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T 1244/20 06-07-2023
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RAUHEITS-MESSINSTRUMENT ZUM EINSATZ IN EINER WERKZEUGMASCHINE UND VERFAHREN ZUR RAUHEITSMESSUNG IN EINER WERKZEUGMASCHINE
Patentansprüche - Klarheit
Patentansprüche - Hauptantrag (nein)
Änderung des Vorbringens - Änderung räumt Einwände aus (nein)
Änderung des Vorbringens - Hilfsanträge I bis V
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - Hilfsanträge VI bis X
I. Die Einsprechende hat gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent Nr. 3044539 in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten, Beschwerde eingelegt.
II. Mit dem Einspruch war das Patent in gesamtem Umfang im Hinblick auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 (1) und 56 EPÜ, sowie nach Artikel 100 b) und c) EPÜ angegriffen worden.
III. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem Hilfsantrag 1 das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügten.
IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020, die als Anlage einer Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige und unverbindliche Meinung zu bestimmten, wesentlichen Aspekten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens mit.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 6. Juli 2023 statt.
VI. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Streitpatents.
VII. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde oder, hilfsweise, die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß einem der mit ihrer Beschwerdeerwiderung vom 1. Dezember 2020 eingereichten Hilfsanträge I bis V oder gemäß einem der Hilfsanträge VI bis X, eingereicht als Hilfsanträge I bis V mit Schreiben vom 24. September 2019.
VIII. Die Eingaben der Einsprechenden werden wie folgt bezeichnet:
O1: Beschwerdebegründung, eingereicht mit Schreiben vom 17. Juli 2020,
O2: Schreiben vom 10. Mai 2023.
Die Eingaben der Patentinhaberin werden wie folgt bezeichnet:
P1: Beschwerdeerwiderung, eingereicht mit Schreiben vom 1. Dezember 2020,
P2: Schreiben vom 17. November 2022,
P3: Schreiben vom 30. Juni 2023.
IX. Der Wortlaut des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (d.h. gemäß dem der Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrag 1) lautet:
"In eine Spindel einer Werkzeugmaschine anstelle eines Werkzeugs einzusetzender multidirektionaler Rauheitsmesseinsatz (M) zum Bestimmen einer für die Rauheit einer Oberfläche charakteristischen Messgröße, mit
- einem multidirektionalen Messwerk, das
-- einen Tragkörper (26), an dem zum Aufnehmen eines Taststifts (38) eine Taststiftaufnahme (36) angeordnet ist, und
-- einen Analogsensor (50), der Auslenkungen des Taststifts (38) in einer beliebigen Richtung in für die Rauheit einer Oberfläche eines Werkstücks (O) charakteristische Mess-Signale umsetzt, umfasst, und
- den mit dem Tragkörper (26) zu koppelnden Taststift (38), der
-- einen stangenförmigen Schaft (38) und
-- einen an dem Schaft (38) angebrachten Tastkopf (40) einer [sic] umfasst, wobei
- der Tastkopf (40) zumindest ein Abschnitt eines zumindest zu einem Abschnitt des stangenförmigen Schafts (38) im Wesentlichen rotationssymmetrischen Prüfkörpers ist, oder wobei
- der Tastkopf (40) zumindest ein Abschnitt eines im Wesentlichen rotationssymmetrischen Prüfkörpers ist, der an einem distalen Ende zumindest eines Abschnitts des stangenförmigen Schafts (38) angeordnet ist, und wobei
- der Prüfkörper eine Doppelkegelgestalt oder Doppelkegelstumpfgestalt hat und ein Bereich des größten Durchmessers des Prüfkörpers als Kontaktstelle zu einer zu messenden Oberfläche eines Werkstücks (O) ausgebildet ist, und wobei
- die Kontaktstelle durch zwei Doppelkegel- oder Doppelkegelstumpf-Mantelflächen gebildet ist, und die Kontaktstelle im Bereich des größten Durchmessers des Prüfkörpers abgerundet ist".
