T 1336/20 (Rekombinanter Stamm der Hefe Kluyveromyces lactis/VEROVACCiNES) 29-11-2022
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Verfahren zur oralen/mukosalen Vakzinierung mittels rekombinanter Hefen
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Änderung des Vorbringens - Gründe warum Änderung im Beschwerdeverfahren erfolgt (nein)
I. Das Europäische Patent Nr. EP 2 403 947 (im Weiteren "das Patent") geht zurück auf die europäische Patentanmeldung Nr. 09 808 976.6, welche als internationale Patentanmeldung PCT/DE2009/001623 (im Weiteren "die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung") eingereicht wurde.
II. Gegen die Erteilung des Patents wurde ein Einspruch eingelegt und Widerruf im gesamten Umfang beantragt. Als Einspruchsgrund wurde unter anderem unzulässige Erweiterung (Artikel 100 c) EPÜ) geltend gemacht.
III. Die Einspruchsabteilung hat unter anderem entschieden, dass die Ansprüche von Hilfsantrag 1 in unzulässiger Weise erweitert wurden (Artikel 123 (2) EPÜ), dass das Patent jedoch in der Fassung des Hilfsantrags 2 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, die Erfordernisse des EPÜ erfüllen.
IV. Sowohl die Patentinhaberin als auch die Einsprechende haben jeweils Beschwerde gegen diese Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt.
V. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Patentinhaberin Anspruchssätze eines Hauptantrags und von vierzehn Hilfsanträgen ein, wobei die Anspruchssätze des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 mit denen der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsanträge 1 und 2 identisch sind.
VI. In der Beschwerdebegründung erhob die Einsprechende unter anderem Einwände unter Artikel 123 (2) EPÜ gegen die Ansprüche des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 (identisch mit Hilfsantrag 1 eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin).
VII. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung der Einsprechenden brachte die Patentinhaberin unter anderem Argumente vor, dass der Gegenstand von
Anspruch 18 des Hilfsantrags 1 wie mit der Beschwerdebegründung eingereicht nicht gegen
Artikel 123 (2) EPÜ verstößt. Die Patentinhaberin kündigte an, zu den weiteren Hilfsanträgen, soweit erforderlich, in der mündlichen Verhandlung Stellung
zu nehmen.
VIII. In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung der Patentinhaberin brachte die Einsprechende unter anderem Argumente vor, dass Hilfsanträge 1 bis 14, wie mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin eingereicht, nicht zum Verfahren zuzulassen seien.
IX. Antragsgemäß lud die Kammer zu einer mündlichen Verhandlung. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK erläuterte die Kammer ihre vorläufige Einschätzung unter anderem zur Bewertung der Sachanträge der Verfahrensbeteiligten unter Artikel 123 (2) EPÜ und zur Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 14 zum Verfahren.
X. Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 reichte die Patentinhaberin den mit der Beschwerdebegründung als Hilfsantrag 7 eingereichten Anspruchsatz als neuen Hilfsantrag 2 und einen neuen Anspruchssatz als Hilfsantrag 3 ein. Alle weiteren in der Beschwerde eingereichten Hilfsanträge wurden aufrecht erhalten. Die Patentinhaberin kündigte an, sich in der mündlichen Verhandlung nicht auf diese Anträge zu stützen, und brachte Argumente vor, dass der jeweilige Gegenstand von Anspruch 1 der Hilfsanträge 2 und 3 nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt.
XI. Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2022 brachte die Einsprechende Argumente bezüglich unzulässiger Erweiterung von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2, wie von der Patentinhaberin mit Schriftsatz vom
21. Oktober 2022 eingereicht, sowie zur Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 14 vor.
XII. Während der mündlichen Verhandlung nahm die Patentinhaberin ihre Beschwerde und damit auch den mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag zurück. Somit wurde der mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsantrag 1 eingereichte Antrag zum Hauptantrag und die übrigen Hilfsanträge dementsprechend umnummeriert. Die Patentinhaberin erlangte des weiteren den Status der Beschwerdegegnerin, wohingegen die Einsprechende alleinige Beschwerdeführerin blieb.
