T 0302/92 24-02-1994
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Verfahren und Vorrichtung zum Zwischenspeichern von Schlachttierkörpern in einem Kühlraum
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Inventive step (yes)
I. Auf den Gegenstand der am 6. November 1987 angemeldeten europäischen Patentanmeldung Nr. 87 116 449.7 wurde das fünfzehn Ansprüche umfassende europäische Patent Nr. 273 154 erteilt.
Der unabhängige Verfahrensanspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt:
"1. Verfahren zum Zwischenspeichern von Schlacht- tierkörpern, Teilen solcher Körper und/oder Fleischstücken in einem Kühlraum, bei dem die an Haken hängenden Tierkörper und/oder -teile von einer Einförder- Rohrbahn über steuerbare Eingangsweichen auf im Kühlraum parallel zueinander angeordnete Stapelgeleise überführt, längs des jeweiligen Stapelgeleises mittels eines Förderers bewegt und durch diesen Förderer bei Abruf aus dem Kühlraum über eine jedem Stapelgeleise zugeordnete steuerbare Ausgangsweiche einer Ausförder-Rohrbahn zugeführt werden,
dadurch gekennzeichnet,
daß die Ansteuerung der Eingangs- und Ausgangsweichen der Stapelgeleise individuell und in Abhängigkeit von sich auf das jeweils zwischenzuspeichernde Stück beziehenden Kenndaten zentral vorgenommen wird und daß jeder einem Stapelgeleise zugeordnete Förderer in der Weise angesteuert und betätigt wird, daß zwischen der Beendigung eines jeden Ausfördervorgangs und dem nächsten Vorgang des Einförderns auf das betreffende Stapelgeleise eine unter Mitnahme aller sich auf dem Stapelgeleise befindenden Stücke erfolgende Rückförderbewegung solcher Größe ausgeführt wird, daß beim nächsten Einfördervorgang ein lückenloser Stapelanschluß erhalten wird."
Gegen dieses Patent wurde ein Einspruch eingelegt mit dem Antrag, es zu widerrufen. Der Einspruch stützte sich auf Artikel 100 (a) EPÜ.
Die Einspruchsabteilung wies mit seiner am 23. Januar 1992 zur Post gegebenen Entscheidung den Einspruch zurück.
II. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) am 1. April 1992 unter gleichzeitiger Bezahlung der Gebühr Beschwerde eingelegt und diese am 2. Juni 1992 begründet.
III. Während des Beschwerdeverfahrens sind die folgenden Druckschriften erwähnt worden:
(D4): DE-C-237 907
(D5): DE-B-1 237 008
(D6): US-A-3 089 432.
Außerdem ist durch die Beschwerdeführerin auf drei angeblich offenkundige Vorbenutzungen hingewiesen worden, welche in der Beschwerdebegründung mit den Bezugszeichen (D1), (D2) bzw. (D3) gekennzeichnet sind. Diese angeblich offenkundigen Vorbenutzungen, welche bereits im am 30. Oktober 1990 eingereichten Einspruchsschriftsatz (Seiten 3 bis 8) erwähnt worden waren, wurden in der angefochtenen Entscheidung berücksichtigt.
IV. Am 24. Februar 1994 ist mündlich verhandelt worden.
Während der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin einen geänderten unabhängigen Anspruch 6 vorgelegt, dessen Wortlaut lautet wie folgt:
"6. Vorrichtung zur Durchführung des Verfahrens nach einem oder mehreren der vorhergehenden Ansprüche, bestehend aus einer Einförder-Rohrbahn, einer Mehrzahl von parallel zueinander angeordneten, über steuerbare Eingangsweichen mit der Einförder-Rohrbahn verbindbaren Stapelgeleisen, jeweils einem Förderer für jedes Stapelgeleise und einer Ausförder-Rohrbahn, die wiederum über steuerbare Ausgangsweichen mit den Stapelgeleisen verbindbar ist,
dadurch gekennzeichnet,
daß die den Stapelgeleisen zugeordneten Förderer aus in ihrer Förderrichtung umsteuerbaren, in beiden Richtungen unter Mitnahme aller sich auf dem Stapelgeleise befindenden Stücke wirksamen Förderern (5) bestehen."