1. Hauptantrag - Klarheit
Anspruch 1 ist nicht klar (Artikel 84 EPÜ)
1.1 Begründung der fehlenden Klarheit des Anspruchs 1
1.1.1 Der Vorrichtungsanspruch 1 weist folgendes Merkmal F0 auf: "In eine Spindel einer Werkzeugmaschine anstelle eines Werkzeugs einzusetzender multidirektionaler Rauheitsmesseinsatz".
1.1.2 Der erteilte Vorrichtungsanspruch 1 wurde während des erstinstanzlichen Einspruchsverfahrens durch Hinzufügung des Merkmals F0 geändert. Das Merkmal F0 ist in keinem der erteilten abhängigen Vorrichtungsansprüche vorhanden. Daher kann diese Änderung des Anspruchs 1 auf die Erfüllung des Erfordernisses des Artikels 84 EPÜ geprüft werden (G 3/14, ABl. EPA 2015, A102).
1.1.3 Das Merkmal F0 spielte eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung der Einspruchsabteilung, denn allein aufgrund der Hinzufügung des Merkmals F0 in Anspruch 1 des damaligen Hauptantrags entschied die Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand des damaligen Hilfsantrags 1 eine erfinderische Tätigkeit aufweise. Ein Merkmal, dessen Klarheit zweifelhaft ist, kann allein nicht die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit eines beanspruchten Gegenstands begründen. Wie von der Einsprechenden während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen, muss das Merkmal F0 eine eindeutige, strukturelle Abgrenzung zu dem nächstliegenden Stand der Technik definieren. Bei der Prüfung der Klarheit des Merkmals F0 ist somit ein strenger Maßstab anzulegen.
1.1.4 Anspruch 1 beinhaltet keine Merkmale der Spindel, der Werkzeugmaschine oder des Werkzeugs. Daher sind die im Merkmal F0 des Anspruchs 1 genannten Gegenstände, nämlich Spindel, Werkzeugmaschine und Werkzeug, unbestimmt und können beliebig festgelegte Merkmale aufweisen. Daraus folgt, dass die Merkmale des beanspruchten multidirektionalen Rauheitsmesseinsatzes, die notwendig wären, um den Messeinsatz gemäß Merkmal F0 in eine Spindel einer Werkzeugmaschine anstelle eines Werkzeugs einzusetzen, ebenfalls unbestimmt sind und beliebig festgelegt werden können. Dies entspricht nicht dem Erfordernis des Artikels 84 EPÜ. Das Merkmal F0 definiert eigentlich eine Verwendung des beanspruchten Messeinsatzes, ohne dass entsprechende strukturelle technische Merkmale des Messeinsatzes eindeutig ableitbar wären.
1.2 Argumente der Patentinhaberin für die Klarheit des Anspruchs 1
1.2.1 Laut Vortrag der Patentinhaberin während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer verstehe der Fachmann die beanspruchte Erfindung sehr gut, nämlich dass gemäß Merkmal F0 ein Messeinsatz anstelle eines Werkzeugs in die Spindel einer Werkzeugmaschine eingesetzt werden könne. Insbesondere wisse er, was eine Spindel sei. Ausgehend von einer Werkzeugmaschine mit einer Spindel in der ein Werkzeug angeordnet sei, könne er das Werkzeug aus der Spindel entfernen und dann genau bestimmen, welche Merkmale der Messeinsatz haben müsse, damit der Messeinsatz anstelle des Werkzeugs in die Spindel eingesetzt werden könne. Um zu erkennen, ob ein Messeinsatz das Merkmal F0 erfülle, benötige der Fachmann somit keine genauen Angaben über die konkreten Abmessungen der Spindel, wie zum Beispiel Durchmesser, Länge oder Tiefe der Spindel. Daher sei das Merkmal F0 für den Fachmann klar.
