T 0675/90 (Gesonderter Anspruchssatz) 24-06-1992
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1. Das in der Regel 86 (3) EPÜ eingeräumte Ermessen in bezug auf die Zulassung von Änderungen besteht nach Erlaß einer Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ nicht mehr.
2. Damit stellt der Erlaß einer solchen Mitteilung ein absolutes Verbot späterer Änderungen mit Ausnahme der Berichtigung offensichtlicher Fehler nach Regel 88 EPÜ dar.
I. Mit der vorliegenden, am 21. Juli 1990 eingereichten Beschwerde wird die Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 17. Mai 1990 angefochten, mit der die Anmeldung Nr. 86 100 544.5 (Veröffentlichungsnummer 0 191 313) der Firma Euro- Celtique S. A., Luxemburg, zurückgewiesen wurde.
II. Die Prüfungsabteilung hatte am 26. April 1989 eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ erlassen, die die Anmelderin mit Schreiben vom 10. August 1989 beantwortete, in dem sie ihr Einverständnis mit der vorgeschlagenen Fassung erklärte, die der Patenterteilung zugrunde liegen sollte. Daraufhin bestätigte die Prüfungsabteilung den Erhalt des Einverständnisses der Anmelderin und erließ nach dem üblichen Verfahren am 18. August 1989 eine Mitteilung gemäß Regel 51 (6) EPÜ.
Mit Schreiben vom 26. September 1989 legte die Anmelderin einen neuen Anspruchssatz für Österreich vor. Diesen erachtete die Prüfungsabteilung als nicht zulässig, da er zu spät, d. h. nach Erlaß der Mitteilung gemäß Regel 51 (6) EPÜ, eingereicht wurde.
Daraufhin versuchte die Anmelderin, die Prüfungsabteilung schriftlich wie auch mehrfach telefonisch davon zu überzeugen, daß sie die Fassung mit den neuen Patentansprüchen für Österreich anerkennen solle.
III. Wie unter "Sachverhalt und Anträge" der angefochtenen Entscheidung dargelegt, teilte die Anmelderin mit Schreiben vom 17. November 1989 an die Prüfungsabteilung mit, daß sie als Hauptantrag die Erteilung des Patents mit den neuen Patentansprüchen für Österreich bzw. als Hilfsantrag die Erteilung des Patents auf der Grundlage der ursprünglich eingereichten Patentansprüche geltend machen wolle. Der angefochtenen Entscheidung zufolge erklärte die Anmelderin am 27. März 1990 in einem Telefongespräch mit dem Formalprüfer, daß sie mit dieser zweigleisigen Vorgehensweise und insbesondere mit ihrem Hauptantrag eine Entscheidung über die Zulässigkeit der neuen, nach Erlaß der Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ eingereichten Patentansprüche herbeiführen wolle.
In ihrer Entscheidung befand die Prüfungsabteilung, daß
i) nach dem Erlaß einer Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ vorgebrachte Änderungen nach dem EPÜ nicht zulässig sind und
ii) das der Prüfungsabteilung gemäß Regel 86 (3) EPÜ eingeräumte Ermessen "nicht ausgeübt werden soll", nachdem das Verfahrensstadium nach Regel 51 (6) EPÜ abgeschlossen ist.
Daher kam die Prüfungsabteilung zu dem Schluß, daß kein Einvernehmen bezüglich der Fassung vorlag, auf deren Grundlage gemäß Artikel 97 (2) EPÜ ein Patent erteilt werden konnte, und wies die Anmeldung daher gemäß Artikel 97 (1) EPÜ zurück.
IV. Daraufhin legte die Beschwerdeführerin zwei Anträge vor: einen Hauptantrag auf Erteilung des Patents auf der Grundlage des von ihr am 26. September 1989 eingereichten neuen Satzes von Patentansprüchen für Österreich sowie einen Hilfsantrag auf Erteilung eines Patents in der von ihr ursprünglich in der Erwiderung auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ akzeptierten Fassung. Außerdem brachte die Beschwerdeführerin vor, daß die angefochtene Entscheidung auf einem wesentlichen Verfahrensmangel beruhe, so daß eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr gerechtfertigt sei (Artikel 104 und Regel 67 EPÜ).
