T 2910/19 (Parallelisierte Schadensberechnung/SWISS RE) 06-02-2023
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System und Verfahren zur parallelisierten Berechnung von Schäden durch Naturkatastrophen
Technische Wirkung - nach Änderung (ja)
Änderung des Beschwerdevorbringens - zugelassen (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (ja)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, mit Gründen vom 3. Mai 2019, die Europäische Patentanmeldung Nr. EP 06 405 538 mangels erfinderischer Tätigkeit zurückzuweisen, weil sie gegenüber den Dokumenten
D1: US 2005/0160239 A1
D2: US 5 212 777 A1
nur die Verwendung bekannter Computerarchitekturen für einen nicht-technischen Zweck beanspruchen würde.
II. Die Anmelderin hat am 12. Juni 2019 Beschwerde eingelegt und die fällige Gebühr entrichtet, sowie am 5. September 2019 ihre Beschwerde begründet.
III. Mit ihrer Ladung zur mündlichen Verhandlung, hat die Kammer ihre vorläufige Meinung zum Ausdruck gebracht, dass die Entscheidung der Prüfungsabteilung zu bestätigen sei.
IV. In der mündlichen Verhandlung überzeugte die Beschwerdeführerin die Kammer davon, dass der Erfindung eine technische Überlegung zugrunde liege, die eine sachliche Prüfung durch die Prüfungsabteilung notwendig machen würde. Die Kammer entschied, der Beschwerdeführerin eine Frist von vier Wochen einzuräumen, innerhalb derer sie geänderte Ansprüche einreichen solle, die ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung entsprächen.
V. Mit Schreiben vom 16. Januar 2023 legte die Beschwerdeführerin fristgerecht einen neuen Anspruchssatz vor und argumentierte, dass ihr Gegenstand in der ursprünglichen Anmeldung offenbart sei und den in der mündlichen Verhandlung formulierten Anforderungen genüge. Sie beantragte, die Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben und die Patentanmeldung auf Basis der geänderten Patentansprüche zu erteilen, alternativ nur auf Basis der Verfahrensansprüche 11-20.
VI. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 11 lauten wie folgt.
"1. Computerbasiertes System (1) mit mehreren vernetzten Prozessoreinheiten (31, 31', 31") zur auf die mehreren Prozessoreinheiten (31, 31', 31") verteilten Berechnung von zu erwarteten Schäden durch Naturkatastrophenereignisse an einer Vielzahl von versicherten Objekten eines Portfolios (L3), umfassend:
eine Datenbank (2) und eine Koordinationseinheit (10), die über ein Telekommunikationsnetzwerk (4) mit den mehrere Prozessoreinheiten (31, 31', 31") verbunden ist, wobei die Datenbank (2) historische oder simulierte Naturkatastrophenereignisse für einen definierten Zeitraum von mindestens mehreren hundert Jahren umfasst, und wobei die Naturkatastrophenereignisse mindestens eine Ereignisidentifizierung, ein Ereignistyp, ein Ereignisort, eine Ereignisintensität und eine Ereignisfrequenz umfassen,
ein Datenstrukturierungsmodul (11) zum Zuordnen der versicherten Objekte zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet einer Risikogruppe (L2), wobei die Datenbank (2) zu jedem der Vielzahl von Objekten ein Objektschlüssel umfassend mindestens eine Risikogruppe (L2), eine Risikoeinheit und ein Deckungsumfangstyp zugeordnet abgespeichert umfasst,
eine Vielzahl von definierten, ausführbaren
Schadensempfindlichkeitsfunktionen umfassend in der Datenbank (2), wobei eine Schadensempfindlichkeitsfunktion in Abhängigkeit von der dem Objektschlüssel zugeordneten Risikogruppe, Risikogebiet, Risikotyp und Deckungsumfangstyp mittels der Datenbank (2) bestimmbar ist und wobei mittels der bestimmten Schadensempfindlichkeitsfunktion basierend auf einer Ereignisstärke oder -Intensität am Ort eines Objektes ein Schadensgrad für ein gespeichertes Naturkatastrophenereignisse mit einem Ereignistyp bestimmbar ist,
ein Instruktionsgenerator (12) - zum Bereitstellen und Übermitteln von verschiedenen Instruktionsdaten für jeweils eine der Prozessoreinheiten (31, 31', 31"), welche Instruktionsdaten Angaben zu mindestens einem Teil der versicherten Objekte und deren Zuordnung zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet einer Risikogruppe (L2) umfassen, wobei die Instruktionsdaten für die Prozessoreinheiten (31, 31', 31") jeweils für unterschiedliche auf die Prozessoreinheiten (31, 31', 31") aufgeteilte Teilbereiche der Naturkatastrophenereignisse bereitgestellt werden, welche verschiedene Risikogebiete zuordenbar sind, so dass die Instruktionsdaten für jeweils eine der Prozessoreinheiten (31, 31', 31") mit Angaben zu Naturkatastrophenereignissen bereitgestellt werden, welche einem Risikogebiet zugeordnet sind, für das der betreffenden Prozessoreinheit (31, 31', 31") mindestens ein versichertes Objekt zugeteilt ist,- zum Aufteilen und Übertragen der Schadensempfindlichkeitsfunktionen zur Speicherung im lokalen Cache (312) der Prozessoreinheiten (31, 31', 31") für die zur Berechnung von Teilschäden auf den Prozessoreinheiten (31, 31', 31"), wobei in den lokalen Caches der Prozessoreinheiten jeweils mindestens eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert wird, wobei die Instruktionsdaten für die Prozessoreinheiten bereitgestellt werden, deren Zuordnungen zu einem Risikotyp und geographischen Risikogebiet jeweils eine im lokalen Cache gespeicherte Schadenempfindlichkeitsfunktion bestimmen, - zum Zuweisen jeder Prozessoreinheit (31, 31', 31") einer möglichst gleichmässige Anzahl Objekte, wobei die Schadensempfindlichkeitsfunktion und Objekte auf die Prozessoreinheiten (31, 31', 31") verteilt werden, und wobei einer Prozessoreinheit (31, 31', 31") nur diejenigen versicherten Objekte zugeordnet[] werden, für die im lokalen Cache der betreffenden Prozessoreinheit (31, 31', 31") eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert ist,
Steuermodule (311) zum Steuern der Prozessoreinheiten (31, 31 ', 31 ") derart, dass die Prozessoreinheiten (31, 31 ', 31 ") jeweils basierend auf ihnen zugewiesenen Instruktionsdaten und basierend auf einer durch die Zuordnung der versicherten Objekte zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet bestimmten Schadenempfindlichkeitsfunktion Teilschadenangaben berechnen für einen erwarteten Schaden durch eines der Naturkatastrophenereignisse an einem der versicherten Objekte, wobei das Steuermodul 311 die Teilschadenangaben für die versicherten Objekte, für die durch Risikogebiet und Risikotyp definierten Risikoeinheiten und für die Risikogruppen aggregiert und die aggregierten Teilschadenangaben in der Datenbank (2) speichert, und
ein Schadenberechnungsmodul (13) zum Bestimmen eines erwarteten Schadens für das gesamte Portfolio (L3) basierend auf den aggregierten Teilschadenangaben der Datenbank (2).
