T 0110/21 (Wesentliche Merkmale/HYDAC) 21-09-2021
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Ventilvorrichtung
Fehlen der wesentlichen Merkmale - Hauptantrag (nein)
Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung - (ja)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung der vorliegenden europäischen Patentanmeldung, welche mittels einer Entscheidung nach Lage der Akte erfolgte. Die Entscheidung verweist hinsichtlich der Zurückweisungsgründe auf die Mitteilungen vom 18. Juni 2019 und 24. Februar 2020. In diesen Mitteilungen waren das Fehlen wesentlicher Merkmale und mangelnde Stütze durch die Beschreibung (Artikel 84 EPÜ) und mangelnde Neuheit im Hinblick auf die Dokumente
D5: DE 39 38 417 C1
D6: DE 10 2005 056039 A1
D7: DE 103 08 910 A1
als Einwände gegenüber Anspruch 1 genannt worden.
II. In ihrer Beschwerde beantragt die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf der Basis der anhängigen Anmeldeunterlagen zu erteilen. Hilfsweise wird beantragt, den Fall mit der Maßgabe, dass Anspruch 1 Artikel 84 EPÜ erfülle an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
III. Anspruch 1 lautet wie folgt (mit der von der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung verwendeten Merkmalsgliederung):
"1.1 Ventilvorrichtung, insbesondere in Form eines
Proportional-Druckregelventils,
1.2 mit einem in einem Ventilgehäuse (10)
längsverfahrbar geführten Ventilkolben (12), der
abhängig von seiner Verfahrstellung einen
Nutzanschluss (A) mit einem Druckversorgungs-
anschluss (P) sowie einem Tank- oder
Rücklaufanschluss (T) verbindet und der mittels
einer Betätigungseinrichtung (48), insbesondere
in Form eines bestrombaren Betätigungs-
magneten (28), ansteuerbar ist,
dadurch gekennzeichnet,
1.3 dass zwischen dem Ventilkolben (12) und der
Betätigungseinrichtung (48) eine
Steuereinrichtung (50) vorhanden ist,
1.4 die es erlaubt, den Ventilkolben (12) auf seiner
der Betätigungseinrichtung (48) zugewandten
Kolbenseite (52) in Richtung des Tank- oder
Rücklaufanschlusses (T) derart drucklos zu
machen, dass der Ventilkolben (12) unter dem im
Betrieb ansteuerbaren Versorgungs- und/oder
Nutzanschlussdruck in Richtung der
Betätigungseinrichtung (48) verfährt, wenn diese
unbetätigt ist."
1. Die Anmeldung
Die vorliegende Anmeldung betrifft ein Ventil zur elektrohydraulischen Vorsteuerung eines Wegeventils für große Arbeits- oder Baumaschinen, z.B. Bagger. Der Kolben des Ventils (Figur 1, Referenzzeichen 12) wird mittels einer Betätigungseinrichtung (48) und einer Steuereinrichtung (50) gegen die Kraft einer Rückstellfeder (14) aus seiner Ruhestellung bewegt. Wenn Schmutzpartikel in den Ventilkolben geraten, kann die Reibung des Kolbens (12) gegenüber der Wand des Ventilgehäuses erhöht sein. Dadurch kann es nach einem Abschalten der Betätigungseinrichtung (48) zu einem "Ventilklemmer" kommen, weil die Federkraft der Rückstellfeder (14) unter Umständen nicht mehr zum Rückstellen des Kolbens ausreicht. Dieser Fall ist als sicherheitskritisch einzustufen, weil der vom Proportional-Druckregelventil angesteuerte Hauptschieber dann nicht mehr in die Neutrallage zurückgeschaltet oder gebracht werden und somit der Verbraucher nicht mehr angehalten werden kann (siehe Seite 1, Zeilen 9 bis 17, Seite 4, Zeilen 13 bis 24 und Seite 12, Zeile 25 bis Seite 13, Zeile 7).
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Gemäß der Erfindung wird eine Steuereinrichtung (50) vorgesehen, die es erlaubt, den Ventilkolben (12) auf einer dem Nutzanschluss (A) abgewandten Seite (52) in Richtung des Tank- oder Rücklaufanschlusses (T) drucklos zu machen, wenn die Betätigungs-einrichtung (48) abgeschaltet ist. Da bei einem Ventilklemmer an der Nutzanschlussseite (A) immer noch der Versorgungs- und/oder Nutzanschlussdruck ansteht, reißt die der Druckdifferenz entsprechende Kraft den Kolben aus seiner Hemmung heraus (siehe Seite 14, Zeile 1 bis Seite 15, Zeile 2).
In der Anmeldung wird ein einziges Ausführungsbeispiel beschrieben. Nach diesem Ausführungsbeispiel wird der Ventilkolben (12) auf der dem Nutzanschluss (A) abgewandten Seite (52) dadurch drucklos gemacht, dass sich das Steuerteil (56) aufgrund des höheren Drucks in der Druckkammer (20) nach rechts bewegt, wenn die Betätigungseinrichtung (48) abgeschaltet wird. Dabei wird über Kanäle (Figur 2: 64) und eine Ausnehmung (70) eine Verbindung von der Kolbenseite (52) zu dem Tankanschluss hergestellt und somit die Druckkammer (20) auf Tankdruck entlastet (siehe Seite 13 der eingereichten Anmeldung).
2. Wesentliche Merkmale, Artikel 84 EPÜ
2.1 Die Prüfungsabteilung beanstandete, dass Anspruch 1 nicht alle Merkmale enthalte, die für die Erfindung wesentlich seien. Insbesondere würden die Kanäle (18), (64) und (66), sowie die Ausnehmung (70) gewährleisten, dass es nach Verschiebung des Steuerteils (56) nach rechts tatsächlich zu dem gewünschten Druckabfall in der Kammer (20) komme, der dann letztendlich zu einer Kraft auf den Steuerkolben und damit zu einem Loslösen desselben führe. Das bedeutet, ohne die Kanäle (18), (64) und (66), sowie die Ausnehmung (70) würde der technische Effekt der Lösung eines Ventilklemmers nicht erreicht, was sie zu "wesentlichen Merkmalen" mache. Durch das Weglassen von wesentlichen Merkmalen würde Anspruch 1 somit eine nicht gerechtfertige Breite zukommen. Für die gegenwärtig beanspruchte Breite des Anspruchs 1 gebe es keine Basis in der Anmeldung.
2.2 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist Artikel 84 EPÜ dahingehend zu verstehen, dass ein Anspruch nicht nur technisch gesehen verständlich sein muss, sondern auch den Gegenstand der Erfindung eindeutig kennzeichnen, d. h. alle seine wesentlichen Merkmale angeben, muss. Dies bedeutet, dass ein unabhängiger Anspruch im Sinne der Regel 43 (3) EPÜ alle wesentlichen Merkmale, die zur Definition der Erfindung erforderlich sind, ausdrücklich angeben sollte (siehe z.B. G 1/04, Gründe 6.2). Als "wesentliche Merkmale" sind hierbei alle Merkmale anzusehen, die zur Erzielung der gewünschten Wirkung bzw. zur Lösung der technischen Aufgabe, um die es in der Anmeldung geht, erforderlich sind (siehe z.B. T 32/82, Gründe 15; T 2001/12, Leitsatz a); T 1180/14, Gründe 2.1.1).
2.3 Die Prüfungsabteilung verweist im Zusammenhang mit dem Einwand der fehlenden wesentlichen Merkmale bezüglich Anspruch 1 auf den technischen Effekt "der Lösung eines Kolbenklemmers" (siehe Punkt 2.1 oben), welcher dem in der Beschreibung genannten Effekt entspricht (siehe Seite 14, Zeilen 5 bis 17).
2.4 Die anmeldungsgemäße Aufgabe ist es, "die Rückschaltsicherheit eines flächenübersetzten Proportional-Druckregelventils signifikant zu erhöhen, ohne dass die systembedingten Vorteile des Ventils negativ beeinflusst werden" (vgl. Seite 4, letzter Absatz der ursprünglichen Anmeldung). Diese Aufgabe wird laut Anmeldung durch "eine Ventilvorrichtung mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 in seiner Gesamtheit" gelöst (siehe Seite 5, erster Absatz der ursprünglichen Anmeldung). Die Kammer sieht keinen Grund, an dieser Angabe zu zweifeln. Daher kann die Kammer auch nicht nachvollziehen, warum die "Ausnehmung 70" und die "Kanäle 18, 64 und 66", die für die technische Wirkung der "Lösung eines Kolbenklemmers" erforderlich sein soll, zusätzlich als wesentliche Merkmale in den Anspruch 1 aufgenommen werden sollten (vgl. WOISA, Punkt 3; Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 18. Juni 2019, Punkt 3). Die folgenden Überlegungen sind hierfür entscheidend:
2.4.1 Die Lösung der in der Anmeldung angegebenen Aufgabe besteht darin, eine Ventilvorrichtung bereitzustellen, die nach einem Abschalten der Betätigungseinrichtung den Druck auf der Kolbenrückseite absenkt und durch die entstehende Druckdifferenz zwischen Kolbenvorderseite (P oder A) und Kolbenrückseite (T) eine Rückführung des Kolbens (trotz möglicher Hemmung) bewirkt.
2.4.2 Im Allgemeinen ist es nicht erforderlich, alle Einzelheiten der Erfindung in den unabhängigen Anspruch aufzunehmen. Eine Verallgemeinerung der in der Beschreibung offenbarten Merkmale der Lehre ist zulässig, sofern die beanspruchten verallgemeinerten Merkmale insgesamt die Lösung der Aufgabe ermöglichen und die Fachperson erkennen würde, dass auch andere Mittel als die in der Beschreibung genannten zur Erzielung einer Wirkung innerhalb der Grenzen der unabhängigen Ansprüche möglich wären (siehe z.B. T 630/93, Gründe 3.2.2).
2.4.3 Im vorliegenden Fall argumentierte die Beschwerdeführerin, dass ein Absenken des Drucks auf der Kolbenrückseite beispielsweise auch durch ein Ventil hergestellt werden könne, das bei Bedarf die Verbindung zwischen Kolbenrückseite und Tankanschluss herstellt. Die Kammer stimmt zu, dass sich diese und andere Möglichkeiten der "Drucklosmachung" der Kolbenrückseite für die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand erschließen würden. Die von der Vorinstanz geforderte Aufnahme von Merkmalen betreffend die Kanäle (18), (64) und (66), sowie die Ausnehmung (70) würde daher den Gegenstand der angemeldeten Erfindung in ungerechtfertigter Weise auf eine bestimmte Ausführungsform einschränken und damit den Schutzbereich gegenüber dem Inhalt der offenbarten Erfindung unzumutbar limitieren.
2.5 Die Prüfungsabteilung bemängelte zudem, dass es für die Breite des vorliegenden Anspruchs 1 keine Basis in der Anmeldung gebe, ohne hierfür weitere Gründe zu nennen. Somit wird ein Einwand mangelnder Stütze des Anspruchs durch die Beschreibung (Artikel 84 EPÜ) erhoben.
Die Kammer sieht jedoch keine größeren Schwierigkeiten für die Fachperson, Alternativlösungen zu dem in der Beschreibung vorgestellten Ausführungsbeispiel zu realisieren. Beispielsweise könnte das von der Beschwerdeführerin genannte Ventil zum Absenken des Drucks auf der Kolbenrückseite auch mit einem geeigneten, von der Betätigungseinrichtung abgeleiteten Signal angesteuert werden.
2.6 Anspruch 1 beinhaltet daher alle wesentlichen Merkmale der beanspruchten Erfindung und ist durch die Beschreibung gestützt (Artikel 84 EPÜ).
3. Zurückverweisung
3.1 In der Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 18. Juni 2019 wurden zwar Einwände mangelnder Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 im Hinblick auf die Dokumente D5 bis D7 erhoben. Diese wurden aber nur mit einem pauschalen Verweis auf die Zeichnungen dieser Dokumente begründet.
3.2 Zudem teilte die Prüfungsabteilung der Anmelderin in ihrer Mitteilung nach Artikel 94 (3) EPÜ vom 24. Februar 2020 mit, dass "eine weitere eingehende Sachprüfung ... nur mit Ansprüchen durchgeführt [wird], die den Erfordernissen des Artikels 84 EPÜ genügen.".
3.3 Da eine solche Sachprüfung bisher nicht erfolgt ist, verweist die Kammer - in Übereinstimmung mit dem hilfsweise gestellten Antrag der Beschwerdeführerin - die Anmeldung zur Prüfung des beanspruchten Gegenstands im Hinblick auf die weiteren Patentierungserfordernisse zurück (Artikel 111 (1) EPÜ; Artikel 11 VOBK 2020).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.