Anspruch 18 des Hauptantrags (eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsantrag 1 und identisch mit Hilfsantrag 2 der angefochtenen Entscheidung) lautet wie folgt:
"18. Rekombinanter Stamm der Hefe Kluyveromyces lactis, gekennzeichnet dadurch, dass dieser rekombinante Stamm eine genomisch integrierte Expressionskassette enthält, die zusammengesetzt ist aus dem Lactose induzierbaren LAC4 Promotor, einem für ein immunogenes Protein kodierendes Fremdgen, dem TEF1-Transkriptionsterminator und dem für das Enzym ß-Galactosidase kodierenden LAC4 Gen unter Kontrolle des GAL80 Promotors von K. lactis (KlGAL80-P), wobei die gezielte Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus des Hefegenoms erfolgt, ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen eingeführt werden, und die Expression von Fremdgenen durch Lactose oder Galactose dosiert induziert oder, nach Ausschalten des Regulatorgens KlGAL80, konstitutiv aktiviert wird."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 (eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsantrag 7 und mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 zu Hilfsantrag 2 erhoben) und Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 (eingereicht mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 als Hilfsantrag 3) hat denselben Wortlaut wie Anspruch 18 des Hauptantrags.
Der Wortlaut der Ansprüche der Hilfsanträge 3 bis 14 ist für die Entscheidung nicht von Relevanz (siehe nachfolgende Punkte 30. bis 35.). Die Kammer hat daher davon abgesehen die Ansprüche hier anzuführen.
XIII. Vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
XIV. Auf folgende Dokumente wird in der vorliegenden Entscheidung Bezug genommen:
D1 van Ooyen A.J.J. et al, FEMS Yeast Res 6, 2006,
381-392
D11 Krijger J.-J. et al., Microbial Cell Factories
11(1):112, 2012, 1-12
D12 Arnold M. et al., PLOS ONE 7(9), 2012, 1-11
Die von den Parteien im Beschwerdeverfahren eingereichten Dokumente waren nicht zu behandeln, da sie zu Vorbringen eingereicht wurden, welches nicht Gegenstand der vorliegenden Entscheidung ist.
XV. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Hauptantrag - Anspruch 18
Hilfsanträge 1 und 2 - Anspruch 1
Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
Die beanspruchte Expressionskassette sei in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nur im Zusammenhang mit einem bestimmten, speziell ausgewählten und mutierten K. lactis Hefestamm offenbart, dem Stamm VAK367-D4 (siehe Beispiel 2, Abbildung 1).
Seite 4, zweiter Absatz der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beschreibe weder den beanspruchten rekombinanten Hefestamm noch die beanspruchte Expressionskassette. Auf Seite 4, Zeilen 6 bis 10, Zeilen 17 und 18 sowie Zeilen 26 bis 28 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung werde die Vergangenheitsform verwendet. Seite 4, zweiter Absatz beschreibe daher auch nicht K. lactis generisch, sondern die in den Beispielen generierten Stämme, insbesondere K. lactis Stamm VAK367-D4, welcher die Integration am LAC4 Locus erlaube. Dies sei tatsächlich der einzige offenbarte K. lactis Stamm, welcher die gezielte Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus erlaube, ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen (Selektionsmarker) eingeführt werden müssen, indem unter Verlust des scURA3 Gens ein intaktes LAC4 Gen rekonstituiert werde, womit Selektion auf Lactose möglich sei.
Die angefochtene Entscheidung stehe nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern bezüglich Zwischenverallgemeinerungen, da die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung insgesamt lehre, dass ein struktureller und funktioneller Zusammenhang zwischen der Expressionskassette und den K. lactis Stämmen bestehe.
Der Fachmann lese die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung im Kontext der Impfung und würde der technischen Offenbarung der Gesamtheit der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung entnehmen, dass K. lactis-Stämme, um für eine orale/mukosale Impfung geeignet zu sein, spezielle Eigenschaften aufweisen müssen (siehe Seite 3, Zeilen 14 bis 27; Seite 3, Zeile 32 bis Seite 4, Zeile 4; Seite 5, Zeilen 1 bis 2). Diese seien nicht in jedem K. lactis Stamm, sondern nur in dem optimierten Stamm VAK367-D4 zu finden (siehe Beispiel 1). Daher würde der Fachmann im Lichte des Inhalts der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht davon ausgehen, dass alle K. lactis Stämme für eine orale/mukosale Impfung geeignet seien.
Die diesbezügliche Lehre der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung entspreche dem allgemeinen Fachwissen (vgl. Dokument D1, Seite 384, linke Spalte, dritter Absatz, Zeilen 6 bis 8).
Folglich sei dem Fachmann - aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sowie dem allgemeinen Fachwissen - bewusst gewesen, dass verschiedene K. lactis Stämme nicht einfach als austauschbar behandelt werden können. Eine Verallgemeinerung sei daher nicht zulässig.
