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T 0640/22 03-06-2024
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Sicherheitsschaltvorrichtung zum sicheren Aus- und/oder Einschalten zumindest einer elektrischen Maschine
Hauptantrag - unzulässige Erweiterung (ja)
Neuer Hilsantrag nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 3 441 997.
II. In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass keiner der Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ, Artikel 100 b) EPÜ und Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents entgegensteht.
III. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents gemäß Hauptantrag entgegenstehe.
IV. Mit Schreiben vom 6. März 2024 reichte die Patentinhaberin einen neuen Hilfsantrag ein, der die mit Schreiben vom 16. September 2021 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 3 ersetzen sollte.
V. Eine mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 3. Juni 2024 als Videokonferenz statt.
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) sowie hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung gemäß Hilfsantrag eingereicht mit Schreiben vom 6. März 2024.
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags gemäß dem erteilten Patent hat den folgenden Wortlaut (Merkmalsbezeichnungen in eckigen Klammern hinzugefügt):
"[1.1] Sicherheitsschaltvorrichtung (1) zum sicheren Aus- und/oder Einschalten zumindest einer elektrischen Maschine, umfassend
[1.2] zumindest eine Leiterplatte (L) mit zumindest einer Steuereinheit (myC) zum Steuern der elektrischen Maschine,
[1.3] wobei die Leiterplatte (L) elektrische Kontakte (3a, 3b) aufweist
[1.4] und die Steuereinheit (myC) über die elektrischen Kontakte (3a) Eingangssignale von zumindest einem Signalgeber empfängt und verarbeitet und die elektrische Maschine steuert,
[1.5] und einen auf die Leiterplatte (L) aufsteckbaren Steckverbinder (2) zum elektrischen Verbinden mit den Kontakten (3a, 3b), dadurch gekennzeichnet,
[1.6] dass die elektrischen Kontakte (3a, 3b) der Leiterplatte (L) teils einem Niedrigspannungskreis von 12-Volt oder 24-Volt und teils einem Netzspannungskreis von 110-Volt oder 230-Volt zugeteilt sind,
[1.7] und der Steckverbinder (2) mit ersten Anschlussbuchsen (E) zum Anschließen des zumindest einen Signalgebers an den Kontakten (3a) des Niedrigspannungskreises der Leiterplatte (L) und zweiten Anschlussbuchsen (A) zum Anschließen der elektrischen Maschine an den Kontakten (3b) des Netzspannungskreises der Leiterplatte (L) versehen ist,
[1.8] wobei eine elektrische Verbindung zwischen den elektrischen Kontakten (3a, 3b) der Leiterplatte (L) und den ersten und zweiten Anschlussbuchsen (E, A) derart ausgebildet ist, dass ein Mindestabstand (4) zwischen zwei gegenüberliegend angeordneten ersten und zweiten Anschlussbuchsen (E und A) vorgesehen ist,
[1.9] wobei der Mindestabstand (4) um ein Vielfaches größer ist, als ein erster Abstand (5) zwischen jeweils benachbarten ersten Anschlussbuchsen (E) oder zwischen jeweils benachbarten zweiten Anschlussbuchsen (A)."
VII. Im Lichte der von der Kammer über die Nicht-Zulassung des Hilfsantrags getroffenen Entscheidung war die Wiedergabe seines Wortlauts an dieser Stelle nicht erforderlich.
VIII. Auf die relevanten Argumente der Parteien wird in den Entscheidungsgründen eingegangen.
1. Hauptantrag - Änderungen (Artikel 100 c) EPÜ)
1.1 Der Gegenstand des europäischen Patents geht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus (Artikel 100 c) EPÜ).