11. Computerimplementiertes Verfahren für mehreren vernetzten Prozessoreinheiten (31, 31', 31") zur auf die mehreren Prozessoreinheiten (31, 31', 31") verteilten Berechnung von erwarteten Schäden durch Naturkatastrophenereignisse an einer Vielzahl von versicherten Objekten eines Portfolios (L3), umfassend:
Verbinden mehrere Prozessoreinheiten (31, 31', 31") mit einer zentralen Datenbank (2) und einer Koordinationseinheit (10) über ein Telekommunikationsnetzwerk (4), wobei die Datenbank (2) historische oder simulierte Naturkatastrophenereignisse für einen definierten Zeitraum von mindestens mehreren hundert Jahren umfasst, und wobei die Naturkatastrophenereignisse mindestens eine Ereignisidentifizierung, ein Ereignistyp, ein Ereignisort, eine Ereignisintensität und eine Ereignisfrequenz umfassen,
Zuordnen (S1) der Objekte des Portfolios mittels eines Datenstrukturierungsmodul (11) zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet einer Risikogruppe (L2), wobei in der die Datenbank (2) zu jedem der Vielzahl von Objekten ein Objektschlüssel umfassend mindestens eine Risikogruppe (L2), eine Risikoeinheit und ein Deckungsumfangstyp zugeordnet abgespeichert wird,
Definieren einer Vielzahl von ausführbaren
Schadensempfindlichkeitsfunktionen umfassend in der Datenbank (2), wobei in Abhängigkeit von der dem Objektschlüsselzugeordneten Risikogruppe, Risikogebiet, Risikotyp und Deckungsumfangstyp eine Schadensempfindlichkeitsfunktion mittels der Datenbank (2) bestimmbar ist und wobei mittels der bestimmten Schadensempfindlichkeitsfunktion basierend auf einer Ereignisstärke oder -Intensität am Ort eines Objektes ein Schadensgrad für ein gespeichertes Naturkatastrophenereignisse mit einem Ereignistyp bestimmbar ist,
Bereitstellen (S2) und Übermitteln von verschiedenen Instruktionsdaten für jeweils eine von den mehreren Prozessoreinheiten (31, 31', 31") mittels des Instruktionsgenerators (12), welche Instruktionsdaten Angaben zu mindestens einem Teil der versicherten Objekte und deren Zuordnung zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet einer Risikogruppe (L2) umfassen, wobei die Instruktionsdaten für die Prozessoreinheiten jeweils für unterschiedliche auf die Prozessoreinheiten aufgeteilte Teilbereiche der Naturkatastrophenereignisse bereitgestellt werden, welche verschiedene Risikogebiete zuordenbar zugeordnet sind, so dass die Instruktionsdaten für jeweils eine der Prozessoreinheiten mit Angaben zu Naturkatastrophenereignissen bereitgestellt werden, welche einem Risikogebiet zugeordnet sind, für das der betreffenden Prozessoreinheit mindestens ein versichertes Objekt zugeteilt ist,
Aufteilen und Übertragen der Schadensempfindlichkeitsfunktionen zur Speicherung im lokalen Cache (312) der Prozessoreinheiten (31, 31', 31") für die Berechnung von Teilschäden auf den Prozessoreinheiten (31, 31', 31"), wobei in den lokalen Caches der Prozessoreinheiten jeweils mindestens eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert wird, wobei die Instruktionsdaten für die Prozessoreinheiten bereitgestellt werden, deren Zuordnungen zu einem Risikotyp und geographischen Risikogebiet jeweils eine im lokalen Cache gespeicherte Schadenempfindlichkeitsfunktion bestimmen,
Zuweisen jeder Prozessoreinheit (31, 31', 31") einer möglichst gleichmässige Anzahl Objekte, wobei die Schadensempfindlichkeitsfunktion und Objekte auf die Prozessoreinheiten (31, 31', 31") verteilt werden, und wobei einer Prozessoreinheit (31, 31', 31 ") nur diejenigen versicherten Objekte zugeordnete werden, für die im lokalen Cache der betreffenden Prozessoreinheit (31, 31', 31") eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert ist,
Steuern der Prozessoreinheiten (31, 31', 31") jeweils durch Steuermodule (311) derart, dass die Prozessoreinheiten (31, 31', 31") jeweils basierend auf der in den für sie bereitgestellten Instruktionsdaten enthaltenen Zuordnung der versicherten Objekte zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet eine zu verwendende Schadenempfindlichkeitsfunktion bestimmen, wobei jeweils basierend auf den für sie bereitgestellten Instruktionsdaten und basierend auf der bestimmten Schadenempfindlichkeitsfunktion Teilschadenangaben für den erwarteten Schaden durch eines der Naturkatastrophenereignisse an einem der versicherten Objekte berechnet (S4) werden, und wobei das entsprechende Steuermodul (331) die Teilschadenangaben für die durch Risikogebiet und Risikotyp definierten Risikoeinheiten (L 1) und/oder Risikogruppen (L2) aggregiert und als aggregierte Teilschadensangaben in der Datenbank (2) speichert,
Bestimmen eines erwarteten Schadens (S5) für das gesamte Portfolio (L3) mittels des Schadenberechnungsmoduls (13) basierend auf den aggregierten Teilschadenangaben der Datenbank (2)."