Zusammenfassend beschreibe die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einerseits den Stamm VAK367-D4 als entscheidend für die Integration der beanspruchten Expressionskassette und für die Verwendung in der beabsichtigten Anwendung und offenbare andererseits nirgendwo ausdrücklich, dass die Lehre der Beispiele auf jeden Stamm von K. lactis verallgemeinerbar sei.
Der Standard für eine implizite Offenbarung sei hoch. Unter einer "impliziten Offenbarung" sei nicht ein Sachverhalt zu verstehen, der nicht zum technischen Informationsgehalt eines Dokuments gehöre, von diesem aber möglicherweise nahegelegt werde. Überlegungen des Fachmanns gehören nicht zum Inhalt der ursprünglichen Anmeldung.
Entgegen der Behauptung der Beschwerdegegnerin lasse es sich aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ableiten, dass der LAC4 Locus das einzig entscheidende Merkmal sei, das die Stämme besitzen müssen, um für die orale Vakzinierung geeignet zu sein und um die spezifische Expressionskassette aufnehmen zu können.
Die Argumente der Beschwerdegegnerin, die sich auf die nachveröffentlichten Dokumente D11 und D12 stützen, seien irrelevant, da die Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ nicht durch die Offenlegung von nachveröffentlichten Beweismitteln gestützt werden könne (siehe G 2/10).
Der Anspruch sei unzulässig erweitert, da er nicht auf den spezifischen K. lactis Stamm VAK367-D4 eingeschränkt sei.
Hilfsanträge 3 bis 14
Zulassung (Artikel 12 (4) VOBK)
Hilfsanträge 3 bis 14 seien als Änderungen zu betrachten (Artikel 12 (4) VOBK). In ihrer Beschwerdebegründung habe die Beschwerdegegnerin auf das erteilte Patent verwiesen und es versäumt, die Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung für die durchgeführten Änderungen anzugeben. Zudem gingen die Ausführungen der Beschwerdegegnerin nicht über eine oberflächliche Beschreibung der Änderungen hinaus. Insbesondere habe die Beschwerdegegnerin nicht erklärt, wie diese Anträge die erhobenen Einwände ausräumen würden. Daher sollten diese Anträge nicht zum Verfahren zugelassen werden.
XVI. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Hauptantrag - Anspruch 18
Hilfsanträge 1 und 2 - Anspruch 1
Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
Die Aufgabe der vorliegenden Erfindung sei auf Seite 2, Zeilen 9 bis 19, und insbesondere auf Seite 3, letzter Absatz, bis Seite 4, Zeile 2, der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beschrieben und bestünde darin, ein Expressionssystem auf der Basis von K. lactis zu entwickeln, das die gezielte Integration von Fremdgenen in das Hefegenom erlaube und damit entsprechende Antigen-Formulierungen zur Vakzinierung ermögliche. Gemäß Seite 4, zweiter Absatz der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung seien die generierten Hefestämme ohne Selektionsdruck stabil und können zu hohen Dichten kultiviert werden. Diese Aufgabe werde durch alle K. lactis Stämme erfüllt, die die Merkmale des Anspruchs aufwiesen. Der Stamm VAK367-D4 und Varianten dieses Stammes seien lediglich bevorzugte Ausführungsformen der Erfindung.
Die Einspruchsabteilung habe zutreffend befunden, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht auf einen bestimmten K. lactis Stamm beschränkt sei. Seite 3, Zeile 33, bis Seite 4, Zeile 16, offenbare ganz allgemein das Ziel der Anmeldung, nämlich die Bereitstellung von K. lactis Stämmen, vorzugsweise VAK367-D4 und Varianten dieses Stammes, welche die gezielte Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus erlauben, ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen eingeführt werden müssen.
Die Einspruchsabteilung habe weiter zutreffend befunden, dass die in Beispiel 2 offenbarte Expressionskassette nicht untrennbar mit dem spezifischen K. lactis Stamm VAK367-D4 verknüpft sei, da keine offensichtliche strukturelle oder funktionelle Beziehung zwischen beiden bestehe. Es sei in diesem Zusammenhang irrelevant, dass dieser Stamm sich anderweitig von anderen K. lactis Stämmen unterscheide.
Die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung implizierte Offenbarung - d.h. das was für jeden Fachmann zwangsläufig aus der Anmeldung als Ganzes hervorgehe - sei Teil ihres Inhalts.
Der Fachmann wisse, dass jeder K. lactis Stamm einen LAC4 Locus habe und würde daher der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auf Seite 4, zweiter Absatz, den Ansprüchen 1 bis 21 und Abbildung 1 implizit entnehmen, dass das Ziel der Anmeldung nicht der Schutz des spezifischen K. lactis VAK367-D4 Stammes sei, sondern generell die Bereitstellung eines Expressionssystems, unabhängig von der Verwendung zur Vakzinierung.
