T 1886/23 16-09-2025
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STUHL, PRESSURVORRICHTUNG
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
Zurückverweisung - (ja)
I. Der Anmelder (Beschwerdeführer) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung ein, die europäische Patentanmeldung Nr. 20703013.1 aufgrund des Artikels 97 (2) EPÜ zurückzuweisen.
II. Die Prüfungsabteilung hat die Patentanmeldung wegen fehlender Neuheit gegenüber WO 2013/003369 A2 (D4) zurückgewiesen. Der Entscheidung lag nur ein Antrag, nämlich der am 6. März 2023 eingereichte Hauptantrag, zugrunde.
III. Am 16. September 2025 fand eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts statt.
Der Beschwerdeführer (Anmelder) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf Basis des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrags oder hilfsweise auf Basis des Hilfsantrags 1, beide Anträge eingereicht mit Schreiben vom 31. Oktober 2023.
IV. Die Merkmale des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrags lauten:
M1 Vorrichtung zur Aufnahme einer Person, die einer Verkürzung der Hüft- und/oder Bein- und/oder Bauchmuskulatur mit zugehörigen Sehnen, Bändern und Faszien entgegenwirkt, aufweisend
M2 - einen Oberkörperabschnitt (1) mit einer Oberkörperanlagefläche, die wenigstens an Teile einer Rumpfvorderseite oder einer Rumpfrückseite einer auf der Vorrichtung befindlichen Person angepasst oder anpassbar ist, und
M3 - einen Unterkörperabschnitt (2) mit einer Unterkörperanlagefläche, die wenigstens an Teile von mindestens einer Oberschenkelvorderseite der Person angepasst oder anpassbar ist, wobei der Oberkörperabschnitt (1) und der Unterkörperabschnitt (2) durch ein Zentralgelenk (3) miteinander verbunden sind,
M4 wobei das Zentralgelenk (3) eine Schwenkung des Unterkörperabschnitts (2) gegenüber dem Oberkörperabschnitt (1) oder umgekehrt um eine transversale Achse ermöglicht, und
M5 wobei das Zentralgelenk (3) feststellbar ist,
M6 wobei der Oberkörperabschnitt (1) und der Unterkörperabschnitt (2) in einer Lage zueinander derart angeordnet oder anordenbar und fixierbar sind, dass die Oberkörperanlagefläche und die Unterkörperanlagefläche eine Überstreckungshaltung des Hüftgelenks der Person mit einem vorbestimmten Überstreckungswinkel bewirken;
und
M7 wobei ein Hüftgegenlagerelement (20) vorgesehen ist, welches zur Anlage an einer Hüftrückseite der Person ausgebildet ist, und welches in einer Lage derart angeordnet oder anordenbar und fixierbar ist, dass es die Hüfte der Person an einem Ausweichen der Hüfte von dem Zentralgelenk (3) weg verhindert wird, wobei
M8 das Hüftgegenlagerelement (20) über einen Bügel oder ein sonstiges Strebteil in einem Abstand von dem Zentralgelenk (3) angeordnet und der Abstand des Hüftgegenlagerelements von dem Zentralgelenk einstellbar und fixierbar ist.
1. Hauptantrag - Neuheit gegenüber D4
1.1 Anspruch 1 ist neu gegenüber D4, da zumindest Merkmal M7 nicht eindeutig und unmittelbar offenbart ist.
1.2 Laut Beschwerdeführer habe sich die Prüfungsabteilung bereits darin geirrt, dass mit der Vorrichtung der D4 eine Überstreckungshaltung des Hüftgelenks möglich sei (Merkmal M6). Zusätzlich könne - selbst wenn eine Überstreckungshaltung möglich wäre - der Sitz 11 nicht als Hüftgegenlagerelement, das ein Ausweichen der Hüfte vom Zentralgelenk weg verhindere, angesehen werden (Merkmal M7).