Die Erfindung
1. Die Anmeldung betrifft die Berechnung von erwarteten Schäden durch Naturkatastrophenereignisse (auch kurz: "Ereignisse") an den versicherten Objekten eines Portfolios (Seite 1 der Beschreibung, erster Absatz). Die Objekte könnten Gebäude sein, ihre Zahl könne in die Hunderttausende gehen, und auch die Zahl der zur Schätzung verwendeten Parameter (z.B. "Schadenempfindlichkeitsfunktionen" oder vergangene Naturkatastrophenereignisse) könne erheblich sein (Seite 1, Absatz 2, bis Seite 2, Absatz 1). Die Anmeldung stellt sich die Aufgabe, die Schätzungen bei reduzierter Rechenzeit aber gleicher Rechengenauigkeit zu erzielen (Seite 2, Absatz 2).
1.1 Erfindungsgemäß wird das Portfolio in "Risikogruppen" und "Risikoeinheiten" organisiert, jeweils durch ein "geografisches Risikogebiet" und einen "Risikotyp" definiert, denen jeweils ein "Deckungsumfang" entspricht (Seite 8, Absatz 7, bis Seite 9, Absatz 1, und Abbildung 2). In einer Datenbank sind die versicherten Objekte (Seite 10, Tabelle 1), sowie Ereignisse aus einer (u.U. sehr) langen Zeitspanne mit ihren charakteristischen Daten gespeichert (wie Ort, Intensität, Wahrscheinlichkeit und Frequenz). Außerdem sind dort sogenannte "Schadenempfindlichkeitsfunktionen" gespeichert, die den Schadensgrad eines versicherten Objekts abhängig von Ereignistyp, -stärke oder -intensität angeben (Seite 9, letzter Absatz, bis Seite 10).
1.2 Die Erfindung sieht mehrere Prozessoreinheiten (Abbildung 4, Ziffern 31, 31', 31'') mit jeweils einschlägigen Komponenten wie einem Cache oder einem programmierten Steuermodul vor.
1.3 Die Beschreibung stellt dar, wie mittels verschiedener Parameter die "[a]ggregierte[n] erwartete[n] Schäden an den versicherten Objekten" bestimmt werden (Seite 11, Absatz 2). Es wird weiter beschrieben, und nun auch beansprucht, dass gemäß einer Ausführungsform in den lokalen Caches der Prozessoren jeweils eine oder mehrere Schadensempfindlichkeitsfunktionen gespeichert werden, und den Prozessoren diejenigen "Instruktionsdaten" betreffend solcher "Objekte" übertragen werden, die den dort gespeicherten Schadenempfindlichkeitsfunktionen entsprechen (vgl. Seite 5, Absatz 2, 1. Satz, sowie Seite 12, Absatz 2, Zeilen 18-22).
1.4 Die Zuordnung der Objekte erfolgt über einen sogenannten "Objektschlüssel", die je Objekt anhand von Parametern gebildet werden, von denen ihrerseits die Schadenempfindlichkeitsfunktionen abhängen (vgl. Seite 12, Zeilen 12-18). Nach der Beschreibung auf Seite 10 sowie der Tabelle 1 handelt es sich dabei um Portofolio, Risikogruppe, Risikoeinheit und Deckungsumfang.
1.5 Darüber hinaus seien die versicherten Objekte nach Anzahl so gleichmäßig wie möglich auf die Prozessoreinheiten aufzuteilen (Seite 12, Absatz 2, letzter Satz). Nach und entsprechend dieser Aufteilung werden dann für jedes versicherte Objekt die Teilschäden berechnet, und die Einzelergebnisse aggregiert, gespeichert und in ein Gesamtergebnis zusammengeführt (Seite 16).