1.2 Das Merkmal 1.8 des Anspruchs 1 hatte in der ursprünglich eingereichten Fassung folgenden Wortlaut:
"dass jede erste Anschlussbuchse (E), die mit den Kontakten (3a) des Niedrigspannungskreises verbundenen ist, innerhalb des Steckverbinders (2) in einem Mindestabstand (4) von jeder zweiten Anschlussbuchse (A), die mit den Kontakten (3b) des Netzspannungskreises verbundenen ist, beabstandet angeordnet ist" (Hervorhebung kammerseitig hinzugefügt)
1.3 Das Merkmal 1.8 ist im erteilten Anspruch 1 wie folgt geändert worden:
"wobei eine elektrische Verbindung zwischen den elektrischen Kontakten (3a, 3b) der Leiterplatte (L) und den ersten und zweiten Anschlussbuchsen (E, A) derart ausgebildet ist, dass ein Mindestabstand (4) zwischen zwei gegenüberliegend angeordneten ersten und zweiten Anschlussbuchsen (E und A) vorgesehen ist" (Hervorhebung kammerseitig hinzugefügt)
1.4 Die Einspruchsabteilung hat in der angefochtenen Entscheidung dargelegt, dass die ursprünglichen Anmeldungsunterlagen in ihrer Gesamtheit einen (einzigen) Mindestabstand zwischen den beiden Gruppen von Anschlussbuchsen E und A offenbaren, der auf die elektrische Isolierung der beiden Gruppen abzielt. Es wurde in diesem Zusammenhang insbesondere auf die ursprüngliche Figur 3 verwiesen, in der ein einziger Mindestabstand mit dem Bezugszeichen 4 gekennzeichnet sei. Dementsprechend sei der Mindestabstand in dem ursprünglichen Merkmal 1.8 des Anspruchs 1 so definiert, dass jede erste Anschlussbuchse (E), die mit den Kontakten (3a) des Niedrigspannungskreises verbundenen ist, innerhalb des Steckverbinders (2) in einem Mindestabstand (4) von jeder zweiten Anschlussbuchse (A), die mit den Kontakten (3b) des Netzspannungskreises verbunden ist, beabstandet angeordnet sei. Nach der Auffassung der Einspruchsabteilung ergebe sich aus dem erteilten Anspruch 1 nichts anderes, da der Fachmann den Anspruch 1 nicht anders auffassen würde als so, dass er im Lichte des Wortlauts "ein Mindestabstand" nur einen einzigen, nämlich den in Figur 3 gezeigten Mindestabstand 4 aufweise.
1.5 Die Beschwerdegegnerin hat im Wesentlichen dargelegt, dass ein Patent mit dem Willen zu lesen sei, es zu verstehen. Wenn man den "nackten" Anspruchswortlaut ohne jegliche Berücksichtigung der Beschreibung und Figuren nehme, handele es sich bei dem Merkmal 1.8 um ein leeres Merkmal, da dann jeder Abstand zwischen den Anschlussbuchsen möglich wäre. Das Patent habe aber den Sinn und Zweck einen bestimmten Abstand zwischen den ersten und zweiten Anschlussbuchsen einzuhalten. Im Lichte dieser der Beschreibung und der Figuren entnehmbaren Information sei völlig klar, dass das Merkmal 1.8 einen Mindestabstand zwischen zwei gegenüberliegenden Anschlussbuchsen beanspruche, der somit zwischen anderen gegenüberliegenden Anschlussbuchsen nicht kleiner sein könne. Dieses sinnvolle Verständnis des Anspruchs 1 sei im Übrigen über viele Jahre hinweg Konsens gewesen.
1.6 Die Kammer kann sich weder der Auffassung der Einspruchsabteilung noch der Auffassung der Beschwerdegegnerin anschließen.
Nach Auffassung der Kammer ist der Wortlaut des Merkmals 1.8 in sich klar und eindeutig sodass kein Interpretationsspielraum besteht. Er enthält die unmittelbar verständliche, ausdrückliche technische Lehre, dass zwischen zwei gegenüberliegenden ersten und zweiten Anschlussbuchsen ein Mindestabstand vorgesehen ist. Dieser Mindestabstand zwischen den beiden sich gegenüberliegenden ersten und zweiten Anschlussbuchsen des Merkmals 1.8 darf daher nicht unterschritten werden.
Über die relative Anordnung der weiteren, über die beiden in Merkmal 1.8 genannten ersten und zweiten Anschlussbuchsen hinausgehenden Anschlussbuchsen des Anspruchs 1 zueinander sagt Anspruch 1 nichts aus, auch nicht implizit. Weder Artikel 69 EPÜ noch eine andere Vorschrift des EPÜ bietet eine Rechtsgrundlage dafür, einer klar definierten technischen Lehre in der beanspruchten Fassung entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut im Hinblick auf Passagen in der Beschreibung oder aufgrund der Figuren einen engeren Sinngehalt beizumessen (vgl. hierzu T 1628/21, Nr. 1.1.16 der Entscheidungsgründe).
Eine Heranziehung von Artikel 69 EPÜ in dem Sinne, dass ein breiter Anspruchswortlaut im Einspruchs- bzw. Einspruchsbeschwerdeverfahren im Hinblick auf Textstellen in der Beschreibung enger ausgelegt wird, als es durch den an sich klaren Wortlaut gerechtfertigt ist, würde das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ weitgehend obsolet machen.