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zunächst ist über die Zulässigkeit des Hauptantrags zu entscheiden, die davon abhängig ist, ob sich der in Regel 86 (3) EPÜ eingeräumte Ermessensspielraum für die Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen auch auf Änderungen erstreckt, die nach dem Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (6) EPÜ vorgeschlagen werden. Zwar war diese Frage im Rahmen der angefochtenen Entscheidung nicht völlig eindeutig gestellt und beantwortet worden, wie aus der nachstehenden Formulierung hervorgeht: "Die Prüfungsabteilung ist jedoch der Auffassung, daß sie ihr Ermessen nach Regel 86 (3) EPÜ nicht ausüben soll, wenn das Amt bereits das Einverständnis des Anmelders mit der in der Mitteilung gemäß Regel 51 (6) EPÜ vorgeschlagenen Fassung zur Kenntnis genommen hat."; dennoch ist die Kammer überzeugt, daß die Prüfungsabteilung eher die Existenz des Ermessens selbst im Sinn hatte als lediglich die Frage, ob dieses nach dem Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (6) EPÜ noch ausgeübt werden dürfe oder nicht.
3. Die Beschwerdeführerin bringt vor, daß angesichts der Tatsache, daß Änderungen der hier vorliegenden Art sogar noch im Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (4) oder unmittelbar danach zulässig seien, was zu einer Verzögerung des Erteilungsverfahrens führen könne, solche Änderungen auch dann zulässig sein sollten, wenn sie noch später, nämlich nach Erlaß der Mitteilung nach Regel 51 (6) vorgeschlagen würden, weil "eine Verzögerung nach Erlaß der Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ nicht erkennbar unterschiedlich ist" (s. S. 8, Nr. 2 der Beschwerdebegründung). Außerdem führt die Beschwerdeführerin aus, daß der eigentliche Daseinszweck des Europäischen Patentamts darin bestehe, Patente für Erfindungen zu erteilen, d. h. dem Anmelder als Gegenleistung für die Veröffentlichung seiner Erfindung das zu gewähren, worauf er einen Rechtsanspruch habe. Verfahrenstechnische Erfordernisse hätten daher hinter dieser "raison d'être" des Europäischen Patentamts zurückzustehen (s. S. 9 der Beschwerdebegründung, erster Absatz). Anders ausgedrückt sollten Verfahrensverzögerungen - da die Aufgabe des EPA die Erteilung von Patenten sei - entweder generell außer acht gelassen werden, oder es sollten, insbesondere dann, wenn sehr spät, d. h. im oder nach dem Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (4) EPÜ eingereichte Änderungen noch zugelassen würden, auch die noch später, d. h. nach dem Stadium gemäß Regel 51 (6) EPÜ eingereichten Änderungen zulässig sein.
4. Die Kammer kann dieser Argumentation nur schwerlich folgen. Auch wenn in der Tat eine Hauptaufgabe des Europäischen Patentamts die Erteilung von Patenten ist, ist das Amt doch auch - ebenso wie die Beschwerdekammern - durch die Artikel 97, 111 (1) und 114 (1) EPÜ direkt und indirekt verpflichtet, die Interessen der breiten Öffentlichkeit in vollem Umfang zu wahren, indem es gewährleistet, daß die erteilten Patente in Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des EPÜ stehen.
5. Daraus ergibt sich eindeutig, daß die Prüfungsabteilungen wie auch die Beschwerdekammern das Interesse der breiten Öffentlichkeit insoweit gebührend wahren müssen, als sie zu gewährleisten haben, daß keine ungültigen Patente erteilt werden und daß die Öffentlichkeit Kenntnis erhält - und zwar so bald wie möglich (d. h. nach der Veröffentlichung des Hinweises auf die Erteilung) -, welche kommerziellen Tätigkeiten durch das Patent versperrt oder behindert werden. Nach Auffassung der Kammer soll mit dem in Regel 51 (1) bis (4) EPÜ vorgesehenen, zügig durchzuführenden Verfahren sichergestellt werden, daß Patentanmeldungen und darauf erteilte Patente die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens erfüllen. Wenn im Anschluß an eine Mitteilung nach diesem Teil der Regel Änderungen vorgeschlagen werden, liegt es aber nach Regel 86 (3) EPÜ immer noch in dem - unparteiisch auszuübenden - Ermessen der Prüfungsabteilung, ob ein weiterer Änderungsvorschlag zu berücksichtigen ist. In diesem gesamten Stadium des Prüfungsverfahrens hat das EPA zwischen dem Erfordernis einer zügigen Erteilung und dem kommerziellen Schaden abzuwägen, der der Öffentlichkeit durch die Existenz ungültiger Patente entstehen würde, und genau dieses Abwägen bildet die Grundlage des Ermessens, das der Prüfungsabteilung nach Regel 86 (3) EPÜ eingeräumt wird. Das von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Gleichgewicht zwischen einem angemessenen Verwaltungsaufwand seitens des EPA einerseits und dem Interesse des Anmelders an einer zügigen Erteilung andererseits ist daher nicht die geeignete Grundlage für die Ausübung des Ermessens des Amts nach Regel 86 (3) EPÜ. In dieser Hinsicht ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin (s. S. 8, letzter Absatz der Beschwerdebegründung), wonach ihre Interessen eindeutig Vorrang hätten vor den Interessen des Amts an einem angemessenen Verwaltungsaufwand, für die Klärung der wesentlichen Frage dieser Beschwerde völlig ohne Belang.