Aus Dokumenten D11 und D12 sei ersichtlich, dass die Expressionskassette der Anmeldung in jedem Stammhintergrund von K. lactis einsetzbar sei. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung stelle somit auf Seite 4, zweiter Absatz, ganz allgemein einen K. lactis Stamm mit der Expressionskassette wie beansprucht zur Verfügung, die auch in anderen K. lactis Stämmen als VAK367-D4 erfolgreich zur Expression von Fremdproteinen führe.
Daher sei der Anspruch nicht unzulässig erweitert.
Hilfsanträge 3 bis 14
Zulassung (Artikel 12 (4) VOBK)
Die Ansprüche der Hilfsanträge 3 bis 14 seien eingereicht worden, um im Beschwerdeverfahren auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin gebührend reagieren zu können.
XVII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte
- die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung wie von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet, d.h. mit dem Anspruchssatz eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsantrag 1,
- oder hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Basis des Anspruchssatzes
- des Hilfsantrags 1, eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsantrag 7, oder
- des Hilfsantrags 2, eingereicht mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 als Hilfsantrag 3, oder
- der Hilfsanträge 3 bis 7, eingereicht mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin als Hilfsanträge 2 bis 6, oder
- der Hilfsanträge 8 bis 14 wie mit der Beschwerdebegründung der Patentinhaberin eingereicht.
1. Die Beschwerde erfüllt die Erfordernisse von
Artikel 106 bis 108 EPÜ und Regel 99 EPÜ; sie ist zulässig.
Hauptantrag - Anspruch 18
Hilfsanträge 1 und 2 - Anspruch 1
Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
Kombination der spezifischen Expressionskassette aus
Ausführungsbeispiel 2 mit jeglichem K. lactis-Stamm
2. Anspruch 18 des Hauptantrags ist gerichtet auf einen rekombinanten Stamm der Hefe Kluyveromyces lactis (K. lactis), gekennzeichnet dadurch, dass er eine am LAC4 Locus des Hefegenoms integrierte Expressionskassette enthält, die aus dem Lactose induzierbaren LAC4 Promotor, einem für ein immunogenes Protein kodierendes Fremdgen, dem TEF1-Transkriptionsterminator und dem für das Enzym
ß-Galactosidase kodierenden LAC4 Gen unter Kontrolle des GAL80 Promotors von K. lactis (KlGAL80-P) zusammengesetzt ist (im Weiteren "Expressionskassette"). Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 und 2 hat denselben Wortlaut wie Anspruch 18 des Hauptantrags.
3. Es ist unstrittig, dass die beanspruchte Expressionskassette in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung in Kombination mit einem bestimmten Hefestamm, nämlich K. lactis VAK367-D4, offenbart ist (siehe Beispiel 2 und Abbildung 1). Diese Offenbarung wurde in den Ansprüchen auf alle K. lactis Stämme verallgemeinert.
4. Die Einspruchsabteilung hat entschieden, dass die beanspruchte Kombination der spezifischen Expressionskassette mit jeglichem K. lactis-Stamm eine zulässige Zwischenverallgemeinerung darstelle.
5. Als "Zwischenverallgemeinerung" wird ein geänderter Gegenstand bezeichnet, der eine Verallgemeinerung einer ursprünglich offenbarten Ausführungsform ist und zwischen dieser besonderen Ausführungsform und einer ursprünglichen, allgemein gefassten Definition der Erfindung liegt. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine solche Verallgemeinerung jedoch nur zulässig, wenn der Fachmann aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zweifelsfrei erkennen kann, dass die herausgegriffenen Merkmale nicht in engem Zusammenhang mit den übrigen Merkmalen der Ausführungsform stehen, sondern sich unmittelbar und eindeutig auf einen allgemeineren Kontext beziehen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage 2022, II.E.1.9.1.).
6. Was den allgemeineren Kontext der vorliegenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung anbelangt, befand die Einspruchsabteilung, dass die Anmeldung nicht auf einen bestimmten K. lactis-Stamm beschränkt sei, da sie auf Seite 3, Zeile 33 bis Seite 4, Zeile 16 ganz allgemein "das Ziel des Patentes [sic]" offenbare, nämlich die "Bereitstellung von K. lactis-Stämmen, vorzugsweise VAK367-D4 und Varianten dieses Stammes, welche die gezielte Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus erlauben, ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen eingeführt werden müssen" (siehe Punkt 13.2 der Entscheidung).
