T 0457/22 03-05-2024
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TIEFBAUGERÄT UND TIEFBAUVERFAHREN
Hauptantrag - Änderungen - zulässig (nein)
Hilfsantrag 1 - Klarheit (ja)
I. Die Einsprechende legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das europäische Patent Nr. 3 296 467 in geänderter Fassung gemäß damaligem Hilfsantrag 1 aufrechterhalten wurde.
II. Der Einspruch richtete sich gegen das Patent im gesamten Umfang und stützte sich auf sämtliche Einspruchsgründe nach Artikel 100 EPÜ (mangelnde Neuheit, erfinderische Tätigkeit, Ausführbarkeit und unzulässige Änderungen).
III. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK vom 18. Januar 2024 teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten ihre vorläufige Beurteilung der Sach -und Rechtslage mit.
IV. Am 3. Mai 2024 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen. Die Entscheidung wurde am Schluss der Verhandlung verkündet.
V. Die Einsprechende (Beschwerdeführerin) beantragte
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
VI. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragte
die Zurückweisung der Beschwerde und somit die Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung gemäß Hilfsantrag 1 (Hauptantrag),
sowie hilfsweise
die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis des Anspruchssatzes gemäß Hilfsantrag 1, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung.
VII. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag (Patent in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung) lautet:
"Tiefbaugerät (10) zum Erstellen eines Gründungselementes im Boden mit
- einer Trägervorrichtung (13),
- einem Bodenbearbeitungswerkzeug (15), welches einen Boden an einer Bearbeitungsstelle bearbeitet, wobei als eine Bodenvertiefung ein Bohrloch oder ein Frässchlitz erstellbar ist, welche während des Abteufens oder nach seiner Beendigung zum Erstellen des Gründungselementes mit einem geeigneten Material verfüllbar ist, und
- mindestens einer GPS-Einheit (20), welche an der Trägervorrichtung (13) angeordnet ist und zur Bestimmung der Position der Bearbeitungsstelle ausgebildet ist,
- wobei die GPS-Einheit (20) mit einem Abstand zu der Bodenbearbeitungsstelle angeordnet ist,
- wobei zusätzlich zu der GPS-Einheit (20) eine Messeinrichtung (30) vorgesehen ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Messeinrichtung (30) einen Fächerlaser aufweist und ausgebildet ist, den Abstand zwischen der GPS-Einheit (20) und dem Bodenbearbeitungswerkzeug (15) mit einer Abstandsmessung der Messeinrichtung (30) zum Bodenbearbeitungswerkzeug (15) zu bestimmen."
VIII. Anspruch 7 gemäß Hauptantrag lautet:
"Tiefbauverfahren zum Erstellen eines Gründungselementes im Boden unter Verwendung eines Tiefbaugerätes (10) nach einem der Ansprüche 1 bis 6, wobei
- ein Boden an einer Bodenbearbeitungsstelle mit einem Bodenbearbeitungswerkzeug (15) bearbeitet wird, welches an einer Trägervorrichtung (13) angeordnet ist, wobei als eine Bodenvertiefung ein Bohrloch oder ein Frässchlitz abgeteuft wird, welche während des Abteufens oder nach seiner Beendigung zum Bilden des Gründungselementes mit einem geeigneten Material verfüllt wird, und
- eine Position der Bodenbearbeitungsstelle mittels mindestens einer GPS-Einheit (20) bestimmt wird, welche von der Bearbeitungsstelle beabstandet ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass ein Abstand zwischen dem Bodenbearbeitungswerkzeug (15) und der GPS-Einheit (20) mit einer Messeinrichtung (30), welche einen Fächerlaser aufweist, mittels einer Abstandsmessung der Messeinrichtung (30) zum Bodenbearbeitungswerkzeug (15) bestimmt wird."
IX. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag im kennzeichnenden Teil wie folgt (Hinzufügungen von der Kammer hervorgehoben):
"dass die Messeinrichtung (30) einen Fächerlaser aufweist und ausgebildet ist, den Abstand zwischen der GPS-Einheit (20) und dem Bodenbearbeitungswerkzeug (15) mit einer Abstandsmessung der Messeinrichtung (30) in einer horizontalen Ebene zum Bodenbearbeitungswerkzeug (15) sowie einem hinterlegten Abstand zwischen der Messeinrichtung (30) und der GPS-Einheit (20) zu bestimmen."
X. Anspruch 7 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von Anspruch 7 gemäß Hauptantrag im kennzeichnenden Teil wie folgt (Hinzufügungen von der Kammer hervorgehoben):
"dass ein Abstand zwischen dem Bodenbearbeitungswerkzeug (15) und der GPS-Einheit (20) mit einer Messeinrichtung (30), welche einen Fächerlaser aufweist, mittels einer Abstandsmessung der Messeinrichtung (30) in einer horizontalen Ebene zum Bodenbearbeitungswerkzeug (15) sowie einem hinterlegten Abstand zwischen der Messeinrichtung (30) und der GPS-Einheit (20) bestimmt wird."
XI. Die vorliegende Entscheidung nimmt auf das folgende Dokument Bezug:
Anlage B1: Europäische Norm EN 1536 : 1999 "Bohrpfähle", Juni 1999.
XII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beteiligten, das sich darauf bezog,
- ob die Ansprüche 1 und 7 gemäß Hauptantrag die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ erfüllen, und
- ob die Ansprüche 1 und 7 gemäß Hilfsantrag 1 die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ erfüllen,
wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Hauptantrag (aufrechterhaltene Fassung des Patents)
Änderungen - Artikel 123 (2) EPÜ
1.1 Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen die Feststellung unter Punkt 7.8 der Gründe der angefochtenen Entscheidung, dass die Gegenstände der Ansprüche 1 und 7 die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ erfüllten, und argumentierte, dass die Ausführung einer Abstandsmessung der Messeinrichtung zum Bearbeitungswerkzeug zur Bestimmung des Abstandes der GPS-Einheit zum Bearbeitungswerkzeug nur in Verbindung mit dem Merkmal ursprünglich offenbart sei, dass der Abstand zwischen Messeinrichtung und GPS-Einheit vorbekannt und hinterlegt sei.
1.2 Die Einspruchsabteilung verwies zur Begründung ihrer Feststellung hinsichtlich der Erfüllung der Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ auf die Absätze [0016], [0018], [0019] und [0035], Spalte 6, Zeilen 47 bis 49, der A1-Schrift des Streitpatents.
Durch den Ausdruck "kann" im Absatz [0016] werde zum Ausdruck gebracht, dass das oben unter Punkt 1.1 genannte Merkmal nicht nur in Verbindung mit einer Abstandsmessung der Messeinrichtung zum Bodenbearbeitungswerkzeug ursprünglich offenbart sei. Absätze [0018] und [0019] der A1-Schrift des Streitpatents enthielten keine Angabe zu einem hinterlegten Abstand. Daher brauche der Abstand zwischen GPS-Einheit und Messeinrichtung zur Bestimmung des Abstandes der GPS-Einheit zum Bodenbearbeitungswerkzeug unter Berücksichtigung der Abstandsmessung der Messeinrichtung zum Bodenbearbeitungswerkzeug nicht zwingend hinterlegt zu sein.
1.3 Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es in der Regel nicht zulässig, bei der Änderung eines Anspruchs isolierte Merkmale aus einer Reihe von Merkmalen herauszugreifen, die ursprünglich nur in Kombination miteinander offenbart waren (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, II.E.1.9.1).
Entgegen der angefochtenen Entscheidung bieten die Absätze [0016], [0018], [0019] und [0035], Spalte 6, Zeilen 47 bis 49, der A1-Schrift des Streitpatents keine Basis für die isolierte Aufnahme der Abstandsmessung der Messeinrichtung zum Bearbeitungswerkzeug zur Bestimmung des Abstandes der GPS-Einheit zum Bearbeitungswerkzeug in die unabhängigen Ansprüche, ohne dass der Abstand zwischen Messeinrichtung und GPS-Einheit vorbekannt und hinterlegt ist.
1.4 Die Kammer folgt entgegen der angefochtenen Entscheidung der Beschwerdeführerin, dass im Absatz [0016] der A1-Schrift des Streitpatents die Abstandsmessung zwischen Bodenbearbeitungswerkzeug und Messeinrichtung nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit dem Merkmal eines hinterlegten Abstandes zwischen GPS-Einheit und Messeinrichtung beschrieben ist. Der Hinweis der Einspruchsabteilung und der Beschwerdegegnerin auf den Ausdruck "kann" im Absatz [0016] überzeugt nicht, da sich die Formulierung des Absatzes [0016] der A1-Schrift auf die ursprüngliche Anspruchsfassung bezog, in der die Abstandsmessung zwischen Messeinrichtung und Bodenbearbeitungswerkzeug nicht enthalten war. Das optionale "kann-Merkmal" der Abstandsmessung zwischen Messeinrichtung und Bodenbearbeitungswerkzeug ist im Absatz [0016] der A1-Schrift nur in Verbindung mit einem hinterlegten Abstand zwischen der Messeinrichtung und der GPS-Einheit ursprungsoffenbart.
Dass die Absätze [0018] und [0019] der A1-Schrift des Streitpatents als Basis für die strittige Änderung dienten, da diese Absätze keine Angabe zu dem hinterlegten Abstand enthielten (siehe Punkt 7.5 der angefochtenen Entscheidung), ist unzutreffend. Denn nach Absatz [0019] wird der feste Teilabstand zwischen Messeinrichtung und GPS-Einheit zur Bestimmung des Gesamtabstandes vorausgesetzt. Auch die in Absatz [0018] beschriebene Variante, bei der die Messeinrichtung an der GPS-Einheit angeordnet ist und diese ein einheitliches Modul bilden, setzt voraus, dass die Messeinrichtung Kenntnis davon hat, dass der Abstand zwischen ihr und der GPS-Einheit ungefähr Null beträgt.
Ferner ist auch dem im Absatz [0035] der A1-Schrift des Streitpatents beschriebenen Ausführungsbeispiel in den Zeilen 50 bis 56 des Absatzes [0035] der ausdrückliche Hinweis zu diesem Ausführungsbeispiel zu entnehmen, dass eine Bestimmung des Abstandes zwischen Bodenbearbeitungswerkzeug und GPS-Einheit unter Verwendung des gemessenen Abstandes zwischen Bodenbearbeitungswerkzeug und Messeinrichtung zusätzlich den vorbestimmten Abstand der GPS-Einheit zu der Messeinrichtung verlangt. Auch hier überzeugt der Hinweis der Beschwerdegegnerin auf den Ausdruck "kann" entsprechend den oben unter diesem Punkt zum Absatz [0016] angegebenen Gründen nicht.
1.5 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer argumentierte die Beschwerdegegnerin zudem, dass die Absätze [0022] und [0023] der A1-Schrift des Streitpatents die Funktion des Fächerlasers ausschließlich mit einer Abstandsmessung ohne einen hinterlegten Abstand offenbarten. Das Merkmal eines hinterlegten Abstandes betreffe lediglich bevorzugte Ausführungsformen.
1.6 Die Kammer folgt dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass die Absätze [0022] und [0023] Konkretisierungen der Ausgestaltung der Messeinrichtung betreffen und in Verbindung mit den Ausführungsbeispielen nach den Absätzen [0018] und [0019] zu lesen sind. Dabei geht aus den Absätzen [0022] und [0023] auch nicht hervor, dass die strittigen Merkmale nicht im funktionellen Zusammenhang stehen.
1.7 Folglich ist der Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig eine Abstandsmessung der Messeinrichtung zum Bearbeitungswerkzeug zur Bestimmung des Abstandes zwischen der GPS-Einheit und dem Bearbeitungswerkzeug nur in Kombination mit dem Merkmal zu entnehmen, dass der Abstand zwischen Messeinrichtung und GPS-Einheit vorbestimmt und hinterlegt ist.
1.8 Durch das Weglassen dieses Merkmals in den Ansprüchen 1 und 7 sind die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ nicht erfüllt.
2. Hilfsantrag 1
Klarheit - Artikel 84 EPÜ
2.1 Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass der Begriff "geeignetes Material" in den Ansprüchen 1 und 7 gemäß Hilfsantrag unklar sei.
Laut der Beschwerdeführerin beruhten die Ausführungen der Einspruchsabteilung unter Punkt 9.1 der Entscheidungsgründe zur Klarheit dieses Begriffs auf einer bloßen Behauptung, ohne Begründung, weshalb die Ansprüche 1 und 7 das Erfordernis der Klarheit erfüllten. Der Wortlaut der Ansprüche 1 und 7 lasse die Fachperson im Unklaren darüber, welche Materialen zum Befüllen des Bohrloches vom Schutzumfang des Streitpatents umfasst seien.
Die Wahl eines geeigneten Materials hänge von der Leistungsbeschreibung ab und entscheidende Faktoren für die Wahl des Materials lägen außerhalb des Schutzumfangs der unabhängigen Ansprüche, wie Anlage B1 unter den Punkten 6.1.1 und 6.4.2 zu entnehmen sei.
2.2 Die Kammer ist nicht überzeugt, dass die Fachperson aufgrund ihres Fachwissens im Bereich Tiefbau nicht erkennt, welche Materialien zum Verfüllen der Bodenvertiefung zum Erstellen des Gründungselementes geeignet und daher vom Schutzumfang der unabhängigen Ansprüche umfasst sind.
Die Klarheit der Ansprüche 1 und 7 ist nicht schon durch die Breite des darin enthaltenen Begriffs "geeignetes Material" beeinträchtigt, weil die Bedeutung und Reichweite dieses Begriffs nach dem Wortlaut der unabhängigen Ansprüche an sich für die Fachperson eindeutig ist.
Zudem sind dem von der Beschwerdegegnerin eingereichten Nachweis des allgemeinen Fachwissens zur Erstellung von Bohrpfählen (Anlage B1, Abschnitt 6. "Baustoffe und Bauprodukte", Seite 9 bis 11) zulässige und somit geeignete Materialen für Gründungselemente explizit zu entnehmen, die die Fachperson als geeignete Materialien gemäß den beanspruchten Gegenständen erkennt und einsetzen kann.
2.3 Die Ansprüche 1 und 7 erfüllen daher die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent auf der Basis des Hilfsantrags 1, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung, und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.