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T 0976/22 09-02-2024
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ELEKTRISCHER FAHRANTRIEB FÜR ELEKTROFAHRZEUGE
Puls, Rainer M.
Puls, Oliver
I. Das europäische Patent Nr. 2 697 089 wurde mit der am 9. Februar 2022 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang aufrechterhalten. Dagegen wurde von der Patentinhaberin form- und fristgerecht gemäss Artikel 108 EPÜ Beschwerde eingelegt.
II. Folgende Dokumente werden in dieser Entscheidung zitiert:
WO-A (hiermit wird im Folgenden die veröffentlichte, ursprünglich eingereichte Anmeldung bezeichnet);
EP-B (hiermit wird im Folgenden die veröffentlichte Patentschrift bezeichnet).
III. Es fand am 9. Februar 2024 eine mündliche Verhandlung statt. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und das Patent auf Grundlage des "korrigierten Hauptantrags" (Hauptantrag im Beschwerdeverfahren), eingegangen am 20. Juni 2022, hilfsweise des in der Entscheidung diskutierten Hauptantrags (Hilfsantrag 1 im Beschwerdeverfahren) und höchst hilfsweise auf Grundlage des "korrigierten Hilfsantrags 2" (Hilfsantrag 2 im Beschwerdeverfahren), eingegangen am 20. Juni 2022, und einer gegebenenfalls noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags hat folgenden Wortlaut:
"Elektrischer Fahrantrieb für Elektrofahrzeuge mit koaxial in einer Achse liegenden je zwei Motoren (2), Getrieben (3, 3a), Encodern (1) (Positionsgeber), wobei jedes Rad (10) über einen eigenen Motor (2) mit Getriebe (3) und Encoder (1) angetrieben ist, wobei jeweils der Motor (2) mit dem Getriebe (3, 3a) in einem gemeinsamen Gehäuse (A) angeordnet ist,
dadurch gekennzeichnet, dass das Motorgehäuse von einem Kühlmantel (15) für die Kühlung der Motorwicklung umschlossen ist."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 entspricht Anspruch 1 wie erteilt und unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass der Wortlaut "Motorgehäuse" durch den Wortlaut "Motorgehäuse (A)" ersetzt wird.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass der Wortlaut "wobei jeweils der Motor (2) mit dem Getriebe (3, 3a) in einem gemeinsamen Gehäuse (A) angeordnet ist," durch den Wortlaut "und wobei beide Motoren (2) und Getriebe (3, 3a) in einem gemeinsamen Gehäuse (A) angeordnet sind" ersetzt wird.
V. Die Beschwerdeführerin führte aus, dass die beantragte Korrektur (im erteilten Anspruch 1 (Hauptantrag) sowie im korrigierten Hilfsantrag 2 des Einspruchsverfahrens (Hilfsantrag 2)), nämlich die Streichung des Bezugszeichens "A" im Wortlaut "Motorgehäuse (A)" die Anforderungen von Regel 80 EPÜ erfülle.
In der Tat, selbst wenn der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ von der Einsprechenden nicht geltend gemacht worden sei, sei die besagte Korrektur dennoch möglich, nämlich um einen Widerspruch zwischen der Offenbarung der ursprünglichen Anmeldung (siehe WO-A) und dem Anspruchsgegenstand zu beheben, und damit auch um einen möglichen Ausführbarkeitsmangel zu beheben.
Die besagte Korrektur sei auch im Einklang mit Regel 139 EPÜ, weil aus der Beschreibung von WO-A hervorgehe, dass das Bezugszeichen "A" einzig und allein dem Gehäuse zugeordnet sei, nämlich entweder dem in den Figuren 3, 4, 5 und 6 abgebildeten "gemeinsamen Gehäuse" oder dem in den Figuren 5A und 5B abgebildeten "eigenen/einzelnen Gehäuse".
Nirgends sei in der Beschreibung das Bezugszeichen "A" dem spezielleren "Motorgehäuse" zugeordnet. Die fälschliche Verwendung des Bezugszeichens "A" im Zusammenhang mit dem "Motorgehäuse" im erteilten Anspruch 1 sei deswegen als offensichtliche Unrichtigkeit zu erkennen.
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 (Hilfsantrag 1) erfülle die Anforderungen von Artikel 123(2) EPÜ, weil das Merkmal "wobei jeweils der Motor (2) mit dem Getriebe (3, 3a) in einem gemeinsamen Gehäuse (A) angeordnet ist" nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung (siehe WO-A) hinausgehe.
Insbesondere erfolge die Weglassung des Merkmals "drehbar gelagert" im Rahmen dessen, was der Fachmann der Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens -objektiv und bezogen auf den Prioritätstag - unmittelbar und eindeutig entnehmen könne (siehe G3/89, G11/91 und G2/10).
