T 0498/22 11-12-2023
Download und weitere Informationen:
FÜLLGRADSTEUERUNG FÜR EINEN SCHÜTTGUT-GREIFER EINES KRANS
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Lösung
Spät eingereichter Antrag - wäre bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch zurückzuweisen.
II. In ihrer Entscheidung ist die Einspruchsabteilung u.a. zu der Auffassung gelangt, dass Anspruch 1 wie erteilt erfinderisch gegenüber der Kombination von JP S57-151735 A (D1) mit Fachwissen sei. Hierzu wurde auch auf die maschinelle Übersetzung der D1 ins Englische (D1') Bezug genommen.
III. Am 11. Dezember 2023 fand eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den vollständigen Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents gemäß einem der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 4.
IV. Anspruch 1 wie erteilt (Hauptantrag) lautet wie folgt (Gliederung gemäß der angefochtenen Entscheidung):
1 Verfahren zum Füllen eines Greifers (2) für Schüttgut (14),
1.1 der an Halteseilen (12) aufgehängt ist und von einem Kran (1 ) über eine Steuerung (17) angehoben und abgesenkt wird
1.2 und der während des Schließens und Füllens mit seinem Eigengewicht auf das Schüttgut (14) einwirkt,
1.3 wobei über die Steuerung (17) ein Füllgrad des Greifers (2) mittels einer Verringerung der Wirkung des Eigengewichts des Greifers (2) auf das Schüttgut (14) beeinflusst wird, indem eine in den Halteseilen (12) wirkende Zugkraft beeinflusst wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
1.4 über die Steuerung (17) für die Halteseile (12) ein Zugkraft-SOLL-Wert (Fsoll) bestimmt wird,
1.4.1 der Zugkraft-SOLL-Wert (Fsoll) als Eingangsgröße an einen Zugkraftregler (18) ausgegeben wird,
1.4.2 von dem Zugkraftregler (18) ein Elektromotor (19) zum Heben und Senken des Greifers (2) gesteuert wird und
1.4.3 dem Zugkraftregler (18) ein ermittelter Zugkraft-IST-Wert (Fist) der Halteseile (12) als Eingangsgröße zugeführt wird.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 entspricht den erteilten Ansprüchen 1 und 2. Das aus Anspruch 2 wie erteilt hinzugefügte Merkmal lautet wie folgt:
1.5 wobei in der Steuerung (17) über ein Tendenzmodul (22d) an Hand von Verläufen von ermittelten Traglasten ein Zeitpunkt einer Änderung des Zugkraft-SOLL-Werts (Fsoll) und eine Schrittweite einer Änderung des Zugkraft-SOLL-Werts (Fsoll) zugeführt wird.
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) - soweit es für die Entscheidung wesentlich war - lässt sich wie folgt zusammenfassen:
D1 - erfinderische Tätigkeit
Anspruch 1 unterscheide sich von der D1 nur dadurch, dass zur Regelung der Eindringtiefe in das Schüttgut eine Zugkraft in den Halteseilen anstelle der Füllmenge des Greifers ("grasping amount") herangezogen werde. Der technische Effekt sei jedoch in beiden Fällen derselbe, nämlich, dass die Wirkung des Eigengewichts des Greifers beeinflusst werde.
Die zu lösende Aufgabe sei lediglich darin zu sehen, eine gleichwertige Alternative aufzuzeigen.
D1 habe bereits erkannt, dass die Füllmenge proportional zum Motorstrom sei. Der Fachmann wisse, dass dies auch für die Zugkraft in den Halteseilen gelte. Anspruch 1 beanspruche daher nur eine Designvariante, die keine erfinderische Tätigkeit erfordere.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) - soweit es für die Entscheidung wesentlich war - lässt sich wie folgt zusammenfassen:
D1 - erfinderische Tätigkeit
Der D1 fehle es an den Merkmalen 1.3 und 1.4 bis 1.4.3. Abgesehen davon, dass keine Zugkraftregelung offenbart sei, sei der D1 auch keine Steuerung zu entnehmen, die einen Soll-Wert bestimme (Merkmal 1.4). Ein Soll-Wert werde lediglich manuell vorgegeben (D1', Seite 4, zweiter Absatz, erster Satz). Die Steuerung erfolge auch nicht im Sinne des Anspruchs, weil die Anpassung der Füllmenge erst in einem Folgezyklus verwendet werde.
