T 0314/90 15-11-1991
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Mischung mit suspendiertem Füllstoff und Verwendung von synthetischem kristallinem Calciumsilikat
Novelty (after amendment of claims : yes)
functional feature - inventive step (yes) - late filed
document - apportionment of costs
Neuheit - nach Umformulierung der Ansprüche (ja) -
funktionelles Merkmal - Erfinderische Tätigkeit (ja)
Verspätet vorgebrachtes Dokument - Kostenentscheidung
I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 81 810 047.1, die am 16. Februar 1981 unter Inanspruchnahme der Prioritäten aus den Voranmeldungen vom 21. Februar 1980 in Deutschland (DE 3 006 440) und vom 15. Juli 1980 in der Schweiz (CH 5 414/80) angemeldet worden war, ist am 5. November 1986 das europäische Patent Nr. 38 292 auf der Grundlage von 12 Ansprüchen erteilt worden. Anspruch 1 lautete:
"Mischung auf Basis eines flüssigen Stoffes mit einem mineralischen, feinteiligen, suspendierten Füllstoff, dadurch gekennzeichnet, daß sie zusätzlich ein kristallisiertes synthetisches Calciumsilikat verschiedener Hydratationsstufen mit einem Länge-/ Breitenverhältnis von 10:1 bis 200:1 sowie mit einer Breitenabmessung unter 1 µm enthält."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 11 waren auf besondere Ausgestaltungen des Hauptanspruchs gerichtet. Anspruch 12 war ein unabhängiger Verwendungsanspruch, wonach ein Calciumsilikat mit den obigen Merkmalen als sedimendationsverhinderndes Mittel oder zur Herstellung von rieselfähigen festen Mischungen verwendet wurde.
II. Gegen die Erteilung des europäischen Patents hat die Einsprechende am 23. Juli 1987 Einspruch eingelegt und Widerruf des Patents in vollem Umfang wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt (Art. 100 a) EPÜ). Zur Stütze ihres Vorbringens hat sie auf 5 Dokumente (Dokumente (1) bis (5)) sowie auf ein erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegtes Dokument (Dokument (11)) verwiesen.
III. Durch Entscheidung vom 19. Januar 1990, zur Post gegeben am 15. Februar 1990, hat die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen. In der angefochtenen Entscheidung wird zunächst festgestellt, der nächste Stand der Technik werde nicht von den herangezogenen Dokumenten (1) bis (5) oder (11) dargestellt, sondern von der bereits im Prüfungsverfahren berücksichtigten DE-A-2 810 773 (Dokument (7)). Dort sei eine Mischung auf Basis eines flüssigen Stoffes und eines mineralischen, feinteiligen, suspendierten Füllstoffes beschrieben, die ein Calciumsilikat, wie Wollastonit, enthalte und somit eine verringerte Sedimentation aufweise. Da keine der genannten Entgegenhaltungen einen eindeutigen Hinweis gebe, daß ein wie im Anspruch 1 des Streitpatents definiertes kristallisiertes synthetisches Calciumsilikat eine sedimentationsverhindernde Wirkung habe, beruhe der beanspruchte Gegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) am 12. April 1990 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde erhoben und hierzu am 13. Juni 1990 eine Begründung eingereicht, wobei eine neue Entgegenhaltung (Dokument 12)) als weiterer Stand der Technik genannt wurde.
In ihrer Eingabe vom 1. November 1991 erhob die Beschwerdeführerin zum ersten Mal den Einwand mangelnder Neuheit. Zu diesem Zweck stützte sie ihre Argumentation auf zwei neue Dokumente,
(13) US-A-2 888 377
(14) US-A-3 806 585,
deren Lehre die Ansprüche 1 bis 5 sowie 12 neuheitsschädlich vorwegnehme; den übrigen Ansprüchen 6 bis 11 fehle in Anbetracht dieser Entgegenhaltungen jede erfinderische Tätigkeit.
V. In seiner Einleitung zur mündlichen Verhandlung vom 15. November 1991 teilte der Vorsitzende den Parteien mit, die Relevanzprüfung der spät eingereichten Dokumente (12) bis (14) habe die Kammer dazu geführt, Dokumente (13) und (14) unter Berücksichtigung des Artikels 114 (1) EPÜ in das Verfahren einzuführen.