Die Kammer kann dieses Argument nicht nachvollziehen. Denn die Patentinhaberin geht nicht von dem beanspruchten Gegenstand aus, nämlich von einem Rauheitsmesseinsatz, sondern von einer bestimmten Werkzeugmaschine mit einem bestimmten Werkzeug und einer bestimmten Spindel, die dem Fachmann zur Verfügung steht. In diesem Fall könnte der Fachmann natürlich feststellen, ob ein Messeinsatz anstelle der Spindel einsetzbar ist. Das Erfordernis der Klarheit des Anspruchs 1 verlangt jedoch, dass die Merkmale des Messeinsatzes an sich klar sind, ohne dass eine vorher bestimmte Werkzeugmaschine vorhanden und somit bekannt ist. Wie von der Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen, ist die Klarheit des Anspruchs 1 ausgehend von dem beanspruchten Messeinsatz und nicht ausgehend von der Werkzeugmaschine und der Spindel zu betrachten. Ausgehend von dem beanspruchten Messeinsatz als solchem muss jedoch klar sein, welche technischen Merkmale des Messeinsatzes durch das Merkmal F0 definiert werden. Dies ist aber nicht möglich, da die Werkzeugmaschine, die Spindel und das in die Spindel einzusetzende Werkzeug in Anspruch 1 gerade nicht definiert sind.
1.2.2 Die Patentinhaberin trug vor, dass das Merkmal F0 nicht "eine unbestimmte Anzahl von beliebig verschiedenen Gegenständen definiert" (P2, Seite 3, erster Absatz). Mit Verweis auf drei ISO Normen argumentierte die Patentinhaberin, dass der Begriff "Spindel einer Werkzeugmaschine" für den einschlägigen Fachmann eine definierte Gruppe von Gegenständen bezeichne (P2, Seite 3). Die Patentinhaberin trug weiterhin vor, dass "[d]ie im Verfahren zitierten ISO-Normen [...] lediglich mittelbar als Nachweis dafür [dienen], dass es konkrete technische Normen für Werkzeugmaschinen - und insbesondere für die Spindeln von Werkzeugmaschinen - gibt und dass der Fachmann diese auch kennt" (P3, überbrückender Absatz auf den Seiten 4 und 5; Hervorhebung im Original). Selbstverständlich kenne der Fachmann "auch alle sonstigen gängigen Spindeln für Werkzeugmaschinen" (P3, Seite 6, zweiter Absatz; Hervorhebung im Original; siehe auch P3, Seite 7, fünfter Absatz)).
Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt. Wie von der Einsprechenden schriftsätzlich (O2, Seite 3, Punkt 2.4) und während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen, sind weder im Anspruch 1 noch in der Patentbeschreibung Normen für Spindeln erwähnt. Darüber hinaus teilt die Kammer die Auffassung der Einsprechenden, dass viele Hersteller von Spindeln diese nach firmeninternen Standards herstellen, ohne die von der Patentinhaberin genannten internationalen Normen zu berücksichtigen (O2, Punkt 2.6). Daher kann die Klarheit des Merkmals F0 auch nicht mit dem allgemeinen Verweis der Patentinhaberin auf Normen hergestellt werden.
Hinsichtlich der allgemeinen Behauptung der Patentinhaberin, der Fachmann kenne alle anderen gängigen Spindeln für Werkzeugmaschinen, weist die Kammer darauf hin, dass es bei der Prüfung der Klarheit nach Artikel 84 EPÜ nicht auf die Kenntnis aller Spindeln ankommt, sondern darauf, welche konkreten technischen Merkmale des Messeinsatzes durch das Merkmal F0 definiert werden. Außerdem ist Merkmal F0 weder auf gängige noch auf bereits existierende Spindeln beschränkt, sondern umfasst theoretisch auch nicht gängige oder noch zu entwickelnde Spindeln.
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Anzahl aller sogenannten "gängigen Spindeln" sehr hoch ist. Eine Bestimmung der Merkmale des Messeinsatzes des Anspruchs 1 anhand dieser großen Anzahl von Spindeln wäre für den Fachmann mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden, der dem Erfordernis der Klarheit des Merkmals F0 entgegensteht (siehe auch den nachfolgenden Punkt 1.2.3 zur Zumutbarkeit von Nachforschungen, ob ein Merkmal des Anspruchs 1 klar ist).
1.2.3 Gemäß der Patentinhaberin sei das Merkmal F0 "eine für den Fachmann mühelos bestimmbare funktionelle Definition einer technischen Umgebung, die durch die im Anspruch 1 folgenden Vorrichtungsmerkmale weitergebildet wird" (P2, Seite 4, erster Absatz). Die Patentinhaberin verwies dabei auf die Entscheidung T 720/92 und zitierte daraus wie folgt: "Im Hinblick auf Art. 84 EPÜ 1973 ist nichts gegen einen Anspruch einzuwenden, der funktionelle Definitionen, die sich auf Merkmale beschränken, die ein Fachmann anhand des allgemeinen Fachwissens mühelos bestimmen kann, mit einer strukturellen Definition des wesentlichen Beitrags des Anmelders kombiniert".
Die Kammer folgt jedoch der Einsprechenden darin, dass die Entscheidung T 720/92 nicht grundsätzlich feststellt, dass eine funktionelle Definition eines Merkmals immer klar sei (O2, Punkt 3.2). Im Gegenteil, in der Entscheidung T 720/92 war die funktionelle Definition eines Merkmals in Anspruch 1 eines Hauptantrags und eines Hilfsantrags unklar. Erst durch die Hinzufügung eines strukturellen Merkmals konnte die Klarheit des Anspruchs 1 hergestellt werden. Gemäß der Entscheidung T 720/92, Punkt 3.1.3 (v), muss der Fachmann verstehen können, was mit dem Wortlaut eines Anspruchs gemeint ist, ohne dass Unklarheiten zurückbleiben und ohne dass komplizierte, zeitraubende Nachforschungen angestellt werden müssen, d.h. ohne dass eine unzumutbare Belastung entsteht (O2, Punkt 3.3). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da die strukturellen Merkmale der Spindel, in die der beanspruchte Messeinsatz eingesetzt werden soll, in Anspruch 1 nicht definiert und daher unbekannt sind. Der Fachmann müsste erhebliche Nachforschungen zu Spindeln anstellen um zu erkennen, ob ein bestimmter Messeinsatz in eine Spindel eingesetzt werden kann.
In Bezug auf das von der Patentinhaberin angeführte Zitat aus der Entscheidung T 720/92, ist die Kammer der Ansicht, dass (i) im vorliegenden Fall die funktionelle Definition "in einer Spindel einer Werkzeugmaschine anstelle eines Werkzeugs einzusetzender ...", nicht auf Merkmale des Messeinsatzes beschränkt ist, die ein Fachmann anhand des allgemeinen Fachwissens mühelos bestimmen kann, weil die Merkmale der Spindel im Anspruch 1 nicht definiert sind und daher unbestimmt und frei definierbar sind, und dass (ii) der wesentliche Beitrag der vorliegenden Erfindung nicht in dem Teil des Anspruchs 1 liegt, der eine strukturelle Definition enthält, sondern in dem Teil des Anspruchs 1, der eine funktionelle Definition enthält, nämlich Merkmal F0. Somit steht die Entscheidung T 720/92 der Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall, wonach Merkmal F0 unklar ist, nicht entgegen, sondern bestätigt sie.
