T 0085/20 12-10-2022
Download und weitere Informationen:
NUTZFAHRZEUGAUFBAU
Fahrzeugwerk Krone
Beteiligungs-GmbH
Erfinderische Tätigkeit - ausgehend von Dokument D1 (ja)
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - besondere Gründe (ja)
I. Die Anmelderin (Beschwerdeführerin) hat gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 13. August 2019, mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 16002273.7 zurückgewiesen worden ist, Beschwerde eingelegt.
II. Die Prüfungsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des mit Schreiben vom 8. April 2019 eingereichten Anspruchs 1 nicht erfinderisch sei, und hat folgendes Dokument als nächstliegenden Stand der Technik angesehen:
D1: DE 10 2010 017605 A1.
Sie sah den Unterschied des Gegenstands von Anspruch 1 gegenüber D1 in zwei Merkmalsgruppen, die zwei nicht als verknüpft angesehene Probleme lösten und aus folgenden Dokumenten bekannt seien:
D3: DE 20 2007 008534 U1;
D4: US 3 926 237 A.
III. In der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA Juli 2109, A63) hat die Kammer als vorläufige Meinung zu der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Patentanspruchsfassung (die bis auf redaktionelle Korrekturen der Eingabe vom 8. April 2019 entspricht) geäußert, dass sie keine Veranlassung sehe, von der Entscheidung der Prüfungsabteilung abzuweichen. Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Anmelderin nach Auffassung der Kammer nicht nachgewiesen habe, dass die im vorliegenden Anspruch 1 spezifizierten Merkmale wie behauptet den Anforderungen an einen zollsicheren Verschluss genügten.
IV. Mit Schreiben vom 31. August 2022 argumentierte die Beschwerdeführerin erstmalig, warum D1 nicht als nächstliegender Stand der Technik geeignet sei und dass vor diesem Hintergrund die Aufgabenstellung der Prüfungsabteilung nicht nachvollziehbar sei. Zum Nachweis der Zollsicherheit des Anmeldungsgegenstandes fügte sie eine eidesstattliche Versicherung des Erfinders Herrn Reibe sowie weitere Anlagen A bis H bei, wonach der Zoll selbst die Zollsicherheit des Anmeldungsgegenstandes bereits im Jahre 2015 bestätigt habe.
In Ergänzung dieser Eingabe vom 31. August 2022 bot die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 7. September 2022 Herrn Reibe als Zeuge an.
V. In Vorbereitung der für den 28. September 2022 anberaumten mündlichen Verhandlung kam die Kammer aufgrund der neuen Argumente zu der vorläufigen Auffassung, dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben sei, und teilte dies der Beschwerdeführerin am 21. September 2022 telefonisch mit.
VI. Mit Schreiben vom 22. September 2022 beantragte die Beschwerdeführerin, den Zurückweisungsbeschluss der Prüfungsabteilung vom 13. August 2019 aufzuheben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, hilfsweise eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
VII. Angesichts dieser Antragslage beschloss die Kammer, den für den 28. September 2022 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben und das Verfahren schriftlich fortzusetzen.
VIII. Der vorliegende Anspruch 1 lautet wie folgt (in der Merkmalsgliederung der angefochtenen Entscheidung):
a) Nutzfahrzeugaufbau mit Seitenwandungen, einer Stirnwand, einer Heckwand sowie mit zumindest einer über Türscharniere (4) schwenkbeweglichen, insbesondere in der Heckwand angeordneten Tür (2, 3) zur Begrenzung eines Laderaumes, wobei die Tür (2, 3) über zumindest ein Türscharnier (4) an einem Aufbauteil des Fahrzeugaufbaus festgelegt ist, dadurch gekennzeichnet, dass ein Türscharnier (4) der Tür (2, 3) über eine Schraubverbindung mit einem Aufbauteil des Nutzfahrzeugaufbaus verbunden ist und dass die Schraubverbindung eine Schraube (10) mit einem Schraubenkopf (12)
b) mit einer daran vorgesehenen Sperrverzahnung (14) und mit einer Unterlegscheibe (16) mit einer weiteren Sperrverzahnung (15) umfasst, wobei die Sperrverzahnung (14) der Schraube (10) und die Sperrverzahnung (15) der Unterlegscheibe (16) einander zugewandt zusammenwirken, und
c) wobei der Schraubenkopf (12) einen ringförmigen glatten Außenbereich aufweist und eine Ausnehmung (13) zum Einführen eines Montagewerkzeuges aufweist, wobei die Ausnehmung (13) durch eine verliersicher eingebrachte Sicherungskugel (17) die Schraube (16) gegen eine Demontage sichert, und
d) wobei die Unterlegscheibe (16) an ihrer der Sperrverzahnung (15) gegenüberliegenden, dem Türscharnier (4) zugewandten Auflagefläche eine Verrippung (18) aufweist und
e) die Verrippung (18) durch mit Abstand zueinander vorgesehene Stege im Verlaufe der Montage der Schraube (10) in den Werkstoff des Türscharniers (4) eindrückbar ist.
IX. Das für die vorliegende Entscheidung relevante Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
In D1 (siehe Absatz [0016] oder [0026]) seien mit der Bezugsziffer 23 "Innengewindebuchsen" gekennzeichnet, die (als Teil des in Fig. 4 gezeigten Flansches) die relativ zu den einzudrehenden Schrauben feststehenden Gegenstücke bildeten. Die Innengewindebuchsen seien weder "Schraubverbindungen" noch "Schrauben", so dass die Begründung der Prüfungsabteilung betreffend der Offenbarung bereits fehlerhaft sei, und wiesen keine Ausnehmungen zum Einführen eines Montagewerkzeuges auf. Zur Montage des gezeigten Beschlags 15/16 (aufgelegt mit seiner in der Fig. 4 vom Betrachter abgewandten Oberfläche auf das Deckblech des Türflügels) ließen sich die Befestigungsschrauben durch den jeweiligen Türflügel von innen in die Innengewindebuchse einführen. Etwaige Schraubenköpfe der Befestigungsschrauben (in D1 nicht offenbart) befänden sich im montierten Zustand innerhalb des Laderaumes.
Vor diesem Hintergrund scheine D1 bereits nicht als nächstliegender Stand der Technik oder erfolgsversprechender Ausgangspunkt für die Erfindung geeignet. Ebenso sei die Aufgabenstellung der Prüfungsabteilung nicht nachvollziehbar, die von der Merkmalsgruppe c) ("Sicherungskugel") ausgehend die objektive technische Aufgabe in einer Sicherung gegen Demontage gesehen habe. Bei den Befestigungsschrauben gemäß der D1 bestehe das Risiko einer Demontage nicht mehr, da die Hecktüren während des Transports verriegelt seien (siehe die in Fig. 1 der D1 dargestellten, üblichen vier Verriegelungseinheiten) und bei bestehendem Zugang zum Laderaum keinerlei Anlass zur Demontage bestünde. Die D1 verhindere bereits das unbefugte Herausdrehen der Befestigungsschrauben auf andere Weise, so dass die Aufgabe ausgehend von D1 allenfalls in der Bereitstellung einer Alternativlösung bestehe.
Selbst bei Annahme der von Prüfungsabteilung ausgehend von der Merkmalsgruppe c) gestellten Aufgabe sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Unterschiedsmerkmale unterschiedliche und nicht verknüpfte Aufgaben lösten. Es sei unklar, wie die Prüfungsabteilung ausgehend von den Merkmalsgruppen b), d) und e) ("Sperrverzahnung") zu der Aufgabe gelangt sei, die Schraube verliersicher zu befestigen; sie habe sich dabei einer unzulässigen, rückschauenden Betrachtungsweise bedient. Diese nicht nachvollziehbare Aufgabe ergebe sich nicht aus den Merkmalen, da ausreichend fest angezogene Schrauben sich aufgrund der Selbsthemmung des Gewindes nicht ohne äußere Einwirkung lösten. In den Anmeldungsunterlagen werde auch keine entsprechende technische Wirkung genannt, sondern explizit angegeben (Absatz [0007]), dass durch die Sperrverzahnung sichergestellt sei, dass auch der Schraubenkopf nach der Montage nicht verdreht werden könne (insbesondere, unter Berücksichtigung der Sicherungskugel, bei einer Krafteinleitung über den glatten Außenbereich des Schraubenkopfes). Diese technische Wirkung entspreche exakt derjenigen der Merkmalsgruppe c).