7. Bei Durchsicht des relevanten Abschnittes der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ist ersichtlich, dass die Einspruchsabteilung die Offenbarung hinsichtlich der Aufgabe (siehe Seite 3, Zeile 33 bis Seite 4, Zeile 4) und der erfindungsgemäßen Lösung (siehe Seite 4, Zeilen 6
bis 28) vermengt hat.
8. Tatsächlich offenbart die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (siehe Seite 3, Zeile 33, bis Seite 4, Zeile 4), dass sich "nunmehr die Aufgabe [stellt] ein Expressionssystem auf der Basis von Kluyveromyces lactis zu entwickeln, das die gezielte Integration von Fremdgenen in das Hefegenom erlaubt und damit entsprechende Antigen-Formulierungen ermöglicht. Weitere Aufgabe war es, einen rekombinanten K. lactis Stamm, der ein spezifisches Virusantigen exprimiert, für eine Impfung, u.a. für eine mukosale/orale Impfung einzusetzen". Aus diesen "Aufgaben" lässt sich weder eine technische Lehre hinsichtlich eines tatsächlich offenbarten Expressionssystems noch der in so einem Expressionssystem verwendeten K. lactis Stämme und somit auch keine Offenbarung für die Verwendung von K. lactis Stämmen allgemein als Expressionssystem direkt und eindeutig ableiten.
9. Zudem ist die Textstelle auf Seite 3, Zeile 33, bis Seite 4, Zeile 4, im Kontext des Gesamtinhaltes der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu lesen. Die Anmeldung offenbart, dass es das Ziel war, ein Verfahren zu entwickeln "bei dem komplette Hefen zur Vakzinierung eingesetzt werden können" (siehe Seite 2, Zeilen 9 und 10), und dass die "orale/mukosale Immunisierung den Einsatz erheblich höhere Quantitäten an Antigen erfordert" als eine parenterale Immunisierung (siehe Seite 3, Zeilen 14 bis 16). Erst dann werden in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die obgenannten Aufgaben (siehe Punkt 8. oben) formuliert, nämlich dass sich "nunmehr die Aufgabe [stellt] ein Expressionssystem auf der Basis von Kluyveromyces lactis zu entwickeln". Dieses Expressionssystem sollte jedoch nicht nur die "gezielte Integration von Fremdgenen in das Hefegenom" erlauben, sondern zudem "entsprechende Antigen-Formulierungen" ermöglichen, d.h. die für orale/mukosale Immunisierung erforderlichen Antigen-Formulierungen ermöglichen (ibid.).
10. Im nachfolgenden Absatz (siehe Seite 4, zweiter Absatz) offenbart die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sodann die Lösung dieser Aufgaben wie folgt: "Erfindungsgemäß wurde über gentechnische Verfahren ein K. lactis Stamm, vorzugsweise VAK367-D4 und Varianten dieses Stammes, generiert, der die gezielte Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus des Hefegenoms erlaubt, ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen (Selektionsmarker o.ä.) eingeführt werden müssen. Die rekombinanten Hefestämme sind ohne Selektionsdruck stabil und können unter Fermentationsbedingungen zu hohen Dichten kultiviert werden. Die Fremdgenexpression kann durch Lactose oder Galactose dosiert induziert oder, nach Ausschalten des Regulatorgens KIGAL80, konstitutiv aktiviert werden. Die Fremdgenexpression kann indirekt über die Expression eines endogenen Reportergens quantifiziert werden" (siehe Seite 4, Zeilen 6 bis 16) sowie, dass "eine Serie auf dem K. lactis Stamm VAK367-D4 aufbauender rekombinanter Varianten generiert [wurde]" (siehe Seite 4, Zeilen 17 und 18) und "[e]iner dieser rekombinanten K. lactis Stämme (siehe Ausführungsbeispiele) wurde erfolgreich zur mukosalen/oralen Impfung eingesetzt" (siehe Seite 4, Zeilen 26 bis 28).
11. In Übereinstimmung mit dem Vortrag der Beschwerdeführerin kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Fachmann der Aussage "erfindungsgemäß wurde über gentechnische Verfahren ein K. lactis Stamm, vorzugsweise VAK367-D4 und Varianten dieses Stammes, generiert" unmittelbar und eindeutig entnimmt, dass hier auf die in den Ausführungsbeispielen generierten Stämme und insbesondere den K. lactis Stamm VAK367-D4 Bezug genommen wird (siehe Seite 5, Zeilen 7 bis 18).