Die Entscheidung der Prüfungsabteilung
2. Die Prüfungsabteilung kam zu dem Ergebnis (Punkt 10.4 der Gründe), dass es sich bei der (seinerzeit) beanspruchten Erfindung um die Verwendung eines bekannten Multiprozessorsystems (vgl. D1 und D2) für einen nicht-technischen Zweck handele, nämlich der Berechnung von zu erwartenden Schadenssummen, dass sie "keine Lösung eines technischen Problems mit neuartigen und technisch originären Mitteln" darstelle und damit nicht erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ sei.
2.1 In ihrer Diskussion der Argumente der Anmelderin stellt sie unter anderem fest, dass der beanspruchte Gegenstand weder dadurch technisch werde, dass er sich auf Naturkatastrophen beziehe (Punkt 11.2) noch dass er mathematische Methoden verwende (Punkt 11.3).
2.2 Zur Aufteilung der Berechnungen auf die Prozessoren stellt sie fest (Punkte 11.5 und 11.6), dass eine gleichmäßige Lastverteilung in Multiprozessorsystemen grundsätzlich bekannt sei (sich die Frage "zwangsläufig" stelle, "welche (Teil-) Aufgabe auf welchem Prozessor ausgeführt werden soll"), dass nicht offenbart sei, "welche abstrakte Klassifizierung mit einem konkreten Rechenleistungsbedarf verbunden" sei und dass die Verteilung nach "regionalen Kriterien" eine administrative sei. Die Prüfungsabteilung stellt dann weiter fest, dass "aus der administrativen Entscheidung[,] die Prozessoren nach regionalen Kriterien zu vergeben," unmittelbar folge, "dass diese diese Prozessoren nur solche Schadensfunktionen implementieren müssen, die in diesen Regionen überhaupt auftreten".
Zulassung geänderter Ansprüche
3. In ihrer vorläufigen Meinung hat die Kammer im Wesentlichen der Prüfungsabteilung zugestimmt. Der vorliegende Anspruchssatz wurde erst nach der mündlichen Verhandlung eingereicht, und seine Zulassung unterliegt daher dem Artikel 13(2) VOBK 2020.
3.1 Im Laufe der mündlichen Verhandlung konnte die Beschwerdeführerin die Kammer davon überzeugen, dass der Erfindung - bisher unberücksichtige - technische Überlegungen zugrunde lagen, wenn auch zweifelhaft blieb, ob die Ansprüche zu diesem Zeitpunkt diese Wirkung deutlich genug zum Ausdruck brachten. Die Kammer hält es allerdings für glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin bei der Prüfungsabteilung mit ihrem einschlägigen Vortrag nicht durchdringen konnte.
3.2 Die Kammer hält diesen Umstand für einen außergewöhnlichen Umstand, der durch stichhaltige Gründe belegt wurde. Darüber hinaus ist die Kammer der Ansicht, dass die behauptete technische Wirkung nun tatsächlich aus den geänderten Ansprüchen hervorgeht, so dass eine weitere Entscheidung angezeigt ist. Aus diesem Grund lässt die Kammer den verspäteten Änderungsantrag zu.
Die geänderten Ansprüche
4. Die unabhängigen Ansprüche des vorliegenden Anspruchssatzes formulieren nun ausdrücklich, dass
"in den lokalen Caches der Prozessoreinheiten jeweils mindestens eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert wird, wobei die Instruktionsdaten für die Prozessoreinheiten bereitgestellt werden, deren Zuordnung zu einem Risikotyp und geografischen Risikogebiet jeweils eine im lokalen Cache gespeicherte Schadenempfindlichkeitsfunktion bestimmen",
sowie, dass
"die Schadensempfindlichkeitsfunktion und Objekte auf die Prozessoreinheiten verteilt werden, und wobei einer Prozessoreinheit nur diejenigen versicherten Objekte zugeordnet[] werden, für die im lokalen Cache der betreffenden Prozessoreinheit eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert ist".