1.2.4 Laut der Patentinhaberin wird der Fachmann "anhand jedes ihm offenbarten Rauheitsmesseinsatzes eindeutig und unmittelbar feststellen können, ob dieser Messeinsatz - zumindest potentiell - in die Spindel einer beliebigen Werkzeugmaschine eingesetzte werden kann oder nicht" (P2, Seite 5, zweiter Absatz). Da der Schutzbereich des Anspruchs 1 für den Fachmann eindeutig bestimmbar sei, sei Anspruch 1 klar. "Dass der Fachmann zur Bestimmung der Eigenschaften der Rauheitsmesseinsätze hierzu die Eigenschaften nicht näher definierter - aber ihm jedoch bekannter und zudem international normierter - Werkzeugmaschinen in seine Analyse der beanspruchten Gegenstände mit einschließen muss, ist für die Klarheit der Anspruchsdefinition wiederum unschädlich und wird im Übrigen auch durch die bisherige Rechtsprechung der Beschwerdekammern als ausdrücklich zulässig bewertet" (P2, Seite 5, dritter Absatz). Die Patentinhaberin verweist dabei auf die Entscheidungen T 88/87, T 893/90, T 243/91 und T 455/92 (P2, Seiten 5 bis 7).
Die Kammer ist nicht überzeugt von diesen Argumenten der Patentinhaberin, denn wie von der Einsprechenden schriftsätzlich (O2, Seite 6, Punkt 3.3) und während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen, beruhen alle von der Patentinhaberin im Zusammenhang mit diesen vorgenannten Entscheidungen vorgebrachten Argumente auf der Prämisse, dass das Merkmal F0 eine konkrete Definition einer Spindel im Sinne der drei genannten ISO-Normen liefert. Das Merkmal F0 beschränkt den Anspruch jedoch nicht auf Messeinsätze, die an ISO-Normspindeln angebracht werden können, sondern enthält stattdessen einen vagen und unklaren Verweis auf eine beliebige Anzahl verschiedener Werkzeugmaschinenspindeln, die auf dem Markt sind oder sogar erst noch zu entwickeln sind. Die Feststellung, ob ein Messeinsatz in eine solche Spindel eingesetzt werden kann, wäre in der Praxis eine unzumutbare Aufgabe für den Fachmann.
1.2.5 Wie schriftsätzlich und während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgetragen, ist nach Ansicht der Patentinhaberin Anspruch 1 selbst dann nicht unklar, wenn man davon ausgeht, dass es eine unbestimmte Anzahl verschiedener Spindeln gibt, die theoretisch eine unbestimmte Anzahl verschiedener Eigenschaften aufweisen können (P2, Punkt III.C, Seite 8, zweiter Absatz). Denn das Merkmal F0 "reduziert sich im Falle der Annahme von Spindeln mit beliebigen, d.h. willkürlichen, Eigenschaften auf eine bloße Eignungsangabe ohne Abgrenzungswirkung gegenüber anderen Rauheitsmesseinsätzen, da bei dieser Auslegung des Anspruchswortlauts grundsätzlich alle Rauheitsmesseinsetze [sic] in 'irgendeine' theoretisch denkbare 'Spindel' einer Werkzeugmaschine eingesetzt werden könnten. Jedoch ist gerade in der Präambel eines Vorrichtungsanspruchs eine bloße funktionale Eignungsangabe ohne Abgrenzungswirkung zu anderen theoretisch denkbaren Vorrichtungen zulässig und stellt keine Verletzung der Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ dar" (P2, Seiten 8 und 9 überbrückender Absatz und Seite 9, zweiter Absatz; Hervorhebung im Original). Dabei verweist die Patentinhaberin auf beispielhafte Anspruchsformulierungen, wie "Kraftfahrzeug zum Transport von Waren" und "Vorrichtung zum Empfang elektromagnetischer Signale", die ihrer Meinung nach auch nicht wegen fehlender Klarheit zu beanstanden seien (P2, Seite 9, dritter Absatz).
