T 1278/23 09-09-2024
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Wiedereinsetzung - Beschwerdefrist - Gebotene Sorgfalt: Gegenkontrolle (nein)
Wiedereinsetzung - Frist für die Beschwerdebegründung - zulässig (nein)
Beschwerde gilt als nicht eingelegt - Rückerstattung der Beschwerdegebühr (ja)
Rückerstattung der Gebühren für die Wiedereinsetzung (nein)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 2. Januar 2023, mit der das europäische Patent Nr. 3 265 656 widerrufen wurde.
II. In der Mitteilung vom 17. April 2023 informierte die Einspruchsabteilung die Beteiligten, dass innerhalb der Beschwerdefrist keine Beschwerde eingegangen sei.
III. Mit Schreiben vom 23. Juni 2023 legte die Patentinhaberin Beschwerde ein und beantragte Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerdeschrift. Sie brachte hierzu vor, dass der Vertreter erst am 24. April 2023 von der Versäumung der Frist Kenntnis erlangte und die Fristversäumung durch ein einmaliges Versehen in einem sonst ordnungsgemäß funktionierenden System verursacht wurde (das detaillierte Vorbringen wird in den Entscheidungsgründen behandelt).
IV. Mit der Mitteilung der Beschwerdekammer vom 7. August 2023 wurden die Beteiligten darüber informiert, dass die Beschwerdeführerin offenbar auch die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung versäumt hat, sodass die Beschwerde voraussichtlich jedenfalls als unzulässig zu verwerfen sein werde.
V. Am 5. September 2023 reichte die Beschwerdeführerin eine Beschwerdebegründung ein und führte aus, dass bereits aus ihrem Schreiben vom 23. Juni 2023 implizit hervorgehe, dass sie auch Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung begehre. Hilfsweise beantragte sie Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung.
VI. In ihrer Beschwerdeerwiderung vom 23. Januar 2024 beantragte die Beschwerdegegnerin (Einsprechende), die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.
VII. In der Mitteilung vom 28. Juni 2024 teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung mit, wonach keiner der beiden Anträge auf Wiedereinsetzung gewährbar erscheine, sodass mit der Feststellung, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt bzw. mit der Zurückweisung der Beschwerde als unzulässig, zu rechnen sei. Zudem wurden die Beteiligten darüber informiert, dass der Gegenstand der anberaumten mündlichen Verhandlung auf die Erörterung der Wiedereinsetzungsanträge beschränkt wird.
VIII. Am 9. September 2024 fand eine mündliche Verhandlung statt, da beide Beteiligten (hilfsweise) die Durchführung einer solchen beantragt hatten. Die Beschwerdeführerin beantragte Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdeschrift und in die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung. Zudem beantragte sie hilfsweise, die Wiedereinsetzungsgebühren zu erstatten.
1. Vorbemerkung
Zunächst ist zu bemerken, dass sowohl die Frist zur Einreichung der Beschwerdefrist (Artikel 108, erster Satz, EPÜ) als auch die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung (Artikel 108, dritter Satz, EPÜ) ab Zustellung der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu laufen begonnen haben. Da diese mit dem 2. Januar 2023 datiert ist, gilt die Zustellung am 12. Januar 2023 als erfolgt (Zustellungsfiktion; vgl. Regel 126 (2) EPÜ in der vor dem 1. November 2023 geltenden Fassung). Die Zweimonatsfrist für die Einreichung der Beschwerde endete daher am 13. März 2023 (der 12. März war ein Sonntag). Die Viermonatsfrist für die Einreichung der Beschwerdebegründung endete am 12. Mai 2023.
2. Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerde (Artikel 108, erster Satz, EPÜ)
2.1 Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags
Nach Regel 136 (1) EPÜ ist ein Wiedereinsetzungsantrag "innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses", das der Einhaltung der Frist entgegenstand, einzureichen. Das Hindernis bestand nach den Ausführungen der Beschwerdeführerin in der Unkenntnis ihres damaligen Vertreters (in der Folge kurz "Vertreter") über den Ablauf der Frist für die Beschwerdeeinlegung. Diese wurde durch Kenntnisnahme des Vertreters von der Mitteilung des EPA vom 17. April 2023 beseitigt, womit die Verfahrensbeteiligten über die Nichteinlegung von Beschwerden gegen die Widerrufsentscheidung informiert wurden. Nach den Angaben des Vertreters hat er am 24. April 2023 von der Mitteilung des EPA "Kenntnis erlangt". Die Kammer sieht keinen Grund dies in Zweifel zu ziehen. Der Wiedereinsetzungsantrag vom 23. Juni 2023 wurde daher fristgerecht eingereicht. Da die Gebühren (Beschwerdegebühr und Wiedereinsetzungsgebühr) fristgerecht bezahlt und die versäumte Handlung ("Einreichung der Beschwerdeschrift") fristgerecht nachgeholt wurden und der Wiedereinsetzungsantrag auch eine (substantiierte) Begründung umfasst, sind die Form- und Fristerfordernisse für einen Wiedereinsetzungsantrag erfüllt. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerdeschrift ist daher zulässig.