Daraufhin legte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) einen neuen Anspruchssatz vor, dessen Hauptanspruch, wie folgt, lautet:
"Verwendung von kristallinem synthetischem Calciumsilikat verschiedener Hydratationsstufen, das ein hohes Längen-/ Breitenverhältnis von 10:1 bis 200:1 und Breitenabmessungen unter 1 µm aufweist, als Zusatz zur Sedimentationsverhinderung in einer Mischung auf Basis eines flüssigen Stoffes mit einem mineralischen, feinteiligen, suspendierten Füllstoff."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 sind auf bevorzugte Ausgestaltungen des Hauptanspruchs gerichtet. Die Ansprüche 8 bis 11 betreffen feste und rieselfähige Mischungen aus einem flüssigen Stoff, einem mineralischen Füllstoff und einem synthetischen kristallinen Calciumsilikat gemäß Anspruch 1. Der unabhängige Verwendungsanspruch 12 bezieht sich auf die Verwendung von kristallinem synthetischem Calciumsilikat zur Herstellung dieser rieselfähigen festen Mischungen.
VI. Zugunsten der Patentfähigkeit dieses neuen Patentgegenstandes trug die Beschwerdegegnerin im wesentlichen vor, in Dokument (13) sei lediglich von einer "selbsthemmenden" Wirkung die Rede. Diese Lehre sei grundsätzlich auf flüssige Systeme aus zwei Bestandteilen gerichtet und könne nicht ohne weiteres auf Mischungen aus drei Komponenten übertragen werden. Außerdem werde nicht dargetan, warum von einem Stoff, der selbst nicht sedimentiere, eine sedimentationsverhindernde Wirkung für andere Stoffe erwartet werden solle.
Weiterhin machte die Beschwerdegegnerin geltend, die späte Nennung der Dokumente (13) und (14) habe sie zu einer Umformulierung der Ansprüche gezwungen, wozu sie sich so kurzfristig nicht habe vorbereiten können. Da sie nicht über geeignetes Beweismaterial für den neuen Patentgegenstand verfüge, sei die Anwesenheit der Herren Hoechst und Rouèche als Sachverständige in der mündlichen Verhandlung notwendig gewesen, wodurch vermeidbare Kosten entstanden seien.
VII. Demgegenüber erklärte die Beschwerdeführerin, die Relevanz der Dokumente (13) und (14) sei ihr erst anläßlich einer Besprechung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Ende Oktober klar geworden. Sie sei sich bewußt, daß die späte Nennung dieser Entgegenhaltung nicht in Einklang mit der vom EPA angestrebten Praxis des Einspruchsverfahrens stehe. Was die Gewährbarkeit der neuen Verwendungsansprüche anbelange, gelten grundsätzlich die bisher gegen die Stoffansprüche erhobenen Einwände.
VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß das Patent in geänderter Form auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüche 1 bis 12 und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten sei. Ferner beantragte sie, die durch die Nennung der Dokumente (13) und (14) verursachten Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist zulässig.
2. Der Wortlaut der geltenden Ansprüche 1 bis 12 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (Art. 123 EPÜ).
Anspruch 1 kann als die Kombination der Merkmale des kristallinen synthetischen Calciumsilikats sowie des ersten Verwendungszwecks gemäß dem erteilten Verwendungsanspruch 12 bzw. dem ursprünglichen Verwendungsanspruch 13 mit der wie in der erteilten Fassung des Anspruchs 1 angegebenen Mischung angesehen werden; die Merkmale dieser Mischung stützen sich auf die Ansprüche 1 und 6 der ursprünglichen Anmeldung. Mit Ausnahme von kleinen Änderungen redaktioneller Art entsprechen die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 den erteilten Ansprüchen 2 bis 7 bzw. den ursprünglichen Ansprüchen 2 bis 5, 7 und 8, jedoch als Verwendungsansprüche umformuliert. Wie die erteilten Ansprüche 8 bis 11 bzw. ursprünglichen Ansprüche 9 bis 12 sind die geltenden Ansprüche 8 bis 11 auf feste und rieselfähige Mischungen gerichtet; der einzige Unterschied betrifft Anspruch 8, bei dem die Definition des synthetischen kristallinen Calciumsilikats auf Anspruch 1 rückbezogen ist. Im unabhängigen Anspruch 12, der sonst dem erteilten Anspruch 12 bzw. ursprünglichen Anspruch 13 entspricht, wurde lediglich der erste Verwendungszweck, nämlich der Einsatz als sedimentationsverhinderndes Mittel, gestrichen.