Die Kammer ist nicht überzeugt, dass das Merkmal F0 keine Abgrenzungswirkung aufweist. Die Kammer teilt die Meinung der Einsprechenden, dass die Hinzufügung des Merkmals F0 eine beschränkende Wirkung hat, aber die Abgrenzung ist unklar und unpräzise. Die Hinzufügung von F0 führt zu einer Ungenauigkeit des Schutzumfangs des Anspruchs 1 (O2, Punkt 3.4). Es ist nur eine unbewiesene Annahme der Patentinhaberin, dass alle Rauheitsmesseinsätze tatsächlich in jeder theoretisch denkbaren Spindel einer Werkzeugmaschine eingesetzt werden können.
Inwieweit die von der Patentinhaberin vorgebrachten beispielhaften Anspruchsformulierungen wie "Kraftfahrzeug zum Transport von Waren" und "Vorrichtung zum Empfang elektromagnetischer Signale" tatsächlich klar oder unklar sind, kann nicht allgemein beurteilt werden, da dies u.a. von der Bedeutung dieser Anspruchsformulierungen für die Patentierbarkeit des beanspruchten Gegenstands abhängt, d.h. vom gesamten Anspruchswortlaut, dem Stand der Technik, den Unterscheidungsmerkmalen zum nächstliegenden Stand der Technik usw.
Im vorliegenden Fall sind alle Merkmale des Messeinsatzes des Anspruchs 1 mit Ausnahme des Merkmals F0 entweder vorweggenommen oder durch den nächstliegenden Stand der Technik nahegelegt. Dies bedeutet, dass es entscheidend darauf ankommt, ob der Messeinsatz die strukturellen Merkmale aufweist, die erforderlich sind, um ihn in eine Spindel anstelle eines Werkzeugs einzusetzen. Je nachdem, ob diese strukturellen Merkmale des Messeinsatzes vorhanden sind oder nicht, könnte das Patent auf der Grundlage des Anspruchs 1 in geänderter Fassung aufrechterhalten werden oder nicht. Wie oben in Punkt 1.1.3 erläutert, bedeutet dies, dass das Erfordernis des Artikels 84 EPÜ im vorliegenden Fall eng auszulegen ist. Dies hat zu Folge, dass das Merkmal F0 nicht als "bloße Eignungsangabe ohne Abgrenzungswirkung" angesehen werden kann, wie von der Patentinhaberin vorgetragen.
1.2.6 Gemäß schriftlichem und mündlichem Vortrag verweist die Patentinhaberin auf die Richtlinien für die Prüfung im EPA, März 2022, Teil F, Kapitel IV, 4.14, die klarstellen, "dass die Merkmale einer Vorrichtung, in der ein selbständig beanspruchter Gegenstand zu verwenden ist, nicht Teil der beanspruchten Vorrichtung sind" (P2, Seite 10, vorletzter Absatz; P3, Seiten 7 bis 9). Daher könne eine mangelnde Bestimmung der Merkmale der Spindel nicht zu einer mangelnden Klarheit des Messeinsatzes führen. Es genüge, dass der Fachmann verstehe, in welcher Einsatzumgebung der beanspruchte Gegenstand Verwendung finden solle.
Die Kammer kann der Argumentation der Patentinhaberin nicht folgen. Es ist zwar unbestritten, dass weder die Spindel noch die Werkzeugmaschine ein Merkmal des Messeinsatzes ist, aber auch nach den von der Patentinhaberin zitierten Prüfungsrichtlinien, schränken die Merkmale des zweiten Gegenstands, d.h. der Spindel, des Werkzeugs und der Werkzeugmaschine, "den Anspruchsgegenstand [...] dahin gehend ein, dass die Merkmale des ersten Gegenstands [d.h. des Messeinsatzes] für die Verwendung mit den Merkmalen des zweiten Gegenstands geeignet sind. Im obigen Beispiel muss sich der Zylinderkopf dafür eignen, in dem im Anspruch beschriebenen Motor montiert zu werden, doch die Merkmale des Motors schränken den Anspruchsgegenstand per se nicht ein". Dies bedeutet, dass davon ausgegangen wird, dass die Merkmale des zweiten Gegenstands hinreichend klar definiert sind, möglicherweise sogar im Anspruch selbst, um die Eignung des ersten Gegenstands für die Verwendung mit dem zweiten Gegenstand zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall muss also der Messeinsatz geeignet sein, anstelle eines Werkzeugs in einer Spindel einer Werkzeugmaschine eingesetzt zu werden. Dies setzt voraus, dass die Merkmale der Spindel, des Werkzeugs und der Werkzeugmaschine hinreichend präzise definiert sind.