Beide Merkmalsgruppen lösten also dieselbe objektive technische Aufgabe der Sicherung der Schraube gegen eine Demontage. Erst durch die Kombination aus Sperrverzahnung und Sicherungskugel werde verhindert, dass äußerlich eine ausreichend große Kraft einzuleiten sei, um die Schraube herauszudrehen. Das habe auch der Zoll bestätigt, wobei zum Nachweis der Zollsicherheit eine eidesstattliche Versicherung des Erfinders mit weiteren Anlagen eingereicht worden sei. In den Anmeldungsunterlagen werde die Aufgabe definiert, einen Nutzfahrzeugaufbau zur Verfügung zu stellen mit einer zollsicheren Befestigung der Tür an einem Wandungsteil des Nutzfahrzeugaufbaus, die in montagefreundlicher Weise realisiert werden könne.
Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Aufgabe sei ein Indiz für die erfinderische Tätigkeit, dass sich die Merkmale des Anspruchs 1 erst aus drei Dokumenten ergeben, wobei die Dokumente D3 und D4 in keinerlei Bezug zueinander stünden. Die von der Prüfungsabteilung gestellte Aufgabe lasse sich nicht mehr durch D3 lösen, da ausgehend von D1 keine Demontage der Befestigungsschrauben drohe (s. o.). D3 löse auch nicht die Aufgabe, eine Alternativlösung bereitzustellen, da der Fachmann die Sicherungskugeln der D3 für die Schraubverbindungen der D1 allenfalls übernehmen würde, wenn außenliegende Schraubenköpfe vorlägen; zu der dazu erforderlichen Umbildung des in D1 gezeigten Aufbaus habe der Fachmann keinerlei Anregung.
Zur Lösung der angemessenen objektiven technischen Aufgabe ("Sicherung der Schraube gegen Demontage") würde der Fachmann nicht die D4 heranziehen, die dazu keinen Anlass gebe.
1. Erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1
1.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist ausgehend von D1 als nächstliegendem Stand der Technik durch die in der angefochtenen Entscheidung zitierten Dokumente nicht nahegelegt (Artikel 56 EPÜ).
1.2 Die Beschwerdeführerin stimmt mit der angefochtenen Entscheidung darin überein, dass in Dokument D1 die Merkmalsgruppen b), c), d) und e) nicht offenbart sind. Zwar sind mit der Bezugsziffer 23 "Innengewindebuchsen" und keine "Schraubverbindungen" oder "Schrauben" (siehe Merkmalsgruppe a)) gekennzeichnet. In den von der Beschwerdeführerin angeführten Absätzen [0016] bzw. [0026] in D1 werden aber in die Innengewindebuchsen eindrehbare Schrauben erwähnt, so dass eine Schraubverbindung mit Schrauben auch aus D1 bekannt ist. Dass die Schrauben einen (wie auch immer gearteten) Schraubenkopf aufweisen, wird als implizit offenbart angesehen, so dass alle Merkmale der Merkmalsgruppe a) aus D1 vorbekannt sind.
1.3 Die Kammer folgt der Beschwerdeführerin darin, dass der in D1 (siehe Figuren 1 und 4) gezeigte Beschlag 15/16 (aufgelegt mit seiner in der Fig. 4 vom Betrachter abgewandten Oberfläche auf das Deckblech des Türflügels) mittels von innen durch den jeweiligen Türflügel eingeführten Befestigungsschrauben montiert wird. Schraubenköpfe der Befestigungsschrauben befinden sich daher im montierten Zustand innerhalb des Laderaumes und sind von außen nicht zugänglich, sobald (während des Transports) die Türflügel geschlossen und verriegelt sind, so dass sich das Risiko einer Demontage nicht mehr stellt. Solange der Laderaum noch frei zugänglich ist, besteht keinerlei Anlass, eine Sicherung gegen die Demontage der Befestigungsschrauben (zum Entfernen der Türen) durch Unbefugte vorzusehen.