3. Was die von der Beschwerdeführerin herangezogenen Dokumente anbelangt, stellt die Kammer zunächst fest, daß die Dokumente (11) bis (14) nicht innerhalb der Einspruchsfrist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ genannt worden sind.
Wie Punkt V des Sachverhalts zu entnehmen ist, hat die Relevanzprüfung dieser Entgegenhaltungen durch die Kammer ergeben, daß Dokumente (13) und (14), d. h. Dokument (13) im Lichte des Hinweises auf dessen Lehre in Dokument (14), gegen die damals geltenden Zusammensetzungsansprüche entscheidungserheblich waren; beide wurden infolgedessen in das Verfahren eingeführt (Art. 114 (1) EPÜ).
Dagegen geht die Lehre der Dokumente (11) und (12) nicht über das hinaus, was schon aus den übrigen Entgegenhaltungen bekannt war; beide werden daher im folgenden unberücksichtigt bleiben (Art. 114 (2) EPÜ).
4. Das Streitpatent betrifft die Verwendung von kristallinem synthetischem Calciumsilikat als Sedimentationsverhinderer in einer Mischung auf Basis eines flüssigen Stoffes mit einem mineralischen, feinteiligen, suspendierten Füllstoff. Derartige ternäre Zusammensetzungen sind bereits im Dokument (7) beschrieben, das die Kammer wie die Einspruchsabteilung als den nächsten Stand der Technik ansieht. Diese Zusammensetzungen sind verarbeitbare Gießharzmassen, die Füllstoffmischungen aus einem grobkörnigen Füllstoff niedriger Dichte in Kombination mit einem anderen, feinerkörnigen Füllstoff höherer Dichte enthalten (Anspruch 1). Nach einer bevorzugten Ausführungsform werden für die Feinkornfraktionen höherer Dichte Silikate, insbesondere Calciumsilikat wie Wollastonit, verwendet (Seite 3, Absatz 6; Seite 5, Tabelle 1, Feinkorn-Füllstoff 2.1 und Mischungen I und IV). Diese Mischungen weisen bei der Verarbeitung, d. h. also nur während eines relativ kurzen Zeitraumes, eine verringerte Sedimentationserscheinung auf (Seite 1, Absatz 1; Seite 3, Absatz 2). In der Praxis hat dies zur Folge, daß die Mischungen erst kurz vor ihrer Verarbeitung vom Verbraucher hergestellt werden können.
Aufgrund dieser Unzulängligkeit kann die dem angefochtenen Patent zugrundeliegende Aufgabe darin gesehen werden, eine mit Füllstoff versehene Zusammensetzung bereitzustellen, in der die Sedimentation der Füllstoffe über einen wesentlich längeren Zeitraum wirksam verhindert wird.
Diese Aufgabe wird - vereinfacht dargestellt - durch Verwendung bestimmter kristalliner synthetischer Calciumsilikate verschiedener Hydratationsstufen, insbesondere Xonotlit, gelöst.
Aus den Beispielen des Streitpatents geht hervor, daß der Zusatz solcher Calciumsilikate eine Sedimentationsverhinderung in gefüllten flüssigen Systemen während wesentlich längerer Zeiträume tatsächlich bewirkt. Aus dem am 29. November 1984 eingereichten Versuchsbericht ist außerdem ersichtlich, daß sich die patentgemäßen, Xonotlit enthaltenden Gemische gegenüber den bekannten Mischungen mit Wollastonit durch eine deutlich verbesserte Sedimentationsbeständigkeit und eine gute Aufrührbarkeit auszeichnen. Somit stellt der beanspruchte Lösungsvorschlag eine glaubhafte Lösung der oben genannten Aufgabe dar. Diese Ergebnisse wurden seitens der Beschwerdeführerin nicht bestritten.
5. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist dieser Lösungsvorschlag bereits dem Dokument (13) zu entnehmen. Dort wird ein Verfahren zur Herstellung eines synthetischen kristallisierten hydratisierten Calciumsilikats beschrieben (Spalte 2, Zeilen 4 bis 16 zusammen mit Spalte 1, Zeilen 39 bis 47 und Spalte 3, Zeilen 12 bis 16); die isolierten Kristalle weisen ein Längen- /Breitenverhältnis von 20:1 bis 30:1 und eine Breitenabmessung von 0,05 bis 0,2 µm auf (Spalte 1, Zeilen 18 bis 27). Im Dokument (14), das sich ebenfalls mit der Herstellung von Calciumsilikat in verschiedenen Hydratationsstufen befaßt, wird in Spalte 1, Zeilen 30 bis 38 ausdrücklich auf US-A-2 888 377, d. h. auf Dokument (13), verwiesen und ausgesagt, daß das dortige Verfahren zu Xonotlit führt. Im Dokument (13) wird weiter erwähnt, daß sich das erhaltene Calciumsilikat für die Herstellung von Suspensionen, die sich überhaupt nicht oder nur langsam absetzen, als wertvoll erwiesen hat (Spalte 7, Zeile 75 bis Spalte 8, Zeile 5). Es kann insbesondere mit anderen anorganischen Füllstoffen in flüssigen Zusammensetzungen auf Basis von Alkydharzen oder Zellstoff verwendet werden, wobei das Calciumsilikat von 1 bis 10 Gew.-% der Mischung ohne Wasser darstellt (Spalte 8, Zeilen 6 bis 21).
Wie die Beschwerdegegnerin jedoch unter Hinweis auf die im EPA ABl. 1990, 114 veröffentlichte Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 6/88 vom 11. Dezember 1989 vorgetragen hat, geht es im Streitpatent nicht um eine bloße ternäre Mischung, sondern um die Erzielung eines ganz bestimmten Effekts durch den Zusatz eines spezifischen Calciumsilikats. Im Punkt 9 der dortigen Entscheidungsgründe faßt die Große Beschwerdekammer ihre Begründung wie folgt zusammen: "Bei einem Anspruch auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes kann diese neue Verwendung eine neu entdeckte und im Patent beschriebene technische Wirkung wiedergeben. Die Erzielung dieser technischen Wirkung ist als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten.... . Ist dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht durch eines der in Artikel 54 (2) EPÜ genannten Mittel zugänglich gemacht worden, dann ist die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, möglicherweise inhärent aufgetreten ist."
Im vorliegenden Fall ist die sedimentationsverhindernde Wirkung, die bei Zusatz des spezifischen Calciumsilikats gemäß Anspruch 1 des Streitpatents erfolgt, dem Dokument (13) nicht zu entnehmen und somit der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden. Durch diesen technischen Effekt entsteht eine neue Lehre, so daß die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ erfüllt sind.
6. Es bleibt daher noch zu untersuchen, ob der Gegenstand des angefochtenen Patents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
6.1. Neben der Herstellung des kristallinen hydratisierten Calciumsilikats erwähnt Dokument (13) eine Vielzahl von heterogenen Anwendungsmöglichkeiten, wie als Füllstoff (i) in der Papierindustrie (Spalte 3, Zeilen 42 bis 45), (ii) in Kautschuk (Beispiel III), verschiedenen Harzen (Spalte 6, Zeilen 1 bis 41) und Geweben (Spalte 8, Zeilen 55 bis 62), (iii) bei der Herstellung von porösen Platten für die Wärme- und Schallisolierung (Beispiel VIII), in der Bauindustrie sowie für die Rohrisolierung (Spalte 7, Zeilen 44 bis 74), (iv) als Entfärbungsmittel (Spalte 8, Zeilen 22 bis 25), und (v) als Filterelement in Zigaretten (Spalte 8, Zeilen 45 bis 54). In keiner dieser Verwendungen wird das Problem der Langzeitlagerung angesprochen. Dies kommt insbesondere in den zwei Hauptausführungsformen klar zum Ausdruck, wonach Mischungen aus einem organischen Material, wie Kautschuk oder einem degummierten Sojaöl, und aus Calciumsilikat sofort bearbeitet werden (Beispiele IV und IX), oder flüssiges polymerisierbares Material in Anwesenheit von Calciumsilikat polymerisiert wird (Beispiele V bis VIII).
6.2. Dem Absatz (Spalte 7, Zeile 75 bis Spalte 8, Zeile 5), auf den die Beschwerdeführerin insbesondere hingewiesen hat, vermag die Kammer keinen anderen Effekt zu entnehmen als die dort genannte Feststellung, daß sich die Suspensionen von Calciumsilikat entweder gar nicht oder nur langsam absetzen.
