T 0470/20 01-03-2022
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LAGERREGAL MIT AUTOMATISCHER LAGERORTBUCHUNG
Entscheidung im schriftlichen Verfahren
Rechtliches Gehör - wesentlicher Verfahrensmangel (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - entspricht der Billigkeit wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels
I. Die Patentinhaberin hat gegen die Entscheidung, mit der das europäische Patent Nr. 2 279 141 widerrufen wurde, form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent im gesamten Umfang unter Geltendmachung der Einspruchsgründe gemäß
Artikel 100 a) und c) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit sowie unzulässige Erweiterung) EPÜ angegriffen worden.
Die Einspruchsabteilung entschied, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents in der erteilten Fassung und gemäß den Hilfsanträgen 3 bis 6 den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ nicht genügt. Die Hilfsanträge 1 und 2 wurden ins Verfahren nicht zugelassen. Die Einspruchsabteilung entschied ferner, keine weiteren Hilfsanträge der Patentinhaberin ins Verfahren zuzulassen.
III. Die Parteien stellten folgende Anträge zur Entscheidung:
für die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin),
die angefochtene Entscheidung aufzuheben,
den Einspruch an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen und
die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen,
hilfsweise, das Streitpatent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten,
weiter hilfsweise, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen,
weiter hilfsweise, das Streitpatent in geänderter Fassung gemäß einem der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantragen I bis XII aufrechtzuerhalten.
für die Einsprechende (Beschwerdegegnerin):
die Beschwerde zurückzuweisen,
hilfsweise, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
IV. Mit einer Mitteilung nach Regel 100 (2) EPÜ vom 30. April 2021 teilte die Kammer den Parteien das Ergebnis ihrer vorläufigen Beurteilung der Sach- und Rechtlage mit, derzufolge die Entscheidung aufzuheben sei, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen sein und der Antrag auf Ruckerstattung der Beschwerdegebühr stattgegeben werden dürfte.
V. Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2021 teilte die Beschwerdegegnerin mit, ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückzunehmen und der Zurückverweisung an der Einspruchsabteilung zuzustimmen, unter der Maßgabe, dass das Verfahren ausschließlich zur Verhandlung neuer noch nicht verhandelter Hilfsanträge an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen werde.
VI. Am 2. September 2021 erging die Ladung zu der für den 29. November 2022 anberaumten mündlichen Verhandlung.
VII. Mit Schriftsatz vom 10. September 2021 teilte die Beschwerdeführerin mit, die mit der Mitteilung vom 30. April 2021 bekanntgegebene Auffassung der Kammer zu teilen und argumentierte gegen die bedingte Zustimmung zur Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung seitens der Beschwerdegegnerin.
VIII. Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2021 stimmte die Beschwerdegegnerin uneingeschränkt einer Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zu und nahm ihren Antrag auf mündlichen Verhandlung unter der Maßgabe zurück, dass die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen werde.
IX. Die Kammer hob daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf und entschied im schriftlichen Verfahren.
X. Im Hinblick auf die Begründung der Entscheidung der Kammer ist eine Wiedergabe des Wortlauts von Ansprüchen des Patents in der erteilten Fassung und der Hilfsanträge nicht erforderlich.
XI. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Entscheidung im schriftlichen Verfahren
1.1 Die vorliegende Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß
Artikel 12 (8) VOBK 2020.
1.2 Der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ ist uneingeschränkt gewahrt, da die Parteien umfangreich zur Sache vorgetragen haben und die Kammer deren Vorbringen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat.
1.3 Soweit die Beschwerdegegnerin zunächst hilfsweise einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 (1) EPÜ gestellt hatte, hat sie diesen mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2021 zurückgenommen.
1.4 Da die Kammer der Beschwerde stattgibt, entfaltet deren dazu nachrangige Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung seitens der Beschwerdeführerin keine prozessuale Wirkung (Artikel 116 (1) EPÜ).
1.5 Die Beschwerdesache ist auf der Grundlage der zu überprüfenden angefochtenen Entscheidung und des wechselseitigen schriftsätzlichen Vorbringens der Parteien unter Wahrung deren Rechte gemäß Artikel 113 und 116 EPÜ entscheidungsreif (Artikel 15 (3) VOBK 2020), so dass der ursprünglich anberaumte Termin zur mündliche Verhandlung aufgehoben wird.
2. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren
2.1 Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass im Einspruchsverfahren ihr rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ verletzt wurde.
Die entsprechende vorläufige Stellungnahme der Kammer wurde den Parteien mit einer Mitteilung gemäß Regel 100 (2) EPÜ bekanntgegeben, und die Beschwerdegegnerin hat diesbezüglich nicht weiter vorgetragen. Die Kammer, nach erneuter Prüfung aller Umstände des Falles, sieht keinen Grund, von ihrer vorläufigen Auffassung abzuweichen und bestätigt diese als endgültig, wie im Folgenden ausgeführt wird.
2.2 Die Kammer schließt sich der Beschwerdeführerin an (siehe die Beschwerdebegründung, Punkt 2, erster Satz), dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung, keine weiteren Hilfsanträge nach dem ersten und zweiten Hilfsantrag zuzulassen, bevor einer dieser weiteren Anträge tatsächlich eingereicht worden war, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Artikel 113 (1) EPÜ darstellt.
2.3 Gemäß den Entscheidungsgründe, siehe Punkt 16.2, sah die Einspruchsabteilung nach der Diskussion der Parteien während der mündlichen Verhandlung bezüglich eines weiteren Hilfsantrages keine Möglichkeit, auf Grundlage der zitierten Absätze der Beschreibung und der erwähnten möglichen weiteren Änderungen die Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ zu überwinden. Somit kam die Einspruchsabteilung zum Schluss, keine weiteren Hilfsanträge zuzulassen (siehe Punkt 16.3 der Entscheidungsgründe).
2.4 Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe
9. Auflage 2019, Punkt IV.C.5.1.3, zweiter Absatz) liegt es im Ermessen der Einspruchsabteilung, Änderungen abzulehnen, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind. Ob eine Änderung sachdienlich ist, kann in der Regel nur anhand ihres Inhalts beantwortet werden, also erst dann, wenn sie tatsächlich vorliegt.
2.5 Obwohl die Beschwerdeführerin mögliche Merkmale eines neuen Hilfsantrages in der mündlichen Verhandlung dargestellt hatte (siehe Punkt 5 des Protokolls und Punkt 16 der Entscheidungsgründe), war im Zeitpunkt der Zurückweisung ein neuer Antrag noch nicht eingereicht, so dass die unter Punkt 5 des Protokolls erwähnte Diskussion nur in abstrakter Hinsicht stattfand.
2.6 Der Einspruchsabteilung war daher nicht bekannt, in welcher Art und Weise die Beschwerdeführerin auf die während der Diskussion vorgebrachten Einwänden reagieren würde und wie diese Einwände in der Formulierung eines Hilfsantrages berücksichtigt gewesen wären.
2.7 Die Einspruchsabteilung war daher objektiv gar nicht in der Lage zu beurteilen, ob der bloß angekündigte Hilfsantrag sachdienlich sein könnte oder nicht.
2.8 Durch die Verweigerung, neue Hilfsanträge a priori einreichen zu dürfen, hat die Einspruchsabteilung der Beschwerdeführerin das Recht verwehrt, ihren Fall ausführlich zu verteidigen und hat damit ihr rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ verletzt.
2.9 Die Kammer hält es nicht für zweckmäßig, auf die Argumentation der Beschwerdegegnerin einzugehen (siehe Punkt II der Beschwerdeerwiderung), da diese sich nicht mit der Tatsache befasst, dass die Einspruchsabteilung keinen weiteren Hilfsantrag auf der Grundlage zugelassen hat, dass sie keine Möglichkeiten zur Überwindung der Einwände bezüglich Artikel 123 (2) EPÜ sah.
3. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung und Ruckerstattung der Beschwerdegebühr
Nach der Auffassung der Kammer liegt somit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung gemäß Artikel 111 (1) EPÜ im Sinne vom Artikel 11 VOBK 2020 rechtfertigt.
Zudem begründet die Verweigerung, neue Hilfsanträge a priori einreichen zu dürfen, zugleich das Vorliegen von Billigkeitsgründen im Sinne von Regel 103 (1) a) EPÜ. Die Erfordernisse der Regel 103 (1) a) EPÜ sind insgesamt erfüllt, so dass die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen ist.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur
weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.