V. Die Beschwerdeführerin hat im wesentlichen vorgetragen, daß der Fachmann ausgehend vom aus der Druckschrift D6 bekannten Stand der Technik und mit den der Druckschrift D4 zu entnehmenden Hinweisen ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 bzw. 6. gelange und somit der Gegenstand des Anspruchs 1 bzw. 6 nicht auf der nach Artikel 56 EPÜ erforderlichen erfinderischen Tätigkeit beruhe.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat den Ausführungen der Beschwerdeführerin widersprochen und im wesentlichen vorgetragen, daß der Fachmann, der von der Druckschrift D6 ausgeht, keinen Hinweis auf die zu lösende Aufgabe in der Druckschrift D4 finden könne.
VII. Die Beschwerdeführerin hat die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des angefochtenen Patents beantragt. Hilfsweise wurde der teilweise Widerruf des angefochtenen Patents hinsichtlich der Vorrichtungsansprüche 6 bis 15 beantragt.
VIII. Die Beschwerdegegnerin hat die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patentes mit folgenden Unterlagen beantragt:
Patentansprüche : 1 - 5 und 7 - 15 wie erteilt;
Patentanspruch : 6, Oberbegriff wie erteilt, kennzeichnender Teil wie überreicht in der mündlichen Verhandlung;
Beschreibung : Spalten 1 und 2 wie überreicht in der mündlichen Verhandlung, Spalten 3 - 5 wie erteilt;
Figuren : 1 - 3 wie erteilt.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit der Änderungen
Der Anspruch 6 ist bezüglich der erteilten Fassung dadurch geändert worden, daß der Ausdruck "unter Mitnahme aller sich auf dem Stapelgeleise befindenden Stücke" im kennzeichnenden Teil zwischen den Wörtern "Richtungen" und "wirksamen" hinzugefügt worden ist. Diese Änderung hat eine Offenbarungsbasis im ursprünglichen Anspruch 1 und verletzt somit nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ. Außerdem bewirkt diese Änderung keine Erweiterung des Schutzbereiches des Anspruchs und verletzt somit nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (3) EPÜ.
Auch die durchgeführte Anpassung der Beschreibung ist zulässig.
3. Neuheit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 bzw. 6 ist nach Auffassung der Kammer neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ. Im übrigen wurde die Neuheit des Anspruchs 1 bzw. 6 nicht bestritten.
4. Der nächstkommende Stand der Technik
Die Kammer und die Parteien sind sich darüber einig, daß die Druckschrift D6 den nächstkommenden Stand der Technik darstellt.
Diese Druckschrift beschreibt ein Verfahren bzw. eine Vorrichtung, das bzw. die alle im Oberbegriff des Anspruchs 1 bzw. 6 enthaltenen Merkmale aufweist. Darüber hinaus wird beim Verfahren gemäß dieser Druckschrift die Ansteuerung der Eingangs- und Ausgangsweichen der Stapelgeleise individuell und in Abhängigkeit von sich auf das jeweils zwischenzuspeichernde Stück beziehenden Kenndaten vorgenommen, wobei die Ansteuerung der Eingangsweichen zentral erfolgt.
5. Aufgabe und Lösung
5.1. In der Beschreibung des Patents (Spalte 1, Zeilen 47 bis 52) ist eine Aufgabe angegeben, die darin besteht,
(a) das Verfahren nach dem nächstkommenden Stand der Technik in der Weise auszubilden, daß auch bei stark differenzierter Sortierung in der Stapelung die jeweils vorhandene Kühlraum-Speicherkapazität optimal ausgenutzt werden kann und
(b) diese Optimalnutzung auch bei praktisch vollautomatischem Betrieb gewährleistet werden kann.
Die Aufgabe kann somit in zwei Teilaufgaben ((a) bzw. (b)) getrennt werden, wobei die Teilaufgabe (a) unabhängig von der Teilaufgabe (b) gelöst werden kann.
