T 0586/88 (Erlaß der Entscheidung) 22-11-1991
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Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Zeitpunkt der Entscheidung
I. Auf die am 22. Oktober 1982 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 401 940.0 wurde das europäische Patent Nr. 0 078 208 erteilt. Der Hinweis auf die Erteilung wurde am 29. August 1984 im Europäischen Patentblatt bekanntgemacht.
II. Am 23. Mai 1985 legte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) gegen das erteilte Patent Einspruch ein und beantragte seinen Widerruf in vollem Umfang.
III. Die Einspruchsabteilung wies den Einspruch durch eine Entscheidung zurück, die ohne mündliche Verhandlung erging (Art. 116 EPÜ). Diese Entscheidung wurde am 12. Oktober 1988 als Einschreiben mit Rückschein zur Post gegeben. In der Einspruchsakte findet sich aber auch ein vom 15. September 1988 datiertes Formblatt (EPA Form 2339.1) mit einer Entscheidung auf Zurückweisung des Einspruchs, das die Unterschrift der drei Mitglieder dieser Einspruchsabteilung trägt.
IV. Am 6. Oktober 1988, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung der Einspruchsabteilung zwar bereits ergangen, aber noch nicht zur Post gegeben worden war, beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) (mit Schreiben vom 4. Oktober 1988, das beim EPA am 6. Oktober 1988 einging) die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents mit einem geänderten Anspruch 1, dessen Fassung dem Schreiben beigefügt war.
V. Am 21. November 1988 legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein. Gleichzeitig reichte sie die Beschwerdebegründung ein und entrichtete die Beschwerdegebühr.
Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Streitpatent in vollem Umfang zu widerrufen. Sie beantragt außerdem die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
Zur Stützung ihres Rückzahlungsantrags hat die Beschwerdeführerin folgende Hauptargumente vorgebracht:
Am 19. Oktober 1988 habe sie zusammen mit einer kurzen Mitteilung des EPA den von der Beschwerdegegnerin gestellten Antrag und die geänderten Ansprüche 1 bis 8 erhalten, die beim EPA am 6. Oktober 1988 eingegangen seien. Der geänderte Anspruch 1 sei im wesentlichen eine Kombination aus den Ansprüchen 1 und 2 des erteilten Patents. In ihrem Schriftsatz habe die Beschwerdegegnerin unter Nummer 5 den Antrag gestellt, das angefochtene Patent mit den geänderten Ansprüchen aufrechtzuerhalten. Daraus folge, daß die Einspruchsabteilung zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung, also am 12. Oktober 1988, über Ansprüche befunden habe, mit deren Fassung die Beschwerdegegnerin nicht mehr einverstanden gewesen sei. Dies stelle einen Verstoß gegen Regel 58 EPÜ dar, weil die Einspruchsabteilung das Streitpatent nur auf der Grundlage der geänderten Ansprüche 1 bis 8 hätte aufrechterhalten dürfen, und dies auch erst nach deren Übermittlung an die Beschwerdeführerin. Da dies nicht der Fall gewesen sei, liege ein Verfahrensmangel vor, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige.
VI. Die Beschwerdegegnerin beantragt die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in der erteilten Fassung und hilfsweise seine Aufrechterhaltung mit den am 26. Juni 1989 eingereichten neuen Ansprüchen 1 bis 4.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die Beantwortung der Frage, ob möglicherweise ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ vorliegt, weil die Einspruchsabteilung dem von der Beschwerdegegnerin am 6. Oktober 1988 vorgelegten Änderungsantrag nicht Rechnung getragen hat, hängt davon ab, wann der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb der Einspruchsabteilung abgeschlossen war, da der letztmögliche Zeitpunkt für die Berücksichtigung des obengenannten Änderungsantrags zwangsläufig davor gelegen hat.
3. Da das EPÜ keine Verpflichtung enthält, die Entscheidung öffentlich bekanntzumachen, bietet es der Kammer keinen Anhaltspunkt dafür, zu welchem Zeitpunkt eines schriftlichen Verfahrens der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb einer Instanz des EPA abgeschlossen ist.