2.2 Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags
2.2.1 Eine Wiedereinsetzung kommt in Betracht, wenn eine gegenüber dem Europäischen Patentamt einzuhaltende Frist trotz Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt nicht eingehalten wurde. Unter "aller gebotenen Sorgfalt" ist das Maß an Sorgfalt zu verstehen, das der hinreichend kompetente durchschnittliche Patentinhaber (Vertreter) unter den gegebenen Umständen aufwenden würde (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Auflage, III.E.5.2).
2.2.2 Die Beschwerdeführerin begründet ihren Antrag im Wesentlichen damit, dass die Kanzlei des Vertreters in der ersten Woche des Jahres 2023 aufgrund der Urlaubssituation nicht regulär besetzt gewesen sei und die eingehende Post daher nicht nach dem "Standardverfahren" bearbeitet worden sei. Nach dem Standardverfahren "werden die Mitteilungen mit Empfangsbescheinigung in der Regel zusammen mit der im System notierten Frist vorgelegt, sodass ich ["der Vertreter"; Hinzufügung durch die Kammer] zusammen mit dem Unterschreiben der Empfangsbescheinigung auch die notierte Frist kontrollieren und abzeichnen kann" (vgl. Schreiben der Beschwerdeführerin vom 23. Juni 2023, Seite 3, erster Absatz). In der Handakte, die dem Vertreter zur Gegenzeichnung vorgelegt wird, befindet sich somit die jeweilige Mitteilung des EPA, die Empfangsbescheinigung (sofern erforderlich), sowie ein Ausdruck aus dem elektronischen System, der die eingetragenen (bzw. gelöschten) Fristen zeigt (sofern eine Frist eingetragen/gelöscht wurde; vgl. hierzu auch Anlage 1 zum Schreiben vom 23. Juni 2023). Zudem ergibt sich aus der vorgenannten Anlage 1, dass der Ausdruck, der die jeweils im elektronischen System eingetragenen Fristen zeigt, vom zuständigen Vertreter gegengezeichnet wird. Nach dem Standardverfahren trägt der zur Fristennotierung befugte Sachbearbeiter somit die im Hinblick auf das eingegangene Schriftstück erforderliche Frist in das elektronische System ein und legt die Handakte mit dem vorgenannten Inhalt dem zuständigen Vertreter u.a. zur Prüfung und Gegenzeichnung der Fristennotierung vor. Nach dem Vorbringen des Vertreters sei es in der ersten Woche des Jahres 2023 erforderlich gewesen, von diesem Standardverfahren abzuweichen, da sich die zur Fristennotierung befugte Mitarbeiterin im Urlaub befunden habe und das Bestreben bestanden habe, den Aufwand für die Bearbeitung des Posteingangs zu Beginn der zweiten Woche des Jahres 2023 (d.h. nach der Urlaubszeit) zu reduzieren. Nach dem Vortrag des Vertreters wurde vom Standardverfahren der Bearbeitung der Post insofern abgewichen, als keine Fristennotierung im elektronischen System erfolgte, da sich die hierzu befugte Mitarbeiterin im Urlaub befand. Die Handakte, die dem Vertreter vorgelegt wurde, enthielt demnach einen Ausdruck der Entscheidung sowie der Empfangsbescheinigung, jedoch keinen Ausdruck aus dem elektronischen System betreffend die Fristennotierung, da eine solche nicht erfolgte ("Fristen werden ausschließlich von Fachangestellten notiert, weshalb die Empfangsbescheinigung und die Frist getrennt an verschiedenen Tagen bearbeitet werden mussten."; Schreiben der Beschwerdeführerin vom 23. Juni 2023, Seite 3, zweiter Absatz). Der Vertreter hat demnach die Empfangsbescheinigung unterschrieben und die Mitarbeiterin angewiesen, die Handakte an jene Fachangestellte zu übermitteln, die zur Fristennotierung befugt ist. Die weitere Bearbeitung sollte dann nach Rückkehr der zur Fristennotierung befugten Mitarbeiterin, d.h. in der zweiten Woche des Jahres 2023 erfolgen. Die Übermittlung der Handakte an diese Mitarbeiterin habe jedoch nicht stattgefunden, sodass keine Fristennotierung erfolgt sei. Die Akte sei anscheinend "offensichtlich irrtümlich zurück in das Aktenregal gestellt worden" (vgl. ebd., Seite 3, sechster Absatz).
2.2.3 Im konkreten Fall kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der verantwortliche Vertreter nicht die nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Vertreter vom in dieser Kanzlei geltenden Standardverfahren für Fristennotierungen bewusst abwich, um eine Bearbeitung des Posteingangs auch während der Urlaubszeit in der ersten Woche des Jahres sicherzustellen und einen übermäßigen Aufwand für den angestauten Posteingang in der zweiten Woche des Jahres zu vermeiden. Die Gründe für dieses Abweichen vom Standardverfahren sind durchaus verständlich, jedoch sind in einem solchen Fall angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Fehler, die daraus resultieren können, zu vermeiden. Die im konkreten Fall getroffenen Vorkehrungen sind jedoch nicht ausreichend gewesen. Nach dem Vortrag des Vertreters bekam die Sachbearbeiterin vom Vertreter den Auftrag, die Handakte an die für die Fristennotierung befugte Assistentin zur Bearbeitung weiterzugeben (vgl. ebd. Seite 2, zweiter Absatz von unten). Dies bedeutet, dass in dieser Handakte zwar eine unterschriebene Empfangsbestätigung sowie ein Ausdruck der Entscheidung der Einspruchsabteilung vorhanden war, jedoch kein Ausdruck betreffend die Fristennotierung. Aus welchen Gründen die Akte dann irrtümlicherweise - ohne Berücksichtigung des auf der Entscheidung angemerkten Hinweises auf die Fristen, d.h. ohne Notierung der Fristen, in das Aktenregal eingeordnet wurde, bleibt unklar (vgl. Anlage A2 des Schreibens der Beschwerdeführerin vom 23. Juni 2023). Dies scheint auf einem Versehen der Kanzleimitarbeiterin zu beruhen (vgl. Schreiben der Beschwerdeführerin vom 23. Juni 2023, Seite 3, Absatz 6).
2.2.4 Es ist jedoch evident, dass bei einer Abweichung vom Standardverfahren zur Fristennotierung besondere Sorgfalt aufgewendet werden muss, da es naheliegt, dass gerade aufgrund des abweichenden Arbeitsablaufes Missverständnisse bzw. Fehler auftreten können. Der verantwortliche Vertreter, der aus eigenem Entschluss vom Standardverfahren für Fristennotierungen abwich, hätte daher durch besondere Maßnahmen sicherstellen müssen, dass die Fristennotierung erfolgt und überprüft wird (vgl. T 283/01 vom 3. September 2002, Gründe Nr. 3.4). Der Vertreter hat im konkreten Fall zwar angeordnet, die Handakte der zur Fristennotierung befugten Assistentin vorzulegen und offenbar in der Handakte einen entsprechenden Kurzvermerk hinsichtlich der noch vorzunehmenden Fristennotierungen (ebd. Anlage 2) angebracht, jedoch sind diese Vorkehrungen nicht ausreichend, um die Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen.
2.2.5 Im Standardverfahren erfolgt die Gegenprüfung ("cross-check") der Fristennotierungen durch den Vertreter bei der Vorlage der Handakte an den Vertreter, da zu diesem Zeitpunkt bereits eine Notierung im elektronischen System erfolgt ist. Eine zweite Vorlage der Handakte an den Vertreter ist nach dem Standardverfahren somit nicht erforderlich. Im vorliegenden Fall, erfolgte die Vorlage der Handakte - aufgrund der Abwesenheit der zur Fristennotierung befugten Mitarbeiterin - ohne Fristennotierung im System. Die Anweisung des Vertreters die Handakte an die zur Fristennotierung befugte Assistentin weiterzuleiten, reichte somit nicht aus, um eine Eintragung der Fristen sicherzustellen sowie deren Richtigkeit überprüfen zu können ("cross-check").