Wenngleich im nachfolgenden Absatz (Spalte 8, Zeilen 6 bis 21) ternäre Mischungen aus einem Polymer, einem mineralischen Füllstoff im Sinne des Streitpatents, wie z. B. Titandioxid oder Metalloxide, und Calciumsilikat beschrieben werden, wobei letzteres 1 bis 10 Gew.-% der Zusammensetzung ohne Wasser darstellt, so handelt es sich um organische Lösungsmittel enthaltende Anstrichmittel, bei denen Calciumsilikat keine andere Rolle spielt als die eines dispergierten Füllstoffs und dessen relative Menge nach den gewünschten Eigenschaften dieses Anstrichmittels bestimmt wird. Dabei wird die Problematik, welche beim Sedimentieren feinteiliger Füllstoffe auftritt, überhaupt nicht angesprochen; insbesondere ist von einer thixotropischen Wirkung oder einer sedimentationsverhindernden Wirkung auf einen anderen Füllstoff gar keine Rede.
6.3. Auch der Hinweis der Beschwerdeführerin auf eine angebliche thixotropische Wirkung des Calciumsilikats während dessen Herstellung (Spalte 2, Zeilen 4 bis 9) geht fehl. Dort wird lediglich ausgesagt, daß während der Reaktion von Calciumoxid mit Sand das wäßrige Gemisch gerührt wird, damit es sich nicht absetzt. Nach Meinung der Kammer kann diese bloße Bemerkung nur bei ex post facto-Analyse auf eine stark thixotropische Wirkung im Sinne des Streitpatents hindeuten, denn eine solche Interpretation wäre zu der bezüglich ternärer Mischungen eben gemachten Feststellung genau entgegengesetzt.
6.4. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Dokument (13) den Fachmann nicht zur beanspruchten Lösung der bestehenden Aufgabe anregen konnte. Da die übrigen von der Beschwerdeführerin herangezogenen Dokumente ebenso wenig einen Zusammenhang zwischen Calciumsilikat gemäß Streitpatent und thixotropischer Wirkung nahelegen, beruht der Gegenstand des Streitpatents gemäß Anspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit.
7. Diese Überlegungen gelten gleichermaßen für die abhängigen Ansprüche 2 bis 7, die besondere Ausgestaltungen der Verwendung gemäß Anspruch 1 betreffen, sowie für die Ansprüche 8 bis 11, die auf feste rieselfähige Mischungen aus den gleichen Bestandteilen gerichtet sind, und für Anspruch 12, der sich auf die Verwendung von kristallinem synthetischem Calciumsilikat verschiedener Hydratationsstufen zur Herstellung von solchen festen rieselfähigen Mischungen bezieht, und die alle von der Patentfähigkeit des Hauptanspruchs getragen werden.
8. Nach Artikel 104 (1) EPÜ trägt im Einspruchsverfahren jeder Beteiligte die ihm erwachsenen Kosten selbst, soweit nicht die Beschwerdekammer, wenn und soweit dies der Billigkeit entspricht, über eine Verteilung der Kosten, die durch eine mündliche Verhandlung oder eine Beweisaufnahme verursacht werden, nach Maßgabe der Ausführungsordnung anders entscheidet.
8.1. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin erst am 1. November 1991, also mehr als 4 Jahre nach Ablauf der Einspruchsfrist und nur 2 Wochen vor dem Termin der mündlichen Verhandlung, neuen Stand der Technik vorgelegt, der zudem die zu diesem Zeitpunkt geltenden Ansprüche neuheitsschädlich traf und die Beschwerdegegnerin zwang, sich innerhalb einer kurzen Frist auf die veränderte Sachlage einzustellen und die mündliche Verhandlung entsprechend vorzubereiten.
Die Beschwerdegegnerin hat unwidersprochen vorgetragen, daß dies nur dadurch erfolgen konnte, daß zwei ihrer Fachleute zur Vorbereitung und Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nach München kamen. Durch die erforderlich gewordene Teilnahme weiterer Vertreter der Beschwerdegegnerin an der mündlichen Verhandlung sind dieser zusätzliche Kosten entstanden.