In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern wird diese Frage zudem nicht einheitlich beantwortet:
- In der Sache T 584/88 vom 3. April 1989 hat sich die zuständige Beschwerdekammer für den Zeitpunkt entschieden, zu dem das Formblatt (EPA Form 2048.1) mit den Unterschriften der drei Prüfer und dem Datumsstempel (hier vom 8.6.1988) versehen wird, die zusammen die Einigung aller beteiligten Prüfer über eine Entscheidung der Einspruchsabteilung belegen; die Kammer wertet nämlich den 8.6.1988 als den Zeitpunkt, zu dem der Entscheidungsfindungsprozeß in der Einspruchsabteilung abgeschlossen war.
- In der Entscheidung T 598/88 vom 7. August 1989 wird der Moment, in dem die zuzustellende schriftliche Entscheidung dem Postdienst des EPA übergeben und damit der Verfügungsgewalt der entscheidenden Instanz entzogen wird, als der Zeitpunkt angesehen, zu dem der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb dieser Instanz abgeschlossen ist, wenn keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.
- Auch in der Entscheidung T 105/89 vom 30. Oktober 1990 wurde davon ausgegangen, daß mit der Unterzeichnung des Formblatts (EPA Form 2339.1) durch die Mitglieder der Einspruchsabteilung und der Anbringung des Datumstempels der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb dieser Instanz des EPA abgeschlossen ist.
4. Eine eindeutige Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts erscheint jedoch unerläßlich, wenn vermieden werden soll, daß sich die für eine Entscheidung zuständige Instanz unberechtigt über einen Änderungsantrag, eine relevante neue Entgegenhaltung oder einen Antrag auf mündliche Verhandlung hinwegsetzt.
Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die betreffende Instanz aus mehreren Mitgliedern zusammensetzt, was namentlich bei der Prüfungs- und der Einspruchsabteilung der Fall ist.
5. Wenn die Entscheidung einer Prüfungs- oder einer Einspruchsabteilung nicht am Ende einer mündlichen Verhandlung verkündet, sondern nach Abschluß eines schriftlichen Verfahrens oder eines nach einer mündlichen Verhandlung schriftlich fortgeführten Verfahrens erlassen wird, kommen als Zeitpunkt, zu dem der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb dieser Instanz des EPA als abgeschlossen gilt, grundsätzlich drei verschiedene Stichtage in Betracht:
a) der Zeitpunkt, zu dem alle Mitglieder der entscheidenden Instanz das Formblatt (Prüfungsverfahren: Form 2048; Einspruchsverfahren: Form 2339) unterzeichnet und datiert und damit den Entscheidungsfindungsprozeß abgeschlossen haben;
b) der Zeitpunkt, zu dem der Bedienstete im Prüfdienst oder der Formalsachbearbeiter die mit Gründen versehene Entscheidung (Formblatt, das die mit dem Siegel des EPA versehene Entscheidungsformel und die Reinschrift der Begründung enthält) dem Postdienst des EPA übergibt, wodurch sie der Verfügungsgewalt der zuständigen Instanz entzogen wird;
c) der Zeitpunkt, zu dem die mit Gründen versehene Entscheidung zur Post gegeben wird, wodurch sie der Verfügungsgewalt des EPA insgesamt entzogen wird.
6. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung die Rechtsfrage geklärt werden muß, zu welchem Zeitpunkt der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb einer Instanz des EPA nach einem schriftlichen Verfahren oder einem nach einer mündlichen Verhandlung schriftlich fortgeführten Verfahren als abgeschlossen gilt. Die Kammer hält es daher für unerläßlich, daß die Große Beschwerdekammer diese Rechtsfrage prüft und im Hinblick auf die anhängige Beschwerde eine Entscheidung trifft.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ wird der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Zu welchem Zeitpunkt gilt der Entscheidungsfindungsprozeß innerhalb einer Prüfungs- oder einer Einspruchsabteilung des EPA als abgeschlossen, wenn deren Entscheidung nicht am Schluß einer mündlichen Verhandlung verkündet, sondern nach Abschluß eines schriftlichen Verfahrens oder eines nach einer mündlichen Verhandlung schriftlich fortgeführten Verfahrens erlassen wird?"