2.2.6 Um die von der Rechtsprechung geforderte Gegenprüfung durchführen zu können, hätte der Vertreter daher in der zweiten Januarwoche bzw. jedenfalls zeitnah prüfen müssen, ob die Notierung der Fristen korrekt erfolgte. Dies wäre beispielsweise möglich gewesen, wenn sich der Vertreter eine Liste jener Akten erstellt hätte, für die eine Überprüfung der Fristennotierung noch hätte erfolgen müssen. Anhand dieser Liste hätte der Vertreter in der zweiten Januarwoche (bzw. jedenfalls zeitnah) die Notierung der Fristen im elektronischen System ohne unzumutbarem Aufwand überprüfen können. Aus den oben angeführten Gründen kommt die Kammer daher zu dem Schluss, dass der Vertreter der Beschwerdeführerin nicht die nach den Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet hat, um die Einhaltung der Beschwerdefrist sicherzustellen.
2.2.7 Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist ist daher zurückzuweisen. Somit ist die Beschwerde nicht innerhalb der Frist des Artikels 108, erster Satz, EPÜ eingereicht worden, sodass sie als nicht eingelegt gilt (vgl. G 1/18, Leitsatz 1.b). Demnach ist die Beschwerdegebühr zu erstatten (vgl. ebd. Leitsatz 2).
3. Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Beschwerdebegründung
3.1 Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung ist aus den folgenden Gründen nicht zulässig. Nach Regel 136 (1) EPÜ ist der Antrag "innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses" zu stellen. Im Hinblick auf den Antrag vom 23. Juni 2023 ist es aktenkundig, dass der (damals verantwortliche) Vertreter die Akte jedenfalls zu diesem Zeitpunkt in Händen hatte, um den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist fertigzustellen. Aus diesem Anlass hätte er jedenfalls auch die Fristensituation hinsichtlich der Einreichung der Beschwerdebegründung prüfen müssen, zumal es dem Vertreter klar sein musste, dass der Lauf beider Fristen durch dasselbe Ereignis, nämlich die Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung ausgelöst wurde. Ihm hätte daher auffallen müssen, dass die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung bereits am 12. Mai 2023 abgelaufen ist. Es ist daher jedenfalls davon auszugehen, dass der Vertreter am 23. Juni 2023 Kenntnis hatte bzw. hätte wissen müssen, dass die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung bereits abgelaufen ist. Der Antrag auf Wiedereinsetzung vom 5. September 2023 wurde demnach außerhalb der Zweimonatsfrist der Regel 136 (1) EPÜ eingereicht und ist demnach unzulässig.
3.2 Dem von der Beschwerdeführerin vertretenen Standpunkt, wonach mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 23. Juni 2023 bereits ein impliziter Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Beschwerdebegründung bestanden habe, folgt die Kammer nicht. Nach Regel 136 (1), letzter Satz, EPÜ gilt ein Antrag auf Wiedereinsetzung erst als gestellt, wenn die vorgeschriebene Gebühr entrichtet worden ist. Die entsprechende Gebühr ist jedoch erst am 5. September 2023 bezahlt worden.
3.3 Zudem erachtet die Kammer den Einwand der Beschwerdeführerin für unzutreffend, wonach zunächst eine Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist zu erfolgen hätte, bevor die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung zu laufen beginnen könne (vgl. Schreiben der Beschwerdeführerin vom 5. September 2023, Seite 2, letzter Absatz: "Im vorliegenden Fall müsste somit zunächst die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, bevor eine zulässige Handlung vorliegt, die wiederum die derzeit ausstehende Konsequenz, und zwar das Einreichen einer Beschwerdebegründung bedingen kann. Erst dann kann die Beschwerde auch mit einer schriftlichen Beschwerdebegründung versehen werden.") Die Fristen zur Einreichung der Beschwerde und zur Einreichung der Beschwerdebegründung werden zwar durch dasselbe Ereignis ausgelöst, nämlich die Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung, jedoch handelt es sich um unabhängig voneinander laufende Fristen, nämlich nach Artikel 108, erster Satz, EPÜ für die Beschwerdefrist und nach Artikel 108, dritter Satz, EPÜ für die Beschwerdebegründungsfrist (vgl. T 2017/12, Gründe Nr. 2). Eine "Abhängigkeit" des Erfordernisses der Einreichung der Beschwerdebegründung von dem Umstand der Einreichung der Beschwerdeschrift bzw. von einer gewährten Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerde ist im Artikel 108 EPÜ jedoch nicht vorgesehen. Wird eine Wiedereinsetzung in die Frist nach Artikel 108, erster Satz, EPÜ gewährt, so gelten zwar die Rechtsfolgen dieser Fristversäumung als nicht eingetreten (vgl. Artikel 122 (3) EPÜ), dies bedeutet jedoch nicht, dass erst danach das Erfordernis der Einreichung der Beschwerdebegründung bzw. das Erfordernis der Einreichung eines Wiedereinsetzungsantrags in die Frist nach Artikel 108, dritter Satz, EPÜ existent werden würde.