4.1 Die Kammer stimmt zunächst der Einschätzung der Prüfungsabteilung darin zu, dass es nicht zum technischen Charakter der Erfindung beiträgt, dass der zu erwartende Schaden aus Daten über Naturkatastrophen bestimmt wird. Die Datenerhebung ist nicht Gegenstand des Anspruchs, und die beabsichtigte Berechnung unterliegt vorrangig versicherungstechnischen Erfordernissen und dient einem nicht-technischen Zweck (oder, wie die Beschwerdeführerin vorzieht zu sagen, einer "nicht-technischen Zielsetzung", vgl. Beschwerdebegründung, Seite 4, Absatz 2, bis Seite 5, Absatz 2). Darüber hinaus sind die Daten im Hinblick auf diese Berechnung nur versicherungstechnisch kategorisiert (vgl. Tabelle 1).
4.2 Es ist unbestritten, dass die angestrebte Schadenberechnung aufgrund der großen Zahl der zu berücksichtigten Objekte und Parameter eine erheblichen Rechenaufwand nötig macht. Die Kammer stimmt daher der Prüfungsabteilung auch darin zu, abweichend von der Meinung der Beschwerdeführerin (vgl. Schreiben vom 16. Januar 2023, Seite 8, letzter Absatz), dass der Fachmann für eine Beschleunigung der beabsichtigten Berechnungen die Verwendung eines wohlbekannten Multiprozessorsystems in Betracht ziehen würde. Er wäre sich bewusst, dass die wirksame Parallelisierung einer gegebenen Berechnungsaufgabe oder eines gegebenen Programms als schwierig erweisen könnte, würde sich aber davon nicht schon vom Versuch abhalten lassen. Möglichen Schwierigkeiten würde sich der Fachmann beim Umsetzungsversuch widmen.
4.3 Hingegen folgt die Kammer der Beschwerdeführerin darin, dass die Art und Weise, wie die Verteilung der Berechnung auf die verfügbaren Prozessoren durchaus eine technische Wirkung haben kann, selbst wenn diese in den Dienst einer nicht-technischen Aufgabe gestellt wird. Mit anderen Worten akzeptiert die Kammer als eine technische Aufgabe (oder, wie die Beschwerdeführerin sagt, einen technischen Zweck, vgl. Seite 5, Absatz 3), die beabsichtigte - und als nicht-technisch gegebene (vgl. T 641/00, Leitsatz 2) - Berechnung in effizienter Weise durchzuführen.
4.4 Die Beschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass eine "naive" Verteilung der Berechnungsaufgaben auf die verfügbaren Prozessoren das Ziel einer effizienten Berechnung verfehlen oder nicht zufriedenstellend erreichen würde. Aus Ansprüchen und Beschreibung geht hervor, dass bei der Berechnung der Schadenserwartung für ein einzelnes Objekt die jeweils einschlägige Schadenempfindlichkeitsfunktion im Cache des jeweiligen Prozessors gespeichert wird. Wenn nun die Einzelobjekte als die primär zu verteilenden Aufgaben angesehen würden, so müssten, je nach Reihenfolge, in der die Objekte zur Verteilung anstehen, die einschlägigen Schadensempfindlichkeitsfunktionen häufig ermittelt und in den Cache des gewählten Prozessors übertragen werden. Die Beschreibung offenbart das Ziel, diese "Zeit für die Anfrage und Übermittlung der Schadenempfindlichkeitsfunktionen [einzusparen]" (vgl. Seite 5, Absatz 2).
4.5 Im Unterschied zum skizzierten naiven Ansatz verteilt die Erfindung daher zunächst die Schadenempfindlichkeitsfunktion auf die (Caches der) verfügbaren Prozessoren, und weist dann den Prozessoren jeweils diejenigen Objekte (bzw. einschlägige Instruktionen) zu, "für die im lokalen Cache [...] eine Schadensempfindlichkeitsfunktion gespeichert ist".
4.6 Der Vollständigkeit halber sei hier daran erinnert, dass die Objekte durch ihren "Objektschlüssel" gruppiert werden (vgl. Seite 10, Tabelle 1) und eine Schadenempfindlichkeitsfunktion jeweils durch einen Objektschlüssel bestimmt werden (vgl. den Satz, der Seiten 15 und 16 der Beschreibung verbindet). Das heißt insbesondere, dass dieselbe Schadenempfindlichkeitsfunktion für mehrere Objekte verwendet wird, wobei es übrigens unbestreitbar erscheint, dass die Anzahl der Einzelobjekte um ein Vielfaches größer sind als die der Schadenempfindlichkeitsfunktionen.