Auch werde in D1 nicht das Eigenwicht des Greifers beeinflusst (Merkmal 1.3), sondern eine Anpassung des Schlaffseils beschrieben (D1', Seite 4, zweiter Absatz, Zeilen 7 bis 9).
Somit werde das Verfahren nach Anspruch 1 auch mit Fachwissen nicht nahegelegt.
1. Erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1
1.1 Das Verfahren gemäß Anspruch 1 wie erteilt ist nicht erfinderisch ausgehend von D1 mit Fachwissen.
1.2 Offenbarung des Streitpatents
1.2.1 Das Streitpatent hat zum Ziel, ein Verfahren zum optimalen Füllen eines Greifers für Schüttgut bereitzustellen (Absatz [0009]).
1.2.2 Anspruch 1 definiert hierzu ein Verfahren mit einer Steuerung, die den Füllgrad eines Greifers dadurch beeinflusst, dass über die Beeinflussung der Zugkräfte in den Halteseilen das Eigengewicht des Greifers verringert wird. Hierzu ermittelt die Steuerung einen Zugkraft-Soll-Wert, der einem Zugkraftregler zugeführt wird. Weiterhin wird ein Zugkraft-Ist-Wert ermittelt, der ebenfalls dem Zugkraftregler zugeführt. Der Zugkraftregler steuert einen Elektromotor zum Heben und Senken des Greifers.
1.2.3 Anspruch 1 lässt weitere Details zur Ermittlung der Zugkraft-Werte oder zur Steuerung des Motors über den Zugkraftregler offen.
1.2.4 Dem Absatz [0035] der Streitschrift ist zu entnehmen, dass der Zugkraft-Ist-Wert "aus den aktuellen Daten des Elektromotors 19, insbesondere des Motorstroms, ermittelt" wird. Der Zugkraft-Ist-Wert wird somit nicht direkt, sondern indirekt über zur Zugkraft proportionale Motordaten bestimmt.
Gemäß Absatz [0044] wird ein Zugkraft-Soll-Wert als Startwert manuell eingegeben, der von der Steuerung verwendet wird. Dieser "vorgewählte Betrag" (Absatz [0037]) kann anhand von Verläufen mehrerer Greifvorgänge über ein Tendenz-Modul iterativ angepasst werden (Absätze [0036, 0037]). Weiterhin kann gemäß Absatz [0031], Zeilen 37 bis 40, der Zugkraftregler, der Bestandteil der Steuerung ist, durch einen Schlaffseilregler abgebildet werden.
1.3 Offenbarung der D1
1.3.1 Die D1 befasst sich wie die Streitschrift, Absatz [0009], mit einer optimierten Greiferfüllmenge, durch die einerseits eine Überlast vermieden, andererseits aber eine wirtschaftliche Ausnutzung gewährleistet wird (D1', Seite 2, zweiter Absatz, Zeilen 3 bis 8: "[...] controlling the grasping amount of a grab bucket in which the above problems are solved (made by protecting equipment and cargo handling efficiency)".)
1.3.2 Hierzu offenbart die D1 (D1', Seite 4, zweiter Absatz, Zeilen 1 bis 10 und Figur 5) folgendes Verfahren:
a) Über einen "grasping amount setter 30" wird ein Soll-Wert ("preset target set value") für die Füllmenge des Greifers manuell vorgegeben, der von der Steuerung verwendet wird - ähnlich dem Startwert für den Soll-Wert im Streitpatent.
b) Weiterhin wird mit dem "current detector 24" und dem "grasping amount calculator 26" über den Motorstrom ein Ist-Wert der Füllmenge ermittelt (D1', Seite 3, zweiter Absatz, Zeilen 8, 9: "the grasping amount can be obtained from the relationship between the current value and the grasping amount"). Die Ermittlung des Ist-Werts erfolgt somit entsprechend dem Streitpatent über Motordaten, die proportional zur Füllmenge sind.
c) Soll- und Ist-Wert werden einem "comparator 28" zugeführt und dort verglichen. Der Vergleichswert wird der "sink amount computing unit 32" zugeführt, mit dem die entsprechende Länge der Halteseile und damit die Einsinktiefe des Greifers berechnet wird. Der "comparator 28" zusammen mit dem "sinking amount calculator 32" entspricht in seiner Funktion dem beanspruchten Zugkraftregler. Dieser steuert über die "support motor control unit 34" den Motor 20 der Halteseile.
d) Damit umfasst die Steuerung in D1 zumindest den "grasping amount setter 30", den "comparator 28" und die "sink amount computing unit 32", wobei die Steuerung den vorgegebene Betrag der Füllmenge als Soll-Wert festlegt und in diesem Sinne bestimmt.