Zwar mag - wie von der Prüfungsabteilung argumentiert (Entscheidung, Punkt 11.2) - der Sitz 11 der D4 schwenk- und feststellbar sein (Absatz [0025]), allerdings sage dies noch nichts über das Merkmal M7 aus. Die allgemein genannte Verstellbarkeit in Absatz [0025] der D4 könne das spezifische Merkmal M7 nicht eindeutig und zweifelsfrei vorwegnehmen.
1.3 Die Kammer stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass der D4 nicht eindeutig und unmittelbar ein Hüftgegenlagerelement zu entnehmen ist, das ein Ausweichen der Hüfte vom Zentralgelenk weg verhindert.
1.3.1 Ausgehend von D4, Figur 2 ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers zwar eine Überstreckungshaltung des Hüftgelenks dadurch möglich, dass sich eine Person mit der Hüfte an den Ständer 2 lehnt bzw. stützt und die Bruststütze 14 entsprechend aufrecht bzw. in Richtung der Person gekippt wird, so dass der Oberkörper in eine leichte Rücklage und die Hüftmuskulatur damit in eine gewisse Überstreckung kommt.
1.3.2 Merkmal M7, insbesondere dass das "Ausweichen der Hüfte vom Zentralgelenk weg" verhindert werden soll, ist jedoch in Verbindung mit der in Merkmal M6 definierten Stellung der Vorrichtung zu sehen, in der die Überstreckungshaltung bewirkt wird.
1.3.3 Das Hüftgegenlagerelement wurde von der Prüfungsabteilung im Sitz 11 gesehen. Allerdings ist der D4 nicht zu entnehmen, dass der Sitz 11 soweit in Richtung des Ständers 2 heran bewegt werden kann, dass die Hüfte in der in obigem Punkt 1.3.1 geschilderten Überstreckungshaltung nicht vom Zentralgelenk weg ausweichen könnte.
1.3.4 Die Einstellbarkeit des Abstands zwischen dem Sitz 11 und dem Ständer 2 bzw. dem Zentralgelenk 7 ist in dem von der Prüfungsabteilung angegebene Absatz [0025] offenbart.
Darin wird gesagt, dass der als Bügel angesehene Arm 10 des Sitzes 11 auch längenverstellbar sei ("An arm 10 connects upper leg and seat support rest 11 to post 2, and pivots at both joint 5, 20 to provide angular adjustments. Arm 10 can also have a length adjustment, such as shown by arrows 10a, 10b in FIG. 2"), Hervorhebung durch die Kammer.
1.3.5 Der Beschwerdeführer sah schon die Einstellbarkeit der Länge an sich nicht zweifelsfrei offenbart, weil in Figur 2 die Pfeile 10a und 10b das Verschwenken des Arms 10 um die Gelenke 5 und 20 zeige und nicht die im Absatz genannte Längenverstellung.
Diesem Verständnis von Absatz [0025] stimmt die Kammer nicht zu. Ein Fachmann, der Figur 2 in Verbindung mit Absatz [0025] sieht, versteht zweifelsfrei, dass die Pfeile 10a und 10b dem zuerst genannten "angular adjustment" zuzuordnen sind. Durch den Wortlaut "can also have" wird dem Fachmann eindeutig eine zusätzliche Längenverstellung des Arms offenbart. Damit ist in D4 allgemein die Möglichkeit offenbart, den Abstand des Sitzes 11 zum Zentralgelenk 7 einzustellen (Merkmal M8).
1.3.6 Allerdings ist dem Beschwerdeführer zuzustimmen, dass zur Längenverstellung keine weiteren Details offenbart sind. Insbesondere geht weder hervor, um welches Maß eine Längenverstellung möglich ist, noch ob überhaupt die Möglichkeit der Verkürzung und nicht nur eine Verlängerung des Arms 10 vorgesehen ist.