6. Nach Auffassung der Kammer liegt der Zweck der Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ darin, das auf Änderungen gerichtete Verfahren im Prüfungsstadium zu einem eindeutigen und endgültigen Abschluß zu bringen, so daß die Öffentlichkeit möglichst frühzeitig, d. h. nach Veröffentlichung des Hinweises auf die Erteilung des Patents, Kenntnis über den Umfang der gesetzlich untersagten Tätigkeiten erhalten kann. Daher befindet die Kammer, daß sich das Ermessen nach Regel 86 (3) EPÜ bezüglich der Berücksichtigung von Änderungen kraft Gesetzes nicht auf nach dem Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (6) EPÜ vorgeschlagene Änderungen erstreckt. Dem Argument der Beschwerdeführerin, daß Verfahrensverzögerungen stets hinter der von ihr geltend gemachten einzigen oder wesentlichen Aufgabe ("raison d'être") des EPA, der Erteilung von Patenten, zurückstehen sollten, kann die Kammer ebenfalls nicht folgen. Desgleichen lehnt sie den enger gefaßten Vorschlag der Beschwerdeführerin ab, wonach insbesondere dann, wenn die verspätete Eingabe von Änderungen bis zum Verfahrensstadium gemäß Regel 51 (4) und unmittelbar danach zulässig ist (vgl. T 166/86, ABl. EPA 1987, 372), dies auch nach Ablauf des darauffolgenden Stadiums des Prüfungsverfahrens nach Regel 51 (6) EPÜ gelten solle.
7. Darüber hinaus hat die Kammer von Amts wegen (Artikel 114 (1) EPÜ) auch die mögliche Relevanz eines von der Beschwerdeführerin nicht vorgebrachten Beschwerdegrundes untersucht, nämlich die der Berichtigung von Fehlern nach Regel 88 EPÜ, kommt aber zu dem Schluß, daß im vorliegenden Falle bei Aufbietung aller Vorstellungskraft weder der Fehler noch seine Berichtigung als naheliegend angesehen werden könnte.
Daher stellt die Kammer fest, daß die Prüfungsabteilung den Hauptantrag der Beschwerdeführerin zu Recht zurückgewiesen hat.
8. Es ist aber noch zu klären, ob sie auch zu Recht befunden hat, daß diese Feststellung automatisch zur Zurückweisung der Anmeldung nach Artikel 97 (1) EPÜ mangels einer akzeptierten Fassung nach Artikel 97 (2) EPÜ führen mußte. Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig davon abhängig, ob die Anmelderin auf ihren Hilfsantrag auf Erteilung in der ursprünglich mit Schreiben vom 9. August 1989 - in Erwiderung auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ - genehmigten Fassung, d. h. ohne die gesonderten Patentansprüche für Österreich, jemals verzichtet hat. Wenn nicht, so hätte die Prüfungsabteilung eindeutig die Zulässigkeit des Erteilungsantrags auf dieser Grundlage prüfen und eine beabsichtigte Zurückweisung hinreichend begründen müssen.
Nach Durchsicht der Akte und nach Prüfung der entsprechenden Anträge der Beschwerdeführerin stellt die Kammer fest, daß zu keinem Zeitpunkt auf den Hilfsantrag verzichtet worden ist. Da die Zulässigkeit dieses Hilfsantrags völlig außer Zweifel steht, muß die Kammer die Beschwerde zulassen, soweit sie auf diesem Antrag beruht.
9. Hinsichtlich der letzten und sich zwangsläufig ergebenden Frage der Rückzahlung der Beschwerdegebühr kann die obige Feststellung, daß der Hilfsantrag nicht zurückgezogen worden ist, nur bedeuten, daß er von der Prüfungsabteilung entweder nicht berücksichtigt oder aber übersehen wurde. Nach Auffassung der Kammer stellt die Tatsache, daß ein eindeutig zulässiger Antrag nicht berücksichtigt wurde, jedoch keinen so wesentlichen Verfahrensmangel dar, daß nach Regel 67 EPÜ eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr gerechtfertigt wäre.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.
2. Der Hauptantrag wird zurückgewiesen.
3. Die Sache wird an die Prüfungsabteilung mit der Anweisung zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage der der Anmelderin am 26. April 1989 mitgeteilten (Regel 51 (4) EPÜ) und daraufhin von ihr genehmigten Fassung zu erteilen (Hilfsantrag).
4. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.