1.7 Der Wortlaut des Anspruchs 1 umfasst somit jedenfalls Ausführungsformen, bei denen der Abstand zwischen zwei weiteren gegenüberliegenden ersten und zweiten Anschlussbuchsen E und A nicht dem Mindestabstand zwischen den zwei gegenüberliegend angeordneten Anschlussbuchsen E und A gemäß Merkmal 1.8 zu entsprechen braucht. Auch verlangt Anspruch 1 in der erteilten Fassung keinen weiteren Mindestabstand zwischen zwei weiteren gegenüberliegenden ersten und zweiten Anschlussbuchsen E und A und schon gar nicht, dass weitere gegenüberliegende erste und zweite Anschlussbuchsen E und A zwingend den in Merkmal 1.8 genannten Mindestabstand zwischen den zwei gegenüberliegenden Anschlussbuchsen einhalten müssen.
1.8 Es kann daher dahinstehen bleiben, ob die ursprüngliche Anmeldung einen einzigen Mindestabstand zwischen den zwei Gruppen von (gegenüberliegenden) Anschlussbuchsen, wie in Figur 3 illustriert, beschreibt oder nicht. Nach dem erteilten Anspruch genügt es nämlich jedenfalls, wie oben bereits ausgeführt, wenn ein Mindestabstand zwischen lediglich zwei gegenüberliegenden ersten und zweiten Anschlussbuchsen vorgesehen ist. Andere Abstände, insbesondere zwischen zwei weiteren der in Anspruch 1 definierten ersten und zweiten Anschlussbuchsen, müssen nach dem eindeutigen und klaren Wortlaut des Anspruchs 1 nicht vorgesehen sein.
1.9 Hingegen ist gemäß dem ursprünglichen Anspruch 1 ein Mindestabstand zumindest zwischen jeder ersten Anspruchsbuchse und jeder zweiten Anschlussbuchse vorgesehen, entsprechend der ursprünglichen Offenbarung auf Seite 6, erster Absatz. Für jede erste Anschlussbuchse ist demnach ein Mindestabstand zu jeder zweiten Anschlussbuchse vorgesehen. Dies stellt eine klar definierte Lehre zumindest in dem Sinne dar, dass bei mehreren ersten Anschlussbuchsen auch Abstände vorgesehen sein können, die größer als der in Anspruch 1 definierte Mindestabstand sind. Eine entsprechende Definition der Abstände der weiteren in Anspruch 1 genannten ersten und zweiten Anschlussbuchsen ist in dem erteilten Anspruch 1 jedoch nicht mehr vorhanden.
1.10 Anspruch 1 des erteilten Patents umfasst somit technische Sachverhalte, die nach der Überzeugung der Kammer den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht zu entnehmen sind. Diese von Anspruch 1 klar und eindeutig umfassten technischen Sachverhalte können, wie vorstehend dargelegt, auch nicht mit Hilfe der Beschreibung oder der Figuren imaginär zum Verschwinden gebracht werden.
1.11 Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag geht somit über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen hinaus. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents folglich entgegen.
2. Hilfsantrag - Berücksichtigung im Beschwerdeverfahren (Artikel 13 (2) VOBK)
2.1 Mit Schreiben vom 6. März 2024 hat die Beschwerdegegnerin einen neuen Hilfsantrag eingereicht, der die bis dahin geltenden Hilfsanträge 1 bis 3 ersetzen sollte. Mit dem neuen Hilfsantrag hat die Beschwerdegegnerin erstmals im gesamten Verfahren auf den bereits mit der Einspruchsbegründung vorgebrachten Einwand der unzulässigen Änderung nach Artikel 100 c) EPÜ bezüglich des Merkmals 1.8 reagiert.
2.2 Gemäß Artikel 13 (2) VOBK bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
2.3 Die Beschwerdegegnerin hat dargelegt, dass es im Sinne eines fairen und ausgewogenen Verfahrens sei, wenn im Gegenzug für die Erörterung aller, auch seitens der Beschwerdeführerin neu vorgebrachter Einwände, der neue Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren berücksichtigt werden würde. Weiterhin wurde seitens der Beschwerdegegnerin die geringe Komplexität des Sachverhalts, die eindeutige Zulässigkeit der Änderungen nach Artikel 84 und 123 (2) EPÜ sowie die prima facie Ausräumung des Einwandes der mangelnden Offenbarung vorgebracht.
2.4 Argumente im Hinblick auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands hat die Beschwerdegegnerin weder vorgebracht noch ist ein solcher Umstand erkennbar. Insbesondere bezieht sich keiner der von der Beschwerdegegnerin vorgebrachten Argumente auf einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK, der die Zulassung des erstmals nach Erhalt der Ladung eingereichten Hilfsantrags rechtfertigen könnte.
2.5 Die Kammer hat ihr Ermessen gemäß Artikel 13 (2) VOBK folglich dahingehend ausgeübt, den Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen.
3. Ergebnis
Da der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents gemäß Hauptantrag entgegensteht und der einzige Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt geblieben ist, war dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.