D4 offenbart eine Stützvorrichtung für Personen, die für längere Zeit in einer bestimmten Position arbeiten müssen (Absatz [0002]). Die genannte Längenverstellbarkeit ist folglich in Verbindung mit diesem Zweck der Vorrichtung zu sehen. Es ist möglich, dass die in D4 genannte Längenverstellung nur zur Anpassung der in Figur 1 gezeigten Sitzposition dient. Um dies zu erreichen, ist es nicht notwendig, den Sitz soweit in Richtung Ständer verschieben zu können, dass er bei einer in Überstreckungshaltung stehenden Person die Hüfte gegen den Ständer hält. Eine solche Funktion des Sitzes ist in D4 nicht vorgesehen - auch nicht für eine von der Prüfungsabteilung erwähnte "korpulentere" Person (angefochtene Entscheidung, Punkt 11.2).
1.3.7 Auch durch die in Absatz [0025] genannte Verschwenkbarkeit des Arms 10 um das Gelenk 5 kann der Abstand zum Gelenk 7 nicht soweit reduziert werden, dass der Sitz 11 bei einer in Überstreckungshaltung befindlichen Person (vgl. obigen Punkt 1.3.1) ein Ausweichen der Hüfte vom Zentralgelenk weg verhindern könnte.
1.3.8 Folglich kann die allgemein in D4 offenbarte Längenverstellung des Arms 10 nicht als eindeutige und unmittelbare Offenbarung des Merkmals M7 gesehen werden.
1.4 Im Weiteren geht aus D4 auch nicht unmittelbar und eindeutig hervor, dass die Unterschenkelauflage 9 an Teile der Oberschenkelvorderseite anpassbar und fixierbar ist (Merkmal M3 mit M6). Selbst wenn diese Auflage 9 um 360° drehbar ist, wird sie in D4 als Stütze für die Unterschenkel oder die Füße in den fixierten Positionen der Figuren 1 und 2 offenbart (siehe Absatz [0024] von D4). Eine Anpassung und Fixierung in einer Position, die Teile des Oberschenkels stützt, wird nicht unmittelbar und eindeutig offenbart.
2. Merkmal M1 des Hauptantrags
2.1 Der Beschwerdeführer argumentierte, dass Merkmal 1 nicht nur als Eignung formuliert sei, sondern eine Vorrichtung definiere, die auch tatsächlich einer Verkürzung z.B. der Hüftmuskulatur entgegenwirken müsse. Dies sei mit der nur der Körperstützung dienenden Vorrichtung der D4 in keinster Weise beabsichtigt und werde entsprechend auch nicht thematisiert. Weder in der in Figur 1 gezeigten Sitzposition noch in der in Figur 2 gezeigten Stützposition werde einer Verkürzung z.B. der Hüftmuskulatur entgegenwirkt.
2.2 Dem stimmt die Kammer jedoch nicht zu.
Der Wortlaut in Merkmal 1, dass die Vorrichtung einer Verkürzung z.B. der Hüftmuskulatur "entgegenwirkt", schließt nicht aus, dass die Vorrichtung zu diesem Zweck erst in eine bestimmte Position gebracht werden muss. Dies bedeutet, dass die Vorrichtung nicht in jeder möglichen einzustellenden Position einer Hüftmuskelverkürzung entgegenwirken muss. Tatsächlich kann auch die in der vorliegenden Anmeldung beschriebene Vorrichtung z.B als Stuhl, ähnlich der D4, Figur 1, verwendet werden (siehe z.B. die Figuren 9 und 10 der als WO 2020/157232 veröffentlichten ursprüngliche Anmeldung). In dieser Stuhl-Position wirkt die beanspruchte Vorrichtung einer Verkürzung der Hüftmuskulatur genauso wenig entgegen wie die Vorrichtung in Figur 1 der D4.