2. Hilfsanträge I bis V - Zulassung in das Verfahren
2.1 Die Hilfsanträge I bis V wurden von der Patentinhaberin erstmalig mit ihrer Beschwerdeerwiderung eingereicht und stellen damit eine Änderung i.S.v. Artikel 12 (4) Satz 1 VOBK 2020 dar, deren Zulassung im Ermessen der Kammer steht (Artikel 12 (4) Satz 2 VOBK 2020).
Anspruch 1 aller Hilfsanträge I bis V weist wie Anspruch 1 des Hauptantrags das unklare Merkmal F0 auf. Die Änderungen des Anspruchs 1 der Hilfsanträge I bis V gegenüber Anspruch 1 des Hauptantrags beziehen sich nicht auf die Spindel einer Werkzeugmaschine. Sie sind daher offensichtlich nicht geeignet, den gegen das Merkmal F0 erhobenen Einwand der Unklarheit auszuräumen. Dies allein spricht gegen eine Zulassung der Hilfsanträge I bis V in das Beschwerdeverfahren. Daran vermag auch das schriftlich von der Pateninhaberin vorgetragene Argument, dass der Hilfsantrag I in Reaktion auf die Argumentation der Einsprechenden zur vermeintlich unzulässigen Erweiterung des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hauptantrags überreicht worden sei, nichts ändern, denn es würde der Verfahrensökonomie widersprechen, Anträge zuzulassen, die ganz offensichtlich einen bestehenden Einwand nicht ausräumen können. Nach eingehender Erörterung des Artikels 12 (4) VOBK 2020 während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, trug die Patentinhaberin keine weiteren Argumente für die Zulassung ihrer Hilfsanträge I bis V vor.
2.2 Wie von der Einsprechenden beantragt, hat die Kammer daher in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK 2020 entschieden, die Hilfsanträge I bis V nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
3. Hilfsanträge VI bis X - Berücksichtigung im Verfahren
Gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor.
3.1 Anspruch 1 der Hilfsanträge VI bis X wurde unter anderem dahingehend geändert, dass nun Merkmal F0 aus dem Anspruch 1 gestrichen ist. Bei den vorliegenden Hilfsanträgen VI bis X handelt es sich um die Hilfsanträge I bis V, die im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 24. September 2019 eingereicht wurden.
Im Beschwerdeverfahren erklärte die Patentinhaberin erstmalig während der mündlichen Verhandlung am 6. Juli 2023, dass sie ihre Hilfsanträge I bis V, eingereicht im erstinstanzlichen Verfahren mit Schreiben vom 24. September 2019, als ihre Hilfsanträge VI bis X stelle, und zwar als Reaktion auf die Schlussfolgerung der Kammer, dass das Merkmal F0 unklar sei. Damit stellen die Hilfsanträge VI bis X eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Patentinhaberin nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dar.
Die Kammer erkennt jedoch keine außergewöhnlichen Umstände, die diese Änderung des Beschwerdevorbringens der Patentinhaberin in diesem späten Stadium des Beschwerdeverfahrens rechtfertigen würden. Die Kammer hatte bereits in ihrer Mitteilung vom 14. Januar 2022, die der Ladung beigefügt war, auf die mögliche mangelnde Klarheit des Merkmals F0 im Anspruch 1 des Hauptantrags hingewiesen (siehe Punkte 8.3 und 11 dieser Mitteilung).
