T 0394/18 16-11-2021
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Verfahren zum Übergeben von Artikeln in einem Transportsystem
Entscheidung im schriftlichen Verfahren
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Die Patentinhaberin und die Einsprechende haben gegen die Entscheidung, mit der das europäische Patent
Nr. 2 505 528 in geänderter Fassung aufrechterhalten wurde, form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent im gesamten Umfang unter Geltendmachung der Einspruchsgründe gemäß
Artikel 100 a) und b) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit sowie mangelnde Ausführbarkeit) EPÜ angegriffen worden. Die Einspruchsabteilung war der Ansicht, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung und gemäß den Hilfsanträgen 1 bis 3 nicht erfinderisch ist und dass das Patent gemäß dem Hilfsantrag 4 den Erfordernissen des EPÜ genügt.
III. Die vorliegende Entscheidung stützt sich auf folgende Dokumente:
E1: WO 97/09256;
E2: EP 1 042 198 B1.
IV. Die Parteien stellten folgende Anträge zur Entscheidung:
für die Patentinhaberin:
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und
die Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), oder,
hilfsweise, die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß einem der Hilfsanträge II bis VII, wobei die Hilfsanträge II und IV bis VII mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurden und
der Hilfsantrag III der Fassung des Anspruchssatzes entspricht, die die Einspruchsabteilung als mit den Erfordernissen des EPÜ vereinbar erachtet hatte.
für die Einsprechende:
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
Beide Parteien beantragten zunächst hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
V. Mit einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 10. Mai 2021 teilte die Kammer den Parteien das Ergebnis ihrer vorläufigen Beurteilung der Sach- und Rechtlage mit, derzufolge die Beschwerde der Einsprechenden zurückzuweisen sein dürfte, während die Beschwerde der Patentinhaberin stattgegeben sein dürfte, so dass das Streitpatent in der erteilten Fassung aufrechterhalten werden könnte.
VI. Mit Schriftsatz vom 18. August 2021 legte die Einsprechende weitere Argumente gegen die erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung vor.
VII. Mit Schriftsatz vom 4. November 2021 nahm die Einsprechende ihren Antrag auf mündlichen Verhandlung zurück.
VIII. Die Kammer hob daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf und entschied im schriftlichen Verfahren.
IX. Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung lautet wie folgt:
"Verfahren zum Übergeben eines Artikels (4) in einem Transportsystem (1) einer Verpackungsanlage (2) von einem ersten antreibbaren Transportmittel (5) zu einem zweiten antreibbaren Transportmittel (8), wobei die Übergabe des Artikels während einer Synchronphase erfolgt, in der das erste (5) und das zweite Transportmittel (8) zu jedem Zeitpunkt untereinander dieselbe gemeinsame Geschwindigkeit haben, wobei die gemeinsame Geschwindigkeit wahrend der Synchronphase zumindest abschnittsweise ansteigt und/oder zumindest abschnittsweise abfällt, dadurch gekennzeichnet, dass ein Transportmittel (5, 8) nach dem Ende der Synchronphase zeitweise mit einer Geschwindigkeitsüberhöhung (g2) im Vergleich zum Geschwindigkeitsniveau (v2') beim Ende der Synchronphase betrieben wird."
X. Der Wortlaut von Ansprüchen der Hilfsanträge ist angesichts der getroffenen Entscheidung nicht relevant.
XI. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Entscheidung im schriftlichen Verfahren
Die vorliegende Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß Artikel 12 (8) VOBK 2020.
Der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ ist uneingeschränkt gewahrt, da die Parteien umfangreich zur Sache vorgetragen haben und die Kammer deren Vorbringen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat.
Soweit die Einsprechende zunächst hilfsweise einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 (1) EPÜ gestellt hatte, hat sie diesen mit Schriftsatz vom 4. November 2021 zurückgenommen. Diese Rücknahme führt indes nicht zu einer anteiligen Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 103 (4) c) EPÜ, da sie weniger als einen Monat vor dem für den 23. November 2021 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung erklärt wurde.
Da die Kammer der Beschwerde der Patentinhaberin stattgibt, entfaltet deren dazu nachrangige Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung keine prozessuale Wirkung (Artikel 116 (1) EPÜ).
Die Beschwerdesache ist auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des wechselseitigen schriftsätzlichen Vorbringens der Parteien unter Wahrung deren Rechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif (Artikel 15 (3) VOBK 2020), so dass der ursprünglich anberaumte Termin zur mündliche Verhandlung aufgehoben wird.
2. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des
Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung ausgehend von E2 (Artikel 100(a) und 56 EPÜ)
2.1 Die Kammer schließt sich der Patentinhaberin an (siehe Seite 3, zweiter Absatz der Beschwerdebegründung), dass die Einspruchsabteilung den falschen Maßstab zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angesetzt habe.
2.2 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist auf ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage gerichtet und es ist unstreitig, dass E2 alle Merkmale des beanspruchten Verfahrens offenbart mit der Ausnahme, dass das in E2 offenbarte Verfahren nicht in einer Verpackungsanlage stattfindet, d.h., dass E2 ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage nicht offenbart.
2.3 Die Feststellung der Einspruchsabteilung (siehe Punkt 1.3 auf Seite 5, letzter Absatz der Entscheidungsgründe), dass es "für den Fachmann kein Hinderungsgrund [gäbe], das aus der E1 [gemeint E2] bekannte Verfahren nicht auch in einer Verpackungsanlage zu verwenden", hält bereits in ihrem Ansatz einer Überprüfung durch die Beschwerdekammer nicht stand. Für die Verneinung der erfinderischen Tätigkeit genügt es nämlich nicht, dass ein Fachmann ausgehend von dem nächstliegenden Stand der Technik zum beanspruchten Gegenstand bloß kommen könnte. Vielmehr ist maßgeblich, ob er zum Anspruchsgegenstand auch tatsächlich kommen würde (siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammern [RdB], 9. Auflage 2019, I.C.5).
Die Kammer stimmt daher mit der Beschwerdeführerin überein, dass die von der Einspruchsabteilung angegebene Begründung die Feststellung der fehlenden erfinderischen Tätigkeit nicht trägt.
2.4 Das Argument der Einsprechenden, dass sich das Verfahren gemäß Anspruch 1 auf einen Verwendungszweck beziehe und keine technische Einschränkungen von den beanspruchten Verwendungszweck resultierten (siehe Punkt 3.1.2 ihrer Beschwerdeerwiderung und Punkt 2 des Schriftsatzes vom 18. August 2021), kann aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden.
Wenn ein Anspruch sich auf ein Verfahren bezieht, ist das Verwendungsmerkmal ein funktionelles Verfahrensmerkmal, das mit den anderen Merkmalen des Verfahrens vergleichbar ist. Die Zweckangabe des Verfahrens gemäß Anspruchs 1, nämlich zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage, definiert die spezifische Verwendung des Verfahrens, wobei zusätzliche Schritte erforderlich sind, die nicht in den übrigen im Anspruch definierten Schritten implizit oder inhärent enthalten sind und ohne die das beanspruchte Verfahren nicht das angegebene Ziel erreichte. In dieser Hinsicht stellt die angegebene Verwendung eine echte technische Beschränkung des Verfahrens dar, und das beanspruchte Verfahren muss in dieser Weise verwendet werden (siehe RdB, I.C.5.2.5, zweiter Absatz, insbesondere in Bezug auf T 1931/14).
Die Kammer teilt daher die Feststellung der Einspruchsabteilung (siehe Punkt 1.2.2 der Entscheidungsgründe), dass das beanspruchte Verfahren auf ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage eingeschränkt ist.
2.5 Das Argument der Einsprechenden, dass E2 implizit eine Verpackungsanlage offenbare, weil die meisten in einer Fabrik- oder Produktionsanlage hergestellten Produkte verpackt werden (siehe Punkt 3 des Schriftsatzes vom 18. August 2021), ist nicht überzeugend, weil es ebenfalls Produkte gibt, die nicht verpackt werden.
Dass die Verwendung des Verfahrens von E2 in einer Verpackungsanlage nur eine bloße Auswahl zwischen zwei Alternativen sei, nämlich zwischen Fabrik- bzw. Produktionsanlage mit oder ohne Verpackungsanlage, ist ebenfalls nicht überzeugend, weil diese zwei Alternativen aus der E2 eindeutig und unmittelbar nicht zu entnehmen sind.
2.6 Die Kammer bemerkt, dass, wenn man als nächstliegenden Stand der Technik ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer bestimmten Anlage, wie z.B. einer Fabrik- oder Produktionsanlage, nimmt, der Fachmann immer noch, auch bei einer Weiterentwicklung, bei einem gleichartigen gattungsgemäßen Verfahren und daher weiterhin bei einem Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem der gewählten bestimmten Anlage bliebe, wie z.B. einer Fabrik- oder Produktionsanlage, er aber nicht zu einem Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage käme.
Mit der Auswahl von E2 als Ausgangpunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit hat die Einsprechende damit eigentlich auch den Rahmen der Weiterentwicklung des in E2 offenbarten Verfahrens festgelegt, nämlich eine Weiterentwicklung innerhalb derselben Gattung, d.h. das Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Fabrik- oder Produktionsanlage. Eine Änderung der bewusst gewählten Gattung zu einer anderen nicht gewählten Gattung während der Weiterentwicklung könnte dann nur als Folge einer Ex-post-facto-Analyse betrachtet werden (siehe RdB, I.D.3.6, erster Absatz).
2.7 Die Argumentationslinie der Einsprechenden ausgehend von E2, derzufolge der Fachmann zu einem Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage gelangte (siehe Punkt 3.1.5 ihrer Beschwerdeerwiderung und Punkt 4 ihres Schriftsatzes vom 18. August 2021), kann daher nur als das Ergebnis einer rückschauende Betrachtung angesehen werden und ist nicht überzeugend.
2.8 Dass in der Aufgabenstellung im Absatz [0009] des Streitpatents die Verpackungsanlage nicht erwähnt wird (siehe Seite 7, vorletzter Satz - Seite 8, sechster Satz des Schriftsatzes vom 18. August 2021), ist unerheblich, weil dieses Merkmal Teil des Gegenstandes des Anspruchs 1 ist und den Begriff des Anspruchs sowie die beanspruchte Erfindung definiert und daher nicht vernachlässigt werden kann.
2.9 Die Kammer bemerkt, dass die Einsprechende in ihrer Argumentation des fehlender erfinderischen Tätigkeit den Wortlaut des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung anders wiedergibt als im Streitpatent selbst, in dem der Begriff des Anspruchs 1 als Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Anlage angegeben wird, und der Anspruch durch das Merkmal, dass die Anlage eine Verpackungsanlage ist, gekennzeichnet wird (siehe Seite 7, dritter Absatz des Schriftsatzes vom 18. August 2021).
2.10 Solche Umformulierung des Anspruchswortlauts ändert allerdings die Interpretation des Anspruchs 1 nicht.
Die Schritte des Verfahrens des unformulierten Anspruchs 1 finden immer noch in einer Verpackungsanlage statt, so dass der Anspruch immer noch auf ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage gerichtet ist und diese Tatsache bestimmt noch immer die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit.
Die obigen Überlegungen der Kammer bezüglich der erfinderischen Tätigkeit werden daher durch die Umformulierung des Wortlaus des Anspruchs nicht beeinflusst.
2.11 Die Einsprechende argumentiert ebenfalls (siehe Seite 8, vorletzter Absatz des Schriftsatzes vom 18. Februar 2021), dass es nicht erfinderisch sein könne, ein vollständig bekanntes Verfahren (in diesem Fall ein Verfahren zum Übergeben eines Artikels in einem Transportsystem) in einem neuen Bereich (Verpacken) anzuwenden, wenn es keine beanspruchte Wechselwirkung zwischen dem spezifischen Bereich und dem bekannten Verfahren und keine glaubhafte technische Wirkung gebe, die von dem Unterscheidungsmerkmal ausgeht.
Diese allgemeine Aussage ist für die Beurteilung des vorliegenden Falls unerheblich. Die Beweislast liegt bei der Einsprechenden zu zeigen, dass die Erfindung gemäß Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Artikel 56 EPÜ). Wie oben in Punkt 2.6 und 2.7 dargelegt, ist die Argumentationslinie der Einsprechenden ausgehend von dem von ihr festgelegten Stand der Technik nicht überzeugend.
3. Erfinderische Tätigkeit des Gegenstandes des
Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung ausgehend von E1 (Artikel 100(a) und 56 EPÜ)
Die Einsprechende argumentiert, dass der Fachmann das Transportsystem von E1 in einem Transportsystem einer Verpackungsanlage aus den selben Gründen wie bei E2 verwendete und damit zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangte (siehe Punkt 3.1.6 der Beschwerdeerwiderung). Diese Argumentationslinie ist aus ähnlichen Gründen wie für E2 nicht überzeugend.
4. Die Kammer ist daher von der Argumentation der Patentinhaberin überzeugt, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht korrekt ist, so dass sie aufzuheben ist. Keine der von der Einsprechende geltend gemachten Einwände stehen der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in unveränderter Form aufrechterhalten.