T 0661/18 (Schichtsystem/Interpane) 18-11-2021
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WITTERUNGSBESTÄNDIGES SCHICHTSYSTEM
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (ja)
Änderungen - zulässig (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) betrifft die Entscheidung der Einspruchsabteilung den Einspruch gegen das europäische Patent No. 2 007 694 zurückzuweisen.
II. Folgende in der angefochtenen Entscheidung erwähnte Dokumente sind hier von Relevanz:
A7 : US 6 103 363 A
A13 : WO 2002/024333 A1
A13': Übersetzung von A13, eingereicht am 28. Juli 2014
III. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erging am 9. März 2020.
IV. Die Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 wurde am 26. Mai 2020 verschickt.
V. Am 19. Juni 2020 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) die Hilfsanträge 1 bis 5 ein, die bereits am 8. September 2017 vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden waren.
VI. In der mündlichen Verhandlung vom 18. November 2021 machte die Beschwerdegegnerin ihren zweiten Hilfsantrag zum Hauptantrag.
Anspruch 1 dieses Antrags ist wie folgt (Änderungen gegenüber erteiltem Anspruch 1 unterstrichen):
"1. Transparentes Substrat (S) mit aufgebrachtem Schichtsystem (4), das zumindest eine oder mehrere Blockerschichten (2) enthält, die die Bildung einer Raumladungszone verhindern und eingebettet sind zwischen einer TCO-Schicht (1) und einer Top-Schicht aus einer photokatalytischen Schicht (3), die aus TiOx besteht, wobei x im Bereich zwischen 1,8 und 2,2 liegt, und mit einem Element, das die Bandlücke des TiOx absenkt, dotiert ist, das aus Fe, V, Nb, Cr, Al, Zn, Sn, Ce, Cu, Ta, Bi, Elementen aus der Gruppe der Lanthanoiden, Ni, Co, Mo und/oder W ausgewählt ist, wobei die Blockerschicht (2) aus Oxiden von Al, Hf, Nb, Ta, Mg, Zn, Y, Sn oder Mischungen daraus oder aus Nitriden oder Oxinitriden von Al oder Si oder Mischungen daraus oder aus SiOxNyCz zusammengesetzt ist."
Die Ansprüche 2 bis 18 betreffen bevorzugte Ausführungsformen, Anspruch 19 betrifft ein Verfahren zur Herstellung eines Substrats mit einem Schichtsystem nach mindestens einem der Ansprüche 1 bis 18, Ansprüche 20 bis 23 sind bevorzugte Ausführungsformen von Anspruch 19.
VII. Die für diese Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) können wie folgt zusammengefasst werden:
Der Hauptantrag sei erst nach der Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 gestellt worden. Es lägen keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Artikels 13(2) VOBK 2020 vor, die die Zulassung dieses Antrags rechtfertigen würden.
Ausgehend von A13 sei die zu lösende Aufgabe, ein alternatives photokatalytisches Schichtsystem bereitzustellen. Die Lösung sei angesichts der Lehre aus A7 nahegelegt.
VIII. Die relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) ergeben sich aus der folgenden Entscheidungsbegründung.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt, das Patent in geänderter Fassung basierend auf dem Hauptantrag oder einem der Hilfsanträge 1 bis 3, eingereicht als Hilfsanträge 3 bis 5 am 19 Juni 2020, aufrechtzuerhalten.
1. Artikel 13(2) VOBK 2020
Der vorliegende Hauptantrag wurde am 19. Juni 2020 als Hilfsantrag 2 eingereicht. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erging im März 2020, also nach Inkrafttreten der VOBK 2020 (Artikel 24(1) VOBK 2020), sodass Artikel 13(2) VOBK 2020 anzuwenden ist (Artikel 25(3) VOBK 2020).
Dieser Antrag stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens gegenüber dem erteilten Patent dar, da zusätzliche Merkmale in den Anspruch 1 aufgenommen wurden. Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben solche Änderungen einer Partei nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, die Partei hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
1.1 Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerdebegründung bereits im Mai 2018 eingereicht, die Beschwerdeerwiderung am 24. September 2018.