4.7 Damit beruht die nun beanspruchte Lösung auf dem technischen Umstand, dass der durch Parallelisierung theoretisch mögliche Zeitgewinn grundsätzlich (und insbesondere) um den Mehraufwand reduziert wird, der durch die tatsächliche Verteilung der Teilaufgaben auf die Prozessoren entsteht, und auf der Überlegung, diesen Mehraufwand bei der Auswertung der gegebenen Rechenaufgabe zu beschränken.
Stand der Technik
5. Die Kammer ist daher der Meinung, dass ein Mangel an erfinderischer Tätigkeit des nun beanspruchten Gegenstands nicht allein dadurch begründet werden kann, dass "ein Multiprozessorsystem, in dem eine Vielzahl von miteinander verbundener, Instruktionen ausführender Prozessoren unter Verwendung eines Datenspeichers in Form einer Datenbank gemeinschaftlich eine Aufgabe ausführen", wie sie aus D1 und D2 bekannt seien (gl. Entscheidung, Gründe 10.3).
6. Die Kammer räumt auch ein, dass sowohl D1 als auch D2 anscheinend eine Parallelisierung auf Instruktionsebene betreffen (vgl. D1, Absatz 19, sowie D2, Zusammenfassung), anstatt einer Parallelisierung auf Anwendungsebene wie die vorliegende Erfindung (vgl. auch das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 16. Januar 2023, Seite 9, Absatz 4 ff., in dem in dieser Hinsicht von "Code-Level" im Unterschied zu "Objekt- bzw. Task-Level" gesprochen wird). Ob allerdings dieser Unterschied alleine dazu führt, dass die Dokumente D1 und D2 nicht mehr einschlägig sind oder dass eine erfinderische Tätigkeit diesen Dokumenten gegenüber festgestellt werden muss, lässt die Kammer ausdrücklich offen.
7. Gleichzeitig scheinen die Dokumente D1 und D2 tatsächlich nicht den technischen Kern der vorliegenden Erfindung zu betreffen, so dass bezweifelt werden kann, ob die aktenkundigen Dokumente eine vollständige Recherche für den nun beanspruchten Gegenstand darstellen. In keinem Fall kann die Kammer daher zu einem Erteilungsbeschluss kommen, ohne dass wenigstens die Möglichkeit einer Zusatzrecherche in Betracht gezogen worden ist.
8. Daher verweist die Kammer die Sache zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung, auf Grundlage möglicherweise einer zusätzlichen Recherche der geänderten Ansprüche.
Weitere Bemerkungen
9. Die Kammer erlaubt sich zwei weitere Bemerkungen zu den vorliegenden Ansprüchen, denen sich die Prüfungsabteilung vor ihrer weiteren Entscheidung widmen möge.
10. Die unabhängigen Ansprüche erwähnen, dass der Objektschlüssel "mindestens eine Risikogruppe, eine Risikoeinheit und ein[en] Deckungstyp" umfasst, aber gleichzeitig, dass einem Objektschlüssel "Risikogruppe, Risikogebiet, Risikotyp und Deckungsumfang" zugeordnet ist. Die Kammer hält diese Abweichung für einen Klarheitsmangel, Artikel 84 EPÜ 1973. Es sei auch angemerkt, dass der Objektschlüssel gemäß Tabelle 1 ausdrücklich auch das Element "Portfolio" enthält.
11. Die unabhängigen Ansprüche enthalten auch noch das Ziel, dass "jeder Prozessoreinheit eine[] möglichst gleichmäßige Anzahl Objekte [zugewiesen] wird", jedoch keine Merkmale, die diesem Ziel dienten. Die oben diskutierte Verteilung zunächst der Schadenempfindlichkeitsfunktionen und dann der betreffenden Objekte jedenfalls stellt dieses Ziel nicht sicher, da über die Verteilung der Objekte je Schadenempfindlichkeitsfunktion nichts bekannt ist.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.