Die Erfüllung der Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ ergebe sich auch daraus, dass i) das weggelassene Merkmal in WO-A nicht als wesentlich oder essentiell hingestellt sei, dass (ii) der Fachmann dass weggelassene Merkmal als für die Funktion der Erfindung (unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe die sie lösen soll) nicht unerlässlich erkennen würde, und dass (iii) der Fachmann das Weglassen des Merkmals (einer "drehbaren Lagerung") als keine Angleichung eines oder mehrerer anderer Merkmale erfordernd erkennen würde.
Der Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag sowie dem Hilfsantrag 2 erfülle auch die Erfordernisse von Regel 140 EPÜ, weil diese Regel (siehe G1/10 Nr.13) erst nach dem Ende der Anhängigkeit der gesamten Verfahren anzuwenden sei, nämlich durch den Spruchkörper der auch die zu korrigierende Entscheidung getroffen habe.
VI. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) führte aus, dass der Hauptantrag und der Hilfsantrag 2 die Erfordernisse von Regel 80 EPÜ, von Regel 139 EPÜ und Regel 140 EPÜ nicht erfüllten, während der Hilfsantrag 1 die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ nicht erfülle.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin nicht stattzugeben ist, weil die beantragte Korrektur im erteilten Anspruch 1 (Streichung des Bezugszeichens (A) im Wortlaut "Motorgehäuse (A)") aus mehreren Gründen nicht zulässig ist.
Zum Ersten wird festgestellt, dass diese Korrektur nicht durch einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 EPÜ veranlasst wird, entgegen den Anforderungen von Regel 80 EPÜ.
Insbesondere gilt, ganz abgesehen davon, ob der entsprechende Einspruchsgrund (z.B. Artikel 83 EPÜ) tatsächlich geltend gemacht wurde oder nicht, dass dieser Einspruchsgrund nicht durch die Streichung eines Bezugszeichens überwunden werden kann, weil die Angabe von Bezugszeichen gemäß Regel 43(7) EPÜ rein fakultativ ist und die Bezugszeichen jedenfalls keine einschränkende Wirkung haben.
Damit sind die Bezugszeichen auch nicht Teil des beanspruchten Gegenstands und die Streichung von Bezugszeichen hat keine Wirkung auf den Anspruchsgegenstand und kann folglich auch nicht durch einen Einspruchsgrund veranlasst sein.
Zum Zweiten wird auch festgestellt, dass die für eine Korrektur nach Regel 139 EPÜ erforderlichen Kriterien im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind, weil nicht unmittelbar ersichtlich ist, ob ein offensichtlicher Fehler vorliegt. Dies ergibt sich z.B. aus der veröffentlichten Patentanmeldung (siehe WO-A), so z.B. aus dem Wortlaut "Fig. 5 zeigt schematisch, dass das Motor- und Getriebegehäuse A.." (WO-A, Seite 6, dritter Absatz) oder auch aus den Absätzen 5 und 6 auf Seite 6 von WO-A, die klar und unmissverständlich den Elektromotoren 2 "je ein eigenes Gehäuse A zuordnen". Folglich ist nicht ersichtlich, worin der Fehler liegen sollte.
Im Übrigen wird noch festgestellt, dass die beantragte Korrektur auch im Hinblick auf Regel 140 EPÜ unzulässig ist, weil der Wortlaut "Motorgehäuse (A)" bereits im erteilten Anspruch 1 enthalten ist, und die beantragte Korrektur folglich auch als Korrektur des Textes des Streitpatents aufzufassen ist. Eine solche Korrektur ist aber nach der Entscheidung G 1/10 der Grossen Beschwerdekammer (siehe Leitsatz) auf der Basis von Regel 140 EPÜ nicht möglich.
3. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass nach der Auffassung der Beschwerdekammer auch dem "korrigierten Hilfsantrag 2" (Hilfsantrag 2 im Beschwerdeverfahren) nicht stattzugeben ist.
4. Die Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass dem in der Entscheidung diskutierten Hauptantrag (Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt, entspricht dem Hilfsantrag 1 im Beschwerdeverfahren) nicht stattgegeben werden kann, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (siehe WO-A) hinausgeht (Artikel 100 c) EPÜ). Damit teilt die Beschwerdekammer die Auffassung der Einspruchsabteilung.
Das hier nach der geltenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern anzuwendende Kriterium ist, dass jede Änderung von Bestandteilen der Anmeldung die die Offenbarung (Beschreibung, Figuren, Ansprüche) betreffen, nur im Rahmen dessen erfolgen kann, was der Fachmann unmittelbar und eindeutig unter Berücksichtigung des Fachwissens aus der Gesamtheit der besagten (die Offenbarung betreffende) Anmeldungsunterlagen entnehmen würde (siehe G 2/10, Entscheidungsgründe, 4.3; "gold standard").