5.2. Der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 1 unterscheidet sich vom aus der Druckschrift D6 bekannten Stand der Technik dadurch
(1) daß auch die Ansteuerung der Ausgangsweichen zentral vorgenommen wird, und
(2) daß jeder einem Stapelgeleise zugeordnete Förderer in der Weise angesteuert und betätigt wird, daß zwischen der Beendigung eines jeden Ausfördervorgangs und dem nächsten Vorgang des Einförderns auf das betreffende Stapelgeleise eine unter Mitnahme aller sich auf dem Stapelgeleise befindenden Stücke erfolgende Rückförderbewegung solcher Größe ausgeführt wird, daß beim nächsten Einfördervorgang ein lückenloser Stapelanschluß erhalten wird.
Durch das Merkmal (1) bzw. (2) wird die Möglichkeit gegeben, das Verfahren vollautomatisch zu betreiben bzw. die Speicherkapazität optimal auszunutzen.
Nach Auffassung der Kammer löst der Gegenstand des Anspruchs 1 die im Patent angegebene Aufgabe, wobei das unterscheidende Merkmal (1) der Lösung der Teilaufgabe (b) und das unterscheidende Merkmal (2) der Lösung der Teilaufgabe (a) zuzuordnen ist.
5.3. Der Gegenstand des Vorrichtungsanspruchs 6 unterscheidet sich vom aus der Druckschrift D6 bekannten Stand der Technik dadurch
(3) daß die den Stapelgeleisen zugeordneten Förderer aus in ihrer Förderrichtung umsteuerbaren, in beiden Richtungen unter Mitnahme aller sich auf dem Stapelgeleise befindenden Stücke wirksamen Förderern (5) bestehen.
Dieses Merkmal macht die Vorrichtung dazu geeignet, den Verfahrensschritt gemäß dem im Abschnitt 5.2 mit dem Ziffer (2) versehenen Merkmal durchzuführen.
Nach Auffassung der Kammer besteht daher die objektive Aufgabe, die durch den Gegenstand des Anspruchs 6 gelöst wird, in der Bereitstellung einer Vorrichtung, die es erlaubt, die Kühlraum-Speicherkapazität optimal auszunutzen, d. h. sie entspricht der im Abschnitt 5.1 mit der Buchstabe (a) versehenen Teilaufgabe.
6. Erfinderische Tätigkeit
6.1. Die Merkmale (2) und (3), die der Lösung der Teilaufgabe (b) zuzuordnen sind, verwirklichen die allgemeine Idee, die den Stapelgeleisen zugeordneten Förderer derart zu betreiben, daß erhebliche Speicherlücken vermieden werden können.
Diese Idee ist keiner der vorliegenden, den Stand der Technik darstellenden Druckschriften zu entnehmen.
6.2. Die Druckschrift D4, die im Jahre 1910 patentiert wurde, betrifft eine Vorrichtung zum Schleppen von Walzenstäben oder stabförmigem Stückgut mit mehreren Schleppzügen (d), welche die auf mehreren, parallel zueinander angeordneten Geleisen (vgl. Figur 3) liegenden Walzstäbe zu einem Abfuhrrollgang (c) bewegen. Jeder Schleppzug weist einen Schlepperwagen mit einem als Mitnehmer fungierenden, umwendbaren Schlepperdaumen (l) auf. Jeder Schleppzug, dessen Förderrichtung umsteuerbar ist, kann dank der Umwendbarkeit des Schlepperdaumens in beiden Richtungen fördern. Mit den Schlepperwagen bzw. -daumen werden die Walzstäbe einzeln gefördert.
Nach Auffassung der Kammer weist die Druckschrift D4 in keiner Weise auf die Teilaufgabe (b). Diese Auffassung hat nicht nur die Beschwerdegegnerin sondern auch die Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung vertreten.
Daher hätte der Fachmann keinen Anlaß gehabt, zur Lösung der Teilaufgabe (b) die Druckschriften D4 und D6 miteinander zu verknüpfen, und dies um so mehr als die Druckschrift D4 einem von den beanspruchten Lösung weit entfernten Gebiet gehört.