Gemäß der damals gültigen Verfahrensordnung VOBK 2007 und v.a. Artikel 13(3) VOBK 2007 wurden Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen, wenn sie Fragen aufwarfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten war.
Der Verfahrensablauf im vorliegenden Fall ist damit dem der Entscheidung T 713/14 zugrundeliegenden Fall sehr ähnlich, sodass die dort angestellten Überlegungen (Gründe 4.1 bis 4.8) auch hier gelten. Insbesondere sind die Parteien danach zwar grundsätzlich gehalten, ihr Patentportfolio zu überprüfen, um etwaige Auswirkungen der grundsätzlich am 1. Januar 2020 in Kraft getretenen neuen VOBK 2020 auf vorliegende Verfahren zu evaluieren, doch ist eine solche strikte Sichtweise auf diese den Parteien obliegende verfahrensrechtliche Sorgfaltspflicht nicht zwingend für jedes Verfahren angebracht. Den Parteien in allen Verfahren und unter allen Umständen abzuverlangen, bereits bei Inkrafttreten der VOBK 2020 allfällig ergänzendes Vorbringen zu erstatten und geänderte Ansprüche einzureichen und damit Ladungen zu mündlichen Verhandlungen und Mitteilungen der Kammer zuvorzukommen, hieße diese verfahrensrechtliche Sorgfaltspflicht zu überspannen. Gerade angesichts der hier - wie in T 713/14 - zeitnah zum Inkrafttreten der VOBK 2020 erfolgten Ladung zur mündlichen Verhandlung sowie der insgesamt schwierigen Situation aufgrund des zeitgleichen Beginns der Corona-Pandemie wäre eine strikte Handhabung der mit der VOBK 2020 eingeführten verfahrensrechtlichen Instrumentarien unangebracht.
1.2 Die Hilfsanträge waren auch bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden. Sie wurden zeitnah nach der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020 erneut eingereicht. In dieser Mitteilung entwickelte die Kammer den Einwand der Beschwerdeführerin, dass die Funktion der Blockerschicht nicht im Anspruch sei, dahingehend weiter, dass der Bezeichnung "Blockerschicht" keine spezifische Bedeutung beigemessen werden könne und somit nicht als einschränkend für die Auslegung des Anspruchs 1 angesehen werde.
1.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des jetzigen Hauptantrags enthält einfache Änderungen, die keine neuen Fragen aufwerfen und letztendlich zu einem gewährbaren Antrag führen.
1.4 Unter Gesamtbetrachtung all dieser Punkte kommt die Kammer zum Schluss, dass im gegenständlichen Fall außergewöhnliche Umstände vorliegen, die die Berücksichtigung des vorliegenden Hauptantrags geboten erscheinen lassen.
2. Artikel 123(2) EPÜ
Anspruch 1 basiert auf Ansprüchen 1, 8, 11, 12, 14 sowie Seite 5, Zeilen 28 und 29 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Der Einwand der Beschwerdeführerin betreffend das Fehlen des Merkmals "das die Bandlücke des TiOx absenkt" ist in Anbetracht der durchgeführten Änderungen für den nunmehrigen Hauptantrag nicht mehr relevant.
Die direkt oder indirekt abhängigen Ansprüche 2 bis 23 entsprechen den ursprünglichen Ansprüchen 2, 3, 9, 10, 13, 15 bis 25 und 27 bis 32.
Die Voraussetzungen des Artikels 123(2) EPÜ sind somit erfüllt.
3. Artikel 56 EPÜ
3.1 Die Erfindung betrifft ein auf einem transparenten Substrat aufgebrachtes Schichtsystem.
3.2 A13 ist nächstliegender Stand der Technik, da es ein beschichtetes Glas, das gegen Außenbeschlag und Verwitterung gut geschützt ist (siehe A13', Seite 3, Zeilen 28 und 29), betrifft. Es offenbart, wie in der angefochtenen Entscheidung in Punkt 27 zutreffend ausgeführt, in Figur 10 ein als #A8 gekennzeichnetes Schichtsystem, das als erste Schicht auf dem Glas eine TCO-Schicht aus In2O3 : Sn enthält, als zweite Schicht eine WO3-Schicht und darüber eine TiO2-Schicht. Solche Schichtsysteme sind auch in Figur 12 als #A12, #A14 und #A15 gezeigt. Es geht eindeutig aus der Beschreibung hervor, dass ITO Glas für ein Glas steht, das mit Zinnoxid dotiertem Indiumoxid beschichtet ist (siehe A13', Seite 9, Zeile 29 bis Seite 10, Zeile 6 und Seite 24 Zeilen 34 bis 36 sowie Seite 25, Zeile 16).