Das strittige Merkmal wonach "jeweils der Motor (2) mit dem Getriebe (3, 3a) in einem gemeinsamen Gehäuse (A) angeordnet ist" (im Folgenden als Merkmal (i) bezeichnet) ergibt sich für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung (WO-A), weil dieses Merkmal (in Verbindung mit den übrigen Merkmalen des Anspruchs 1) eine ursprünglich nicht offenbarte Ausführungsform impliziert, bei der für jeden Motor mit zugehörigem Getriebe jeweils ein (vom Gehäuse des jeweils anderen Motors) separates und getrenntes (nicht drehbares) Gehäuse vorgesehen ist.
Die ursprüngliche Anmeldung (WO-A) offenbart lediglich, dass beide Motoren (mit jeweils zugehörigem Getriebe) in einem gemeinsamen Gehäuse untergebracht sind (siehe WO-A, Seite 2, Zeilen 29-32; siehe Figuren 3, 4), können aber auch in "unterschiedlichen Gehäusen untergebracht sein, die zu ihrer Verbindung z.B. gegeneinander geflanscht sind".
Die ursprünglichen Anmeldung offenbart auch, dass das gemeinsame Gehäuse beider Motoren (mit jeweils zugehörigem Getriebe) drehbar ist (WO-A, Seite 3, erster Absatz; Figur 5), oder dass jeder Motor (mit jeweils zugehörigem Getriebe) ein eigenes drehbares Gehäuse besitzt (siehe WO-A, Seite 4, zweiter und dritter Absatz; Seite 6, Zeilen 17-30, Figuren 5a, 5b).
Damit ist eine Ausführungsform mit einem separaten und getrennten, nicht drehbaren eigenem Gehäuse für jeden Motor eindeutig nicht explizit offenbart.
Eine derartige Ausführungsform ist für den Fachmann im Hinblick auf das allgemeine Fachwissen aus den folgenden Gründen auch nicht implizit offenbart, insbesondere im Hinblick auf die besagten Offenbarungsstellen auf Seite 2, 4 und 6 von WO-A. Die Offenbarungsstelle auf Seite 2 besagt (siehe oben) wörtlich, dass "beide Motoren und Getriebe in einem gemeinsamen Gehäuse untergebracht" sind, "jedoch können Motoren und Getriebe auch (in) eigenen, unterschiedlichen Gehäuse untergebracht sein, die zu ihrer Verbindung z.B. gegeneinander geflanscht sind". Der Fachmann kann daraus nur entnehmen, dass falls kein gemeinsames Gehäuse für beide Motoren vorgesehen ist, dann ist jedoch zumindest eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Gehäusen vorhanden, die damit eine Einheit bilden. Eine Ausführungsform mit separaten und getrennten Gehäusen, wie sie vom besagten Merkmal (i) offensichtlich mit umfasst wird, kann somit der Fachmann aus dieser Offenbarungsstelle selbst implizit nicht entnehmen, da sie geradezu im Widerspruch zu den an dieser Stelle offenbarten, eine Einheit bildenden Gehäusen stehen würde.
Dies wird bestätigt durch die Offenbarung auf Seite 5 von WO-A (vorletzter Absatz, Zeilen 30-35), wonach "auch ein aus einzelnen axial hintereinander angeordneten Gehäuseabschnitten zusammengesetztes Gehäuse A möglich" ist, "in diesem Fall sind die einzelnen Gehäuseabschnitte zu ihrer Verbindung mit Flanschen versehen".
Zu den Offenbarungsstellen auf den Seiten 4 und 6 von WO-A wird festgestellt, dass "die beiden Elektromotoren nicht über ein gemeinsames Gehäuse, sondern über je ein eigenes Motorgehäuse" verfügen, "dieses ist drehbar, zur Abstützung des Reaktionsmomentes mit einer Drehmomentstütze und zur Erfassung des Antriebsmomentes des einzelnen Rades mittels jeweils eines Sensors" (WO-A, Seite 4, Zeilen 5-10) (eine äquivalente oder analoge Offenbarung befindet sich auf Seite 4, Zeilen 11-17 und Seite 6, Zeilen 17-30). Für den Fachmann stellt diese Offenbarung auch keine implizite Offenbarung des Merkmals (i) dar, weil diese Offenbarung, im Gegensatz zum Merkmal (i), keine Ausführungsform mit separaten und getrennten Gehäusen umfasst, die nicht drehbar sind. Der Fachmann entnimmt nämlich aus dieser Offenbarungsstelle, dass die Drehbarkeit des Gehäuses untrennbar und notwendigerweise mit der Erfassung des Antriebsmomentes des einzelnen Rades mittels eines Sensors verbunden und gekoppelt ist, was Sinn und Zweck der hier offenbarten Ausführungsform ist. Dieselbe Schlussfolgerungen gelten für die analogen Offenbarungsstellen auf Seite 4 (siehe oben) und auf Seite 6 (siehe oben).
Aus den genannten Gründen kann insgesamt den Ausführungen der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Frage der unzulässigen Erweiterung nicht gefolgt werden und dem Hilfsantrag 1 wird somit auch nicht stattgegeben.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.