12. In diesem Stamm, Stamm VAK367-D4, wurde ein Teil des LAC4 Gens durch das ScURA3 Gen ersetzt (siehe Ausführungsbeispiele 1 und 2 sowie Abbildung 1). Dies erlaubt nun die Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus von Stamm VAK367-D4 ohne zusätzliche Marker, indem auf Lactose-Wachstum selektiert wird. Dabei wird unter Benutzung eines Integrationsvektors durch homologe Rekombination die Disruptionskassette in Stamm VAK367-D4 so ersetzt, dass unter Verlust des ScURA3 Markers ein intaktes LAC4 Gen rekonstruiert und ein Fremdgen zwischen LAC4 Promoter und TEF1 Terminator integriert wird. Stamm VAK367-D4 und die davon abgeleiteten Varianten sind tatsächlich die einzigen "generierten" K. lactis Stämme, welche die Integration von Fremdgenen am LAC4 Locus erlauben "ohne dass zusätzliche DNA-Sequenzen (Selektionsmarker o.ä.) eingeführt werden müssen".
13. Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung offenbart die Anmeldung in der ursprünglich eingereichen Fassung auf Seite 4, Zeilen 4 bis 16, daher nicht die Verwendung von K. lactis Stämmen im Allgemeinen. Überdies offenbart die Anmeldung auf Seite 4, zweiter Absatz, entgegen den Behauptungen der Beschwerdegegnerin weder die beanspruchte Expressionskassette noch einen K. lactis Stamm mit dieser Expressionskassette wie beansprucht.
14. Des Weiteren war die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass die beanspruchte Expressionskassette nicht untrennbar mit dem spezifischen K. lactis Stamm VAK367-D4 verknüpft sei, da "keinerlei Beweise vorliegen, dass die genetischen Modifikationen, welche in Beispiel 1 zur Herstellung von 'VAK367-D4' beschrieben und welche für eine wirkungsvolle Integration des Vektors notwendig sind, nicht auch mit jedem anderen K. lactis Stamm durchgeführt werden können" (siehe Punkt 13.2.1 der angefochtenen Entscheidung). Dass sich der Ausgangsstamm von anderen K. lactis Stämmen durch hohe Zelldichten und Lyseresistenz unterscheidet, wurde von der Einspruchsabteilung als irrelevant für eine eventuelle Verknüpfung zwischen Stamm und Expressionskassette angesehen.
15. Das von der Einspruchsabteilung in diesem Zusammenhang herangezogene Kriterium eines fehlenden Beweises betrifft allenfalls Fragen des Naheliegens und nicht Fragen der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung.
16. Um die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ zu erfüllen, müsste sich im Gegenteil in der Anmeldung ein Hinweis finden, dass die - im Vergleich zu Beispiel 2 - im Anspruch weggelassenen Merkmale nicht wesentlich oder fakultativ für das auf der Basis von K. lactis VAK367-D4 entwickelte Expressionssystem sind, das in der Anmeldung als erfindungsgemäße Lösung bereitgestellt wird. Dieser Hinweis fehlt in der Anmeldung. Wie bereits oben dargelegt, war es die Aufgabe der Anmeldung ein Expressionssystem bereit zu stellen, welches nicht nur die "gezielte Integration von Fremdgenen in das Hefegenom" erlauben, sondern zudem "entsprechende Antigen-Formulierungen" ermöglichen sollte, d.h. die für orale/mukosale Immunisierung erforderlichen Antigen-Formulierungen.
17. Die Entwicklung von K. lactis-Stamm VAK367-D4 wird in Ausführungsbeispiel 1 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung beschrieben (siehe Seite 4, Zeile 30 bis Seite 5, Zeile 18 und Punkt 11. oben). Als Ausgangsstamm für die Entwicklung von Stamm VAK367-D4 diente der Stamm VAK367, welcher durch Mutagenese von Stamm CBS 2359 abgeleitet wurde und sich laut Anmeldung von verwandten K. lactis Stämmen darin unterscheidet, dass er "die Kultivierung zu hoher Zelldichte, ohne dass dabei intrazelluläre Proteine nachweisbar freigesetzt werden [erlaubt]" (siehe Seite 4, Zeile 34 bis Seite 5, Zeile 3).