3.4 Die von der Beschwerdeführerin zitierte Passage der Richtlinien für die Prüfung im EPA (RL E-VIII.3.3: ,,Liefen bei Eintritt des Rechtsverlusts noch weitere Fristen, deren Versäumnis ebenfalls zu einem Rechtsverlust führen würde, sendet das EPA dem Anmelder nach Gewährung der Wiedereinsetzung eine Mitteilung, durch die diese Fristen erneut ausgelöst werden.") kann jedenfalls dann nicht gelten, wenn die entsprechende Frist im EPÜ selbst geregelt ist, denn in einem solchen Fall besteht keine Rechtsgrundlage, die das EPA ermächtigen würde, die entsprechende Frist neu festzusetzen. Dies gilt auch für die beiden Fristen nach Artikel 108, erster Satz und dritter Satz, EPÜ. Das fristenauslösende Ereignis ist im Artikel 108 EPÜ selbst festgelegt (nämlich die Zustellung der angefochtenen Entscheidung), sodass eine erneute Auslösung der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung durch eine spätere Mitteilung des EPA mangels einer konkreten Rechtsgrundlage nicht in Betracht kommt.
3.5 Zudem ist zu bemerken, dass sich die Beschwerdeführerin auch nicht erfolgreich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, da die Richtlinien für die Prüfung im EPA, und somit auch die oben genannte Passage daraus, ausdrücklich nicht für das Verfahren vor der Beschwerdekammer gilt. Dies wird im Allgemeinen Teil der Richtlinien, Abschnitt 5, explizit hervorgehoben: "Mit Ausnahme der für die Abhilfe bedeutsamen Fragen wird das Beschwerdeverfahren in diesen Richtlinien nicht behandelt."
3.6 Es ist auch nicht erkennbar aus welchen Gründen die Beschwerdeführerin davon ausgeht, dass eine Unterbrechung analog zu Regel 142 (4) EPÜ vorliegen würde (vgl. Schreiben vom 5. September 2023, Seite 3, Absatz 4). Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
4. Antrag auf Rückerstattung der Wiedereinsetzungsgebühren
4.1 Die Beschwerdeführerin hat ihren Antrag auf Rückerstattung der Gebühr für ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerde nicht weiter begründet. Der Kammer sind auch aus dem Akteninhalt keinerlei Gründe ersichtlich, die für eine Rückerstattung dieser Gebühr sprechen würde. Der Umstand, dass die Beschwerde letztlich als nicht eingelegt gilt, kann eine Rückerstattung der Gebühr nicht rechtfertigen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung hatte gerade den Zweck die vorgenannte Rechtsfolge abzuwenden. Aus dem Umstand, dass der Antrag keinen Erfolg hatte, folgt jedoch kein Anspruch auf Rückerstattung der Gebühr.
4.2 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer führte die Beschwerdeführerin bezüglich ihres Antrags auf Rückerstattung der Gebühr für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung aus, dass die Gebühr rechtsgrundlos bezahlt worden sei, da die Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist nicht gewährt wurde und die Beschwerde somit als nicht eingelegt gilt. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass - wie oben ausgeführt - die Fristen nach Artikel 108, erster Satz, EPÜ und nach Artikel 108, dritter Satz, EPÜ unabhängig voneinander ablaufen. Im konkreten Fall wurden beide Fristen versäumt, sodass das Beschwerdeverfahren nur dann weiterzuführen gewesen wäre, wenn die Rechtsfolgen der Versäumung dieser Fristen aufgehoben worden wären, d.h. wenn beiden Wiedereinsetzungsanträgen stattgegeben worden wäre. Folglich wurden beide Gebühren nicht rechtsgrundlos bezahlt, sodass auch eine Rückerstattung der Gebühr für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung nicht in Betracht kommt (vgl. T 2017/12, Gründe Nr. 2). Der entsprechende Antrag ist daher zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Beide Anträge auf Wiedereinsetzung werden zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Rückerstattung der Gebühren für die Wiedereinsetzungsanträge wird zurückgewiesen.
3. Die Beschwerde gilt nicht als eingelegt.
4. Die Beschwerdegebühr wird rückerstattet.