1.4 Vor diesem Hintergrund ist die Aufgabenstellung der Prüfungsabteilung nicht nachvollziehbar, die ausgehend von D1 als nächstliegendem Stand der Technik und für das Unterschiedsmerkmal "Sicherungskugel" aus der Merkmalsgruppe c) die Wirkung und somit die objektive technische Aufgabe darin gesehen hat, dass die Schraube gegen Demontage gesichert werde. Daher ist bereits fraglich, ob der Fachmann auf das mit diesem Problem befasste Dokument D3 gestoßen wäre. Aber selbst bei Kenntnis der Lehre der D3 besteht wie vorstehend ausgeführt für den Fachmann kein Veranlassung, in D1 eine Sicherungskugel vorzusehen. Der Fachmann gelangt somit ausgehend von D1 nicht in naheliegender Weise zum Gegenstand des Anspruchs 1.
1.5 Die angefochtene Entscheidung ist somit bereits aus diesem Grund aufzuheben, und zwar unabhängig davon, ob mit den weiteren Unterscheidungsmerkmalen der Merkmalsgruppen b), d) und e) dieselbe (einzige) Aufgabe oder aber eine - gemäß der angefochtenen Entscheidung - andere Teilaufgabe gelöst wird.
2. Weitere Bemerkungen
2.1 In den Anmeldungsunterlagen (Absatz [0002]) wird als Ausgangspunkt der beanspruchten Erfindung beschrieben, dass herkömmlicherweise ein Schraubenkopf einer Schraubverbindung zur Befestigung der Türscharniere an einem Wandungsteil des Nutzfahrzeugsaufbaus verschweißt wird, um die Türen während des Transports zollsicher zu verschließen. Angesichts dessen kann die Kammer auch nicht erkennen, dass - wie von der Prüfungsabteilung angenommen - die D1 mit ihren innenliegenden Befestigungsschrauben den nächstliegenden Stand der Technik darstellen soll.
Der nächstliegende Stand der Technik ist somit neu zu ermitteln und ausgehend von diesem das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit neu zu bewerten, wobei gegebenenfalls die Vollständigkeit der Recherche zu überprüfen ist. Die Frage, welche objektive technische Aufgabe (oder welche Teilaufgaben) gelöst wird, ist ausgehend von dem dann ermittelten nächstliegenden Stand der Technik neu zu stellen.
2.2 Schließlich hat die Beschwerdeführerin in Reaktion auf den Einwand der Kammer in ihrer vorläufigen Meinung, dass nicht nachgewiesen sei, dass die im Anspruch 1 spezifizierten Merkmale wie behauptet den Anforderungen an einen zollsicheren Verschluss genügen, weitere Unterlagen einschließlich einer eidesstattlichen Versicherung des Erfinders Herrn Reibe eingereicht sowie Zeugenbeweis durch ihn angeboten.
3. Zurückverweisung an die erste Instanz
3.1 Nach Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ wird die Kammer entweder im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung tätig oder verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an diese zurück.
Artikel 11 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) besagt, dass eine Kammer die Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurückverweist, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen.
3.2 Da der Zweck des Beschwerdeverfahrens in erster Linie der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dient (Artikel 12 (2) VOBK 2020) und die Kammer zur Auffassung gelangt ist, nicht alle ausstehenden Fragen hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit (siehe oben, Punkte 2.1 und 2.2) mit angemessenem Aufwand abschließend beurteilen zu können, liegen hier besondere Gründe vor, die eine Zurückverweisung an die erste Instanz rechtfertigen.
3.3 Die Kammer verweist die Angelegenheit deshalb zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurück (Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ, Artikel 11 VOBK 2020).
3.4 Nachdem die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung nur hilfsweise für den Fall gestellt hat, dass keine Zurückverweisung erfolgt, konnte die Entscheidung über die Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung im schriftlichen Verfahren ergehen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.