18. Der Fachmann, welcher die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung im Kontext der beabsichtigten Verwendung der K. lactis Stämme zur Impfung liest, (siehe insbesondere Seite 2, Zeilen 9 bis 10; Seite 3, Zeilen, 14 bis 27; Seite 3, Zeile 32 bis Seite 4, Zeile 4, Seite 5, Zeilen 1 bis 2 sowie Punkte 8. und 9. oben) erkennt, dass K. lactis-Stämme, um für eine orale/mukosale Impfung geeignet zu sein, spezielle Eigenschaften aufweisen müssen, die nicht in jedem K. lactis-Stamm, sondern nur in dem optimierten Stamm VAK367-D4 zu finden sind. Insbesondere die Kultivierbarkeit zu hoher Zelldichte, ohne dass dabei intrazelluläre Proteine nachweisbar freigesetzt werden, ist erforderlich, um ausreichende Mengen an Antigen zu erzeugen und die komplette Hefe zur Vakzinierung einsetzen zu können. Diese Eigenschaft wird in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung als Eigenschaft hervorgehoben, in welcher sich der Stamm VAK367 von vielen nahen verwandten K. lactis Stämmen unterscheidet (siehe Seite 5, Zeilen 1 bis 2 der Anmeldung und Punkt 17. oben).
19. Dem Fachmann ist überdies bekannt, dass sich K. lactis Stämme hinsichtlich der Expression von heterologen Proteinen unterscheiden (vgl. Dokument D1, Seite 384, linke Spalte, dritter Absatz, Zeilen 6 bis 8). Folglich war dem Fachmann auch bewusst, dass verschiedene
K. lactis Stämme nicht einfach als austauschbar angesehen werden können. Daher hätte der Fachmann der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auch unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht entnommen, dass der K. lactis Stamm VAK367-D4 im bereitgestellten Expressionssystem durch jeden anderen K. lactis Stamm ersetzen werden kann.
20. Zusammenfassend offenbart die Anmeldung in der ursprünglich eingereichen Fassung somit einen strukturellen und funktionellen Zusammenhang zwischen der Expressionskassette und dem K. lactis Stamm VAK367-D4. Überdies offenbart die Anmeldung keine allgemeine Lehre dahingehend, dass alle K. lactis Stämme als Expressionssystem eingesetzt werden können oder dass ein Expressionssystem bereitgestellt wird, welches allgemein zur Expression von Proteinen verwendet werden kann, unabhängig von der Vakzinierung.
21. Die Argumentationslinie der Einspruchsabteilung kann daher nicht überzeugen. Insofern sich die Beschwerdegegnerin in ihrem Vorbringen auf die Argumente der Einspruchsabteilung gestützt hat, kann dieses daher auch nicht überzeugen.
22. Die Beschwerdegegnerin brachte außerdem vor, dass der Fachmann wisse, dass jeder K. lactis Stamm einen LAC4 Locus habe und er daher der Offenbarung der Anmeldung auf Seite 4, zweiter Absatz, den Ansprüchen 1 bis 21 und Abbildung 1 implizit entnehmen würde, dass das Ziel der Anmeldung nicht der Schutz des K. lactis VAK367-D4 Stammes sei, sondern generell die Bereitstellung eines Expressionssystems, unabhängig von der Verwendung zur Vakzinierung.
23. Auch dieses Argument kann nicht überzeugen. Erstens lässt sich aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ableiten, dass der LAC4 Locus das einzig entscheidende Merkmal ist, welches K. lactis Stämme besitzen müssen. Im Gegenteil offenbart die Anmeldung, dass das gesamte Expressionssystem einschließlich des Hefestamms bestimmte Anforderungen erfüllen muss, um für die orale Vakzinierung geeignet zu sein und um die spezifische Expressionskassette aufnehmen zu können, ohne dass zusätzliche DNA Sequenzen eingeführt werden (siehe Punkte 12. und 18. oben).
24. Zweitens gehen eventuelle Überlegungen, welche der Fachmann in Kenntnis der Offenbarung der Anmeldung und in Kenntnis um die Präsenz des LAC4 Gens in anderen
K. lactis Stämmen anstellen könnte, über das hinaus, was der Fachmann der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung als unmittelbare und eindeutige Folgerung entnimmt. Daher führt die Kenntnis des Fachmanns, dass jeder K. lactis Stamm einen LAC4 Locus hat, auch nicht zur impliziten Offenbarung eines generellen Expressionssystems auf der Basis von K. lactis.
25. Die Beschwerdegegnerin brachte schließlich vor, dass aus den nachveröffentlichten Dokumenten D11 und D12 ersichtlich sei, dass die Expressionskassette der Anmeldung in jedem Stammhintergrund von K. lactis einsetzbar sei, was belege, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auf Seite 4, zweiter Absatz ganz allgemein einen K. lactis Stamm mit der Expressionskassette wie beansprucht zur Verfügung stellt.
26. Diese Argumentationslinie kann aus zweierlei Gründen nicht überzeugen. Erstens betrifft sie allenfalls Fragen der Nacharbeitbarkeit der beanspruchten Erfindung im Sinne von Artikel 83 EPÜ. Zweitens kann die Einhaltung der Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ nicht durch einen Verweis auf nachveröffentlichte Beweismittel gestützt werden. Der für die Vereinbarkeit mit Artikel 123 (2) EPÜ maßgebliche "Goldstandard" bedeutet, dass Änderungen nur in den Grenzen dessen vorgenommen werden dürfen, was ein Fachmann aus der Gesamtheit der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (siehe Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/10, ABl. EPA 2012, 376, Punkt 4.3 der Entscheidungsbegründung).
27. Aus den genannten Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Verknüpfung des Merkmals der in Beispiel 2 offenbarten Expressionskassette mit allen K. lactis Stämmen zu einem Gegenstand führt, den der Fachmann der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen kann.
28. Daher geht der Gegenstand von Anspruch 18 des Hauptantrags und damit auch von Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 und 2 über den Inhalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht hinaus. Diese Anträge sind daher unter Artikel 123 (2) EPÜ nicht gewährbar.
Hilfsanträge 3 bis 14
Zulassung (Artikel 12 (4) VOBK)
29. Die Frage der Zulassung der Hilfsanträge 3 bis 14 war gemäß Artikel 12 (4) VOBK, in Kraft seit 1. Januar 2020, zu beurteilen (vgl. Artikel 24 und 25 VOBK).
30. Hilfsanträge 3 bis 14 lagen der angefochtenen Entscheidung nicht zugrunde und die
Beschwerdegegnerin hat nicht gezeigt, dass diese Anträge im Einspruchsverfahren in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurden.
31. Nach Artikel 12 (4) Satz 1 VOBK sind Hilfsanträge 3
bis 14 daher als Änderungen zu betrachten und es steht im Ermessen der Kammer, solche Änderungen zuzulassen.
32. Die Beschwerdebegründung der Beschwerdegegnerin enthält Angaben über die in den Hilfsanträgen durchgeführten Anspruchsänderungen und die Basis der Änderungen in der Patentschrift [sic]. Nach Artikel 12 (4) Satz 4 VOBK (sowie Artikel 123 (2) EPÜ) hätte die Beschwerdegegnerin jedoch die Grundlage der Änderungen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung angeben müssen. Wie von der Beschwerdeführerin treffend dargelegt, weicht der Inhalt der Patentschrift und der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung z.B. hinsichtlich K. lactis VAK367-D4 voneinander ab.
33. Des Weiteren hätte nach Artikel 12 (4) Satz 4 VOBK die Beschwerdegegnerin die Grundlage der Änderungen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht nur angeben, sondern auch begründen müssen, warum sie im Beschwerdeverfahren erfolgen und warum mit der jeweiligen Änderung die erhobenen Einwände ausgeräumt werden.
34. In ihrer Beschwerdebegründung (vgl. Seite 4, II) hat die Beschwerdegegnerin lediglich angemerkt, dass die Ansprüche der Hilfsanträge 3 bis 14 eingereicht würden, "um im Beschwerdeverfahren auf das Vorbringen der Einsprechenden [Beschwerdeführerin] gebührend reagieren zu können". In ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin (vgl. Seite 20, VII.) hat die Beschwerdegegnerin sodann angekündigt, dass sie zu diesen Anträgen "soweit erforderlich, in der mündlichen Beschwerdeverhandlung Stellung nehmen" werde. In Antwort auf die Mitteilung der Kammer (siehe Seite 1, vorletzter Absatz) hat die Beschwerdegegnerin schließlich mitgeteilt, sich auf diese Hilfsanträge "in der mündlichen Verhandlung nicht stützen" zu werden. Dass eine Begründung nicht erforderlich war, da es offensichtlich ist, welcher Einwand durch die eingeführten Änderungen ausgeräumt wird, wurde von der Beschwerdegegnerin zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht. Die Kammer kommt daher zur Auffassung, dass die Angaben der Beschwerdegegnerin keine hinreichende Begründung im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK darstellen.
35. Die Kammer hat daher in Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 12 (4) VOBK entschieden, Hilfsanträge 3 bis 14 nicht zum Verfahren zuzulassen.
Schlussfolgerung
36. Da keiner der im Verfahren befindlichen Anspruchsätze gewährbar ist, ist das Patent zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.