2.3 Folglich ist Merkmal M1 lediglich als Eignungsmerkmal zu sehen. Zur Offenbarung des Merkmals M1 in D4 genügt es daher, wenn die Vorrichtung derart eingestellt werden kann, dass die in Merkmal M1 formulierte Eignung erreicht wird (vgl. hierzu obigen Punkt 1.3.1). Ob die Vorrichtung der D4 hierzu vorgesehen ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.
3. Merkmal "Zentralgelenk" im Hauptantrag
3.1 Der Beschwerdeführer bestritt weiterhin die Offenbarung eines Zentralgelenks, da das von der Prüfungsabteilung als Zentralgelenk angesehene Gelenk 7 nicht den Ober- und Unterkörperabschnitt miteinander verbinde. Insbesondere könne nicht alles unterhalb des Gelenks 7 in Figur 2 der D4 als Unterkörperabschnitt gesehen werden, da im Gelenk 21, das unterhalb vom Gelenk 7 liege, die Armstützen angeordnet seien. Die Arme seien klar dem Oberkörper zuzuordnen.
3.2 Die Kammer bestätigt jedoch die Ansicht der Prüfungsabteilung und sieht das in den Merkmalen M3 bis M5 definierte Zentralgelenk in D4 offenbart.
3.2.1 Der Begriff "Zentralgelenk" ist im Anspruch nicht derart definiert, dass es das Gelenk 7 (siehe Figur 2 der D4), das zentral zum Körper der Person liegt, als anspruchsgemäßes Zentralgelenk ausschließt. Dabei ordnet die Kammer alles oberhalb des Gelenks 7 dem Oberkörperabschnitt und alles unterhalb dieses Gelenks dem Unterkörperabschnitt zu. Damit verbindet das Zentralgelenk den Ober- und Unterkörperabschnitt. Dass bei dieser Auslegung in D4 eine Rahmenkomponente 35 für ein Armstützensystem ("arm support rest system 13") am Unterkörperabschnitt angeordnet ist, ist in Bezug auf den Anspruchswortlaut irrelevant.
3.2.2 Weiterhin erfüllt das Gelenk 7 das Merkmal M4, wonach ein Schwenken "des Unterkörperabschnitts gegenüber dem Oberkörperabschnitt oder umgekehrt um die Achse des Zentralgelenks ermöglicht" sein soll. Der Anspruchswortlaut "oder" umfasst die Möglichkeit, dass nur der Oberkörperabschnitt gegenüber dem Unterkörperabschnitt schwenkbar ist. Diese Verschwenkbarkeit geht eindeutig aus dem Vergleich der Figuren 1 und 2 in D4 hervor. Diese Figuren zeigen den Oberkörperabschnitts 14 in zwei Positionen, die durch Verschwenken des Oberkörperabschnitts gegenüber dem Unterkörperabschnitt um das Zentralgelenk 7 eingenommen werden können.
3.2.3 Die in Merkmal M5 geforderte Feststellbarkeit des Gelenks 7 in D4 wurde nicht bestritten.
4. Artikel 11 VOBK
4.1 Die Kammer verweist die Angelegenheit an die Prüfungsabteilung zurück.
4.2 Gemäß Artikel 11 VOBK kann die Kammer an das Organ zurückverweisen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen.
4.3 Im vorliegenden Fall umfasst die angefochtene Entscheidung nur die Frage der Neuheit des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber D4.
Eine abschließende Prüfung bzgl. der Erfordernisse der Artikel 84, 123(2) oder 56 EPÜ, sowie der Neuheit gegenüber der weiteren in der angefochtenen Entscheidung genannten Entgegenhaltungen D1 bis D3 und D5 bis D9 durch die Prüfungsabteilung ist der Entscheidung und auch dem zum Hauptantrag erlassenen Bescheid vom 3. April 2023 nicht entnehmbar.
4.4 Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, ist die Kammer der Auffassung, dass hier ein besonderer Grund für eine Zurückverweisung vorliegt.
4.5 Die Zurückverweisung wurde vom Beschwerdeführer auch nicht beanstandet.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.