8.2. Diese Kosten sind zwar nicht durch die mündliche Verhandlung selbst entstanden, da diese schon seit längerer Zeit anberaumt und somit für die Vorlage der neuen Dokumente nicht kausal war.
8.3. Die Kosten sind aber durch eine Beweisaufnahme verursacht worden. Denn der in Artikel 104 (1) EPÜ verwendete Begriff "Beweisaufnahme" ist weit auszulegen. Er umfaßt einmal das in Regel 72 EPÜ beschriebene Verfahren, nämlich die Vernehmung von Beteiligten, Zeugen oder Sachverständigen oder eine Augenscheinseinnahme. Er beinhaltet aber auch ganz allgemein die Vorlage und die Entgegennahme von Beweismitteln aller Art. Dies ergibt sich aus Artikel 117 EPÜ, der die Überschrift "Beweisaufnahme" trägt und in seinem Absatz (1) bei der Aufzählung der Beweismittel unter Buchstabe c) ausdrücklich die Vorlegung von Urkunden erwähnt (vgl. die Entscheidungen T 117/86 - ABl. EPA 1989, 401; T 416/87 - ABl. EPA 1990, 415; T 101/87 - unveröffentlicht; T 323/89 - unveröffentlicht).
Der Begriff der Urkunde ist im Europäischen Patentübereinkommen anders als in nationalen Rechten nicht festgelegt. Entsprechend dem allgemeineren Bedeutungsinhalt der englischen und französischen Formulierung "documents" sind darunter im wesentlichen alle schriftlichen Unterlagen zu verstehen, die einen gedanklichen Inhalt durch Schriftzeichen oder Zeichnungen verkörpern, also auch öffentliche Druckschriften (vgl. Singer, Artikel 117 EPÜ, Rdnr. 7).
8.4. Auch die weitere Voraussetzung, daß die Abweichung von dem Prinzip, daß jeder Beteiligte die ihm erwachsenen Kosten selbst trägt, der Billigkeit entspricht, ist hier gegeben. Aus Artikel 99 (1) i. V. m. Regel 55 c) EPÜ ergibt sich, daß der Einsprechende in der Regel seine Einspruchsgründe innerhalb der Einspruchsfrist umfassend darzulegen und auch alle hierfür erforderlichen Beweismittel innerhalb der Frist anzugeben hat, anstatt sie nach und nach vorzulegen (vgl. T 117/86 aaO; T 416/87 aaO; T 101/87). Diesem Gebot ist die Beschwerdeführerin nicht nachgekommen. Sie hat dreimal nach Ablauf der Einspruchsfrist auf neuen Stand der Technik verwiesen, einmal in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (Dokument (11)), mit der Begründung der Beschwerde (Dokument (12)) und schließlich kurz vor der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer (Dokumente (13) und (14)). Während in den ersten beiden Fällen zugestanden werden kann, daß die Nennung der Entgegenhaltungen (11) und (12) als Reaktion auf die Argumentation der Patentinhaberin und der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung erfolgt ist, kann dies für die Bezugnahme auf die Druckschriften (13) und (14) nicht gelten. Hier ist der Beschwerdeführerin mangelnde Sorgfalt vorzuwerfen. Die Erklärung, daß sie die Relevanz dieser Entgegenhaltungen erst bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer erkannt habe, kann sie nicht entlasten, zumal die eine der beiden Druckschriften ebenso klassifiziert ist wie die Streitpatentschrift.
Es entspricht daher im vorliegenden Fall der Billigkeit, eine Kostenverteilung vorzunehmen.
8.5. Gemäß Regel 63 (1), Satz 2 EPÜ können nur die Kosten berücksichtigt werden, die zur zweckentsprechenden Wahrung der Rechte notwendig waren.
Im vorliegenden Fall waren dies nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beschwerdegegnerin die Reise- und Übernachtungskosten ihrer beiden Mitarbeiter, der Herren Hoechst und Rouèche, zum Zwecke der Vorbereitung und Teilnahme an der mündlichen Verhandlung in München. Diese Kosten sind daher von der Beschwerdeführerin der Beschwerdegegnerin zu erstatten.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Weisung, das Patent mit den in der mündlichen Verhandlung überreichten Patentansprüchen 1 bis 12 und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
3. Die Reise- und Übernachtungskosten der Vertreter Hoechst und Rouèche der Beschwerdegegnerin trägt die Beschwerdeführerin.