A7 ist weniger geeignet als nächstliegender Stand der Technik, da es nicht explizit eine TCO-Schicht offenbart und somit nicht die Verwitterung und den Außenbeschlag von Glas, das sowohl eine TCO als auch eine TiO2 enthaltende photokatalytische Schicht enthält, betrifft.
3.3 Gemäß Patent besteht die Aufgabe darin, Korrosion, Witterungsverschmutzung und Tau- bzw. Reifbeschlag auf der Außenoberfläche von Verglasungen zu verhindern (Absatz [0012]).
3.4 Diese Aufgabe wird durch ein Substrat mit einem Schichtsystem gemäß Anspruch 1 gelöst, dadurch gekennzeichnet, dass TiOx mit einem Element dotiert ist, das die Bandlücke des TiOx absenkt, und das aus Fe, V, Nb, Cr, Al, Zn, Sn, Ce, Cu, Ta, Bi, Elementen aus der Gruppe der Lanthanoiden, Ni, Co, Mo und/oder W ausgewählt ist und, dass die Blockerschicht die Bildung einer Raumladungszone verhindert und aus Oxiden von Al, Hf, Nb, Ta, Mg, Zn, Y, Sn oder Mischungen daraus oder aus Nitriden oder Oxinitriden von Al oder Si oder Mischungen daraus oder aus SiOxNyCz zusammengesetzt ist.
3.5 Es ist kein Grund ersichtlich, daran zu zweifeln, dass diese Aufgabe erfolgreich gelöst wird. Obwohl A13 bereits eine ähnlich Aufgabe löst (siehe Punkt 3.2), geht A13 nicht auf Korrosion ein. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, dass die in Absatz [0020] des Patents vorgebrachte Erklärung des Vorteils der Blockerschicht durch Verhinderung einer Raumladungszone nicht zu den genannten Effekten führen würde.
3.6 Die Lösung ist aus folgenden Gründen nicht nahegelegt:
A13 offenbart zwar, dass ZnO eine mögliche Alternative zum bevorzugten WO3 als Zwischenschicht ist (Seite 10, Zeilen 18 bis 20), jedoch geht A13 nicht darauf ein, dass die Schicht, die Bildung einer Raumladungszone verhindern soll, um die gestellte Aufgabe zu lösen. Vielmehr geht aus Figur 2 hervor, dass diese Zwischenschicht eine photokatalytische Behelfsschicht darstellt, die dem Elektronenfluss nicht entgegensteht.
Dass anstatt einer photokatalytischen TiO2-Schicht auch eine dotierte TiOx-Schicht verwendet werden kann ist der Fachperson bekannt (siehe z.B. A7, Spalte 3, Zeilen 15 bis 20). A7 befasst sich nicht mit der gestellten Aufgabe und geht deshalb nicht darauf ein, dass durch die Wahl eines Elementes, das die Bandlücke des TiOx absenkt, in Kombination mit der beanspruchten Blockerschicht, die die Bildung einer Raumladungszone verhindert, die gestellte Aufgabe gelöst werden kann.
3.7 Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht somit auf einer erfinderischen Tätigkeit. Das gilt auch für die Ansprüche 2 bis 23, die sich direkt oder indirekt auf Anspruch 1 beziehen.
3.8 Die Voraussetzungen des Artikels 56 EPÜ sind somit ebenfalls erfüllt.
4. Der Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung des nunmehrigen Hauptantrags stehen auch keine sonstigen Hindernisse entgegen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird mit der Anordnung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage des Hauptantrages, eingereicht als Hilfsantrag 2 am 19.Juni 2020, und einer allenfalls anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.