1.4 Unterscheidungsmerkmale, technische Aufgabe und naheliegende Lösung
1.4.1 Anspruch 1 unterscheidet sich von der D1 nur dadurch, dass der Motorstrom für eine Zugkraftregelung verwendet wird und nicht für eine Füllmengenregelung.
1.4.2 Wie von der Beschwerdeführerin (Einsprechende) vorgetragen, ergibt sich hieraus jedoch keine technische Wirkung, die sich nicht auch in der D1 ergibt. Somit kann die Aufgabe lediglich in der Bereitstellung einer Alternative gesehen werden.
1.4.3 Bei der Zugkraft in den Halteseilen handelt es sich um ein Äquivalent zur Füllmenge. Insbesondere sind dem Fachmann die proportionalen Zusammenhänge zwischen dem Motorstrom, der Füllmenge und der Zugkraft bekannt. Die Zugkraft in den Halteseilen ergibt sich durch Multiplikation der Füllmenge m (zzgl. des vorgegebenen Gewichts des Greifers und der Seile, vgl. Streitpatent, Absatz [0014]) und der Erdbeschleunigung g und unterscheidet sich somit im Wesentlichen nur durch den konstanten Faktor g.
Aufgrund des trivialen proportionalen Zusammenhangs und der Tatsache, dass sich die Werte einfach ineinander umrechnen lassen, basieren beide Regelungen auf dem gleichen Konzept.
1.4.4 Das Heranziehen von Zugkräften in den Halteseilen zur Optimierung der Füllmenge des Greifers kann daher keine erfinderische Tätigkeit begründen.
1.5 Argumente der Beschwerdegegnerin
1.5.1 Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass die Füllmengenregelung in D1 nur durch eine Anpassung der schlaffen Länge des Halteseils erfolge (D1', Seite 4, zweiter Absatz, Zeilen 7, 8 "The control device 34 adjusts the slack amount of the support rope..."). Daher sei Merkmal 1.3, wonach der Füllgrad über eine Verringerung der Wirkung des Eigengewichts beeinflusst werde, nicht offenbart.
Die Kammer ist nicht überzeugt. Auch in D1 wird die Füllmenge des Greifers über eine Verringerung der Wirkung des Eigengewichts beeinflusst. Der von der Beschwerdegegnerin genannte Absatz auf Seite 4 offenbart in den folgenden Zeilen 10, 11 als Ergebnis der Anpassung der Seillänge, dass die Einsinktiefe - und damit die Wirkung des Eigengewichts des Greifers - im Folgezyklus verringert wird ("As a result,... the sinking amount is controlled to be reduced at the time of the next grasping.."). Merkmal 1.3 ist somit in D1 offenbart.
1.5.2 Die Beschwerdegegnerin argumentierte weiter, dass weder der "grasping amount setter 30" noch der "comparator 28" eine Steuerung im Sinne des Anspruchs sei, da der Soll-Wert nicht bestimmt, sondern nur manuell eingegeben werde (D1, Seite 4, zweiter Absatz: "...compared with a set value preliminarily set by a grasping amount setter 30 arranged on an operation desk.").
Die Kammer stimmt zwar zu, dass in D1 ein Soll-Wert für die Füllmenge tatsächlich manuell eingegeben wird ("value set in advance", Seite 4, zweiter Absatz, Zeile 2; Anspruch 1, Zeile 7 "preset target set value"). Der Wortlaut des Merkmals 1.4 ist jedoch breit formuliert. Auch das Streitpatent offenbart eine manuelle Eingabe des Zugkraft-Soll-Werts (Absatz [0044]). Auch wenn die manuelle Eingabe nur einem Startwert entspricht, geht genau dieser Wert in das beanspruchte Verfahren ein, solange das Tendenzmodul keine Anpassung veranlasst. Der Anspruchswortlaut fordert weder eine automatische Bestimmung des Soll-Werts noch eine Anpassung des Startwerts. Daher fällt im weitesten Sinne auch eine Steuerung, die den manuellen Eingabewert als Soll-Wert bestimmt, unter den Wortlaut des Merkmals 1.4.
1.5.3 Gemäß der Beschwerdegegnerin sei der "comparator 28" kein Regler im Sinne der Merkmale M1.4.1 bis M1.4.3, da sich die berechnete Füllmenge auf den aktuellen Zyklus beziehe, jedoch erst im darauffolgenden Zyklus einer Greiferfüllung verwendet werden könne.
Die ist nicht überzeugend, da der Anspruch auch diesbezüglich nicht beschränkend formuliert ist.
1.6 Der Hauptantrag erfüllt somit nicht die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ.
2. Einwände zu Hilfsantrag 1
2.1 Zulassung
2.1.1 Unter Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 12(4) VOBK 2020 lässt die Kammer den mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 1 ins Verfahren zu.
2.1.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte erstmals in der mündliche Verhandlung, dass Hilfsantrag 1 bereits erstinstanzlich hätte eingereicht werden müssen. Hilfsantrag 1 sei somit verspätet und gemäß Artikel 12(6), zweiter Satz, VOBK 2020 nicht ins Verfahren zuzulassen.
2.1.3 Zunächst sei angemerkt, dass gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 ein solcher, erst in der mündliche Verhandlung vorgebrachte Antrag auf Nicht-Zulassung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist. Die Beschwerdeerwiderung mit den Hilfsanträgen wurde im August 2022 eingereicht. Die Ladung zur mündliche Verhandlung mit der vorläufigen Meinung der Kammer erfolgte im Juli 2023, so dass der Beschwerdeführerin vor der Ladung genügend Zeit zur Verfügung stand, auf die Beschwerdeerwiderung zu reagieren. Auch wurden keine außergewöhnlichen Umstände gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 geltend gemacht.
2.1.4 Abgesehen von der Zulässigkeit des Einwands sieht die Kammer im erstinstanzlichen Verfahren auch keinen konkreten Anlass für die Einreichung von Hilfsanträgen. Die Einspruchsabteilung teilte bereits in ihrer vorläufigen Meinung vom 3. Dezember 2019 (insbesondere Punkt 2.4 "Zusammenfassung") den Parteien mit, dass eine Zurückweisung des Einspruchs wahrscheinlich sei.
2.1.5 Die Einreichung von Hilfsantrag 1 erfolgte somit frühzeitig im Beschwerdeverfahren als Reaktion auf die in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwände gegen das Patent wie erteilt.
2.2 Substantielle Einwände
2.2.1 Die Beschwerdeführerin brachte erstmals in der mündlichen Verhandlung vor, dass erstinstanzlich Einwände gegen den erteilten Anspruch 2 erhoben worden seien. Da sich Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 aus den erteilten Ansprüchen 1 und 2 ergebe, seien die Einwände gleichermaßen gültig.
2.2.2 Die Kammer stellt fest, dass im schriftlichen Beschwerdeverfahren weder Einwände gegen die abhängigen Ansprüche noch gegen Hilfsantrag 1 vorgebracht wurden. Entsprechend obigem Punkt 2.1.3 sind diese, erstmals in der mündliche Verhandlung vorgebrachten Einwände gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht zu berücksichtigen, zumal auch hier keine außergewöhnlichen Umstände geltend gemacht wurden.
2.3 Hilfsantrag 1 bildet folglich eine geeignete Grundlage für die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang.
3. Beschreibung
Die von der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) in der mündlichen Verhandlung eingereichte Beschreibung wurde an den Wortlaut des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 angepasst. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hatte hierzu keine Einwände.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird mit der Anordnung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen, das Patent aufgrund folgender Unterlagen aufrecht zu erhalten:
Ansprüche 1 - 10 des Hilfsantrags 1, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung,
Beschreibung: Seiten 2 und 4-8 der Patentschrift, Seite 3 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung,
Figuren 1-4 der Patentschrift.