T 0911/92 28-03-1995
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Drehmaschine
I. Das europäische Patent Nr. 0 193 533 wurde am 14. Juni 1989 erteilt. Der Anspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt:
"Drehmaschine mit einer Antriebsvorrichtung (3) für eine Werkstückaufnahme (7) mit einem Reitstock (4) und mit einer auf dem Maschinenbett (1) verfahrbaren, um eine vertikale Achse (10) drehbaren und in einer gewünschten Winkelstellung arretierbaren Werkzeugaufnahme- Vorrichtung (9), die in zwei Freiheitsgraden in einer horizontalen Ebene verfahrbar und mit einer antreibbaren Spindeleinheit (11) versehen ist, wobei die drehbare Werkzeugaufnahme-Vorrichtung (9) außerdem wenigstens eine Aufnahmevorrichtung (13) für Werkzeuge besitzt, und wobei die Antriebsvorrichtung (3) für die Werkstückaufnahme (7) abkuppelbar ist und statt dessen ein numerisch steuerbarer Antrieb (8) für eine exakte Winkelpositionierung des Werkstücks betätigbar ist, dadurch gekennzeichnet, daß die Werkzeugaufnahme- Vorrichtung als ein Bearbeitungsturm (9) ausgebildet ist, daß die Spindeleinheit (11) des Bearbeitungsturmes (9) in der Höhe verstellbar ist, daß die Spindeleinheit (11) an beiden Seiten mit einer Werkzeugaufnahme (32, 33) ausgerüstet ist, daß die Aufnahmevorrichtung (13) zur lösbaren Befestigung von Werkzeugen oder Bearbeitungseinheiten (17 - 20) ausgebildet ist, und daß sowohl die Drehbewegung des Bearbeitungsturms (9) um seine vertikale Achse (10) als auch die Höhenverstellung der Spindeleinheit (11) als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs unabhängig numerisch steuerbar ist."
II. Mit Entscheidung vom 22. Juli 1992 widerrief die Einspruchsabteilung das europäische Patent mit der Begründung, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 im Hinblick auf den aus den Druckschriften DE-A-2 032 334 (D2) und DE-A-2 706 178 (D8) bekannten Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
In den Entscheidungsgründen vertrat sie die Ansicht, daß sie ein Merkmal, das dem Anspruch 1 während des Prüfungsverfahrens hinzugefügt worden sei, aus folgenden Gründen nicht zu berücksichtigen brauche:
Die Drehbewegung des Bearbeitungsturmes sei gemäß Anspruch 1 als Vorschubbewegung unabhängig numerisch steuerbar. Dieses Merkmal sei jedoch den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen nicht zu entnehmen. Die vom Patentinhaber angegebenen Textstellen in diesen Anmeldungsunterlagen enthielten lediglich Hinweise darauf, daß der Bearbeitungsturm numerisch gesteuert in verschiedenen Winkelpositionen festlegbar (indexierbar) sei. Da somit ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) vorliege, könne dieses Merkmal nicht zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden.
III. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) am 30. September 1992 Beschwerde ein. Die Beschwerdebegründung und die entsprechende Gebühr gingen fristgerecht ein.
IV. In einer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung wies die Kammer u. a. auf folgendes hin:
"Das Merkmal des Anspruchs 1, daß die Drehbewegung des Bearbeitungsturms und die Höhenverstellung der Spindeleinheit "als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs" steuerbar ist, scheint über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinauszugehen (s. Art. 123 (2) EPÜ)."
V. Am 28. März 1995 wurde mündlich verhandelt. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer unter Aufrechterhaltung seines Hauptantrags, dem der Anspruch 1 des erteilten Patents zugrunde lag, vier neue Hilfsanträge vor.
i) Sowohl schriftlich als auch mündlich brachte der Beschwerdeführer folgende Argumente vor:
Auch wenn in der Beschreibung der Erfindung nicht ausdrücklich die Rede davon sei, daß die Bewegungen des Bearbeitungsturms und der Spindeleinheit als Vorschubbewegung der auf der Drehmaschine aufgespannten Werkzeuge steuerbar seien, so sei dieses Merkmal doch implizit in der Beschreibung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthalten und entspreche somit den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ.
Die Vorschubbewegung der Werkzeuge sei zwar wichtig, stelle aber dennoch kein wesentliches Merkmal zur Lösung der technischen Aufgabe dar, eine Drehmaschine zu schaffen, welche eine erweiterte Komplett-Bearbeitung ermögliche.
Wenn die Kammer der Auffassung sei, das strittige Merkmal könne bei der Lösung der zugrundeliegenden Aufgabe nicht berücksichtigt, jedoch aufgrund der kollidierenden Erfordernisse der Absätze 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ auch nicht gestrichen werden, so sollte man es bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gemäß dem Aufgabe- Lösungs-Prinzip einfach außer acht lassen.
ii) Der Beschwerdegegner (Einsprechende) machte dagegen geltend, daß die Beschreibung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nirgendwo einen Hinweis auf eine Vorschubbewegung der Werkzeuge erkennen lasse. Die Tatsache, daß die Bewegungen des Bearbeitungsturms und der Spindeleinheit numