturell mit dem elliptischen Verlauf verknüpft sind.
Deshalb begründet das Fehlen dieser Details in Anspruch 1 keine unzulässige Zwischenverallgemeinerung, die dessen Gegenstand über den Inhalt der ursprünglichen Offenbarung hinaus erweitert.
Damit kommt es nicht mehr darauf an, ob der erstmals im Schriftsatz vom 20. Mai 2020 diesbezüglich erhobene Einwand der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden verspätet vorgebracht wurde, wie von der Beschwerdeführerin-Patentinhaberin gerügt wurde.
3.4 Im Ergebnis stellt die Kammer fest, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht über den Inhalt der Anmeldung in ihrer ursprünglichen Fassung hinausgeht, Artikel 100c) EPÜ.
4. Zurückverweisung
Zweck des Beschwerdeverfahren ist in erster Linie die Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung. Da in dieser die ferner von der Beschwerdegegnerin-Einsprechenden vorgebrachten Einspruchsgründe unter Artikel 100a) und b) EPÜ nicht behandelt sind, ist eine dahingehende Überprüfung der Einspruchsentscheidung nicht möglich.
Gemäß den übereinstimmenden Anträgen beider Parteien liegt eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung nach Artikel 111(1) EPÜ zur Prüfung der weiteren Einspruchsgründe unter Artikel 100a) und b) EPÜ auch in deren Interesse, so dass die Kammer diesen Anträgen aufgrund dieser besonderen Gründe stattgibt, Artikel 11 VOBK 2020.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Vorinstanz zur Erörterung der weiteren Einspruchsgründe zurückverwiesen.