6.2.1. Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, daß ein Fachmann, der sich im gesamten Gebiet der Fördertechnik umsieht, aus der Druckschrift D4 nicht nur das Grundprinzip, nach welchem ein Förderer in beiden Richtung wirksam ist, sondern auch die Vorteile dieses Grundprinzips erkennt, und dieses daher im vorliegenden Fall bei dem nächstkommenden Stand der Technik anwenden würde.
Die Kammer kann dieser Argumentation nicht folgen, da sie eine unzulässige rückschauende Betrachtungsweise darstellt, die die objektiv ermittelte, zu lösende Aufgabe völlig vernachlässigt. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit geht es nicht darum, ob der Fachmann etwas hätte tun können, sondern ob er dies in Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch getan hätte.
Im übrigen kann der Druckschrift D4 nicht die Lehre entnommen werden, daß die Schleppzüge in beiden Richtungen unter Mitnahme aller auf den Geleisen liegenden Walzstäbe wirksam sind. Selbst wenn der Fachmann die Lehren der Druckschriften D6 und D4 kombinierte, gelangte er nicht zu einem Verfahren bzw. einer Vorrichtung, das bzw. die das unterscheidende Merkmal (2) bzw. (3) aufweisen.
6.3. Die Druckschrift D5 betrifft eine Anlage mit einem Kühltunnel (1), einem Abgaberaum (5) und Fördergleitbahnen. Jeder Fördergleitbahn ist im Kühlraum (1) ein erster Förderer (8) und im Abgaberaum (5) ein zweiter Förderer (16) zugeordnet. Diese Druckschrift befaßt sich mit der Aufgabe, die Beschickung und Entleerung des Kühltunnels sowie des Abgaberaums mechanisiert vorzunehmen sowie die Anlage von einer zentralen Stelle zu steuern. Der Förderer (16), der in seiner Bewegungsrichtung umsteuerbar ist, ist aber nicht in beiden Richtungen wirksam. In dieser Druckschrift ist somit ein Hinweis weder auf die Teilaufgabe (b) noch auf die entsprechenden Lösungsmerkmale zu finden.
6.4. Hinsichtlich der angeblich offenkundigen Vorbenutzungen (D1) bis (D3), die in der Diskussion während der mündlichen Verhandlung keine Rolle gespielt haben, wird auf die in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Ausführungen verwiesen (vgl. Abschnitte 4 bis 4.5).
6.5. Die Kammer ist daher zu dem Ergebnis gekommen, daß der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 bzw. 6 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruht.
6.6. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 bzw. 7 bis 15 beziehen sich auf besondere Ausführungen der Erfindung nach dem Anspruch 1 bzw. 6.
In diesem Zusammenhang wird das Wort "Ansprüche" in der im Anspruch 15 enthaltenen Bezugnahme "nach einem oder mehreren der vorhergehenden Ansprüche" als "Vorrichtungsansprüche 6 bis 14" verstanden. Während der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin diese Auslegung bestätigt.
7. Das Patent kann deshalb im geänderten Umfang gemäß dem Antrag der Beschwerdegegnerin aufrechterhalten werden.
Dem beantragten vollständigen oder teilweisen Widerruf des Patents kann deshalb nicht stattgegeben werden.
8. Die Beteiligten haben sich in der mündlichen Verhandlung abschließend sachlich zu den Änderungen des Patents äußern können. Daher ist die Kammer der Auffassung, daß eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ nicht erforderlich ist (vgl. Entscheidung T 0219/83, ABl. EPA 1986, 211).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:
Patentansprüche : 1 bis 5 und 7 bis 15 - wie erteilt;
Patentanspruch : 6, Oberbegriff - wie erteilt, kennzeichnender Teil wie überreicht in der mündlichen Verhandlung;
Beschreibung : Spalten 1 und 2 - wie überreicht in der mündlichen Verhandlung, Spalten 3 bis 5 - wie erteilt, sowie
Figuren : 1 bis 3 - wie erteilt.