Es mag durchaus sein, dass die Kammer diesen Einwand erstmalig in ihrer Mitteilung erhoben hat. Die Patentinhaberin hatte jedoch bereits mehr als ein Jahr vor der mündlichen Verhandlung Kenntnis von der Möglichkeit eines Widerrufs des Patents aufgrund dieses Einwands.Aufgrund dieser Kenntnis hätte die Patentinhaberin die Hilfsanträge VI bis X rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung stellen können und sollen und nicht bis zur mündlichen Verhandlung damit warten dürfen.
3.2 Die Patentinhaberin rechtfertigt das späte Einreichen der Hilfsanträge VI bis X wie folgt:
3.2.1 Die Patentinhaberin habe nicht damit gerechnet, dass die Kammer entgegen der "üblichen Rechtsprechung" den in ihrer vorläufigen Mitteilung erhobenen Einwand der mangelnden Klarheit des Merkmals F0 aufrechterhalten würde. Die Auffassung der Kammer, dass das Erfordernis des Artikels 84 EPÜ der Aufrechterhaltung des geänderten Patents gemäß Hauptantrag entgegenstehe, sei daher überraschend gewesen und habe die Patentinhaberin veranlasst, die geänderten Hilfsanträge VI bis X in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zu stellen.
Die Kammer kann das Argument der Patentinhaberin nicht gelten lassen, wonach erst durch die während der mündlichen Verhandlung abgegebene endgültige Meinung der Kammer, dass das Merkmal F0 unklar sei, die Patentinhaberin die Notwendigkeit sah, weitere Hilfsanträge zu stellen. Eine Beteiligte sollte bereits auf die vorläufige Meinung der Kammer zeitnah reagieren und nicht erst das Ergebnis der Diskussion in der mündlichen Verhandlung und die Schlussfolgerung der Kammer abwarten. Durch das Stellen der neuen Hilfsanträge VI bis X in der mündlichen Verhandlung wurden die Kammer und die Einsprechende mit einem neuen Sachverhalt im Beschwerdeverfahren konfrontiert, der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zur Diskussion stand. Dies entspricht nicht einer zügigen und fairen Verfahrensführung durch die Patentinhaberin. Die Beteiligten sind nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern in ihrer Verfahrensführung gewissen Grenzen unterworfen, die sich im zweiseitigen Verfahren namentlich aus dem Prinzip der Fairness gegenüber den anderen Beteiligten sowie generell aus den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren ergeben. Insbesondere trifft die Beteiligten im zweiseitigen Verfahren auch eine Pflicht zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung. Dazu gehört es u.a., alle Anträge so früh und vollständig wie möglich vorzulegen.
3.2.2 Laut Patentinhaberin sei die Änderung, die in der Streichung des Merkmals F0 besteht, lediglich eine Änderung des Wortlauts des Anspruchs 1, ohne den beanspruchten Gegenstand selbst zu ändern. Das Merkmal F0 sei völlig unbestimmt und bewirke daher keine Einschränkung des Gegenstands des Anspruchs 1. Daher sei das Einreichen der Hilfsanträge VI bis X eigentlich keine Änderung des Beschwerdevorbringens.
Die Kammer teilt nicht die Auffassung der Patentinhaberin, dass die Streichung des Merkmals F0 so geringfügig sei, dass diese Änderung unter den Begriff "außergewöhnliche Umstände" falle und allein wegen ihrer Geringfügigkeit zuzulassen sei. Das Merkmal F0 ist zwar unklar und führt nur zu einer unklaren Abgrenzung des beanspruchten Gegenstands. Die Streichung des Merkmals F0 würde jedoch diese unklare Abgrenzung beseitigen und damit den Schutzumfang des beanspruchten Gegenstands erweitern.
3.2.3 Aus den oben genannten Gründen hat die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 entschieden, die Hilfsanträge VI bis X im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen.
4. Da keiner der Anträge der Patentinhaberin gewährbar ist, ist das Patent gemäß Artikel 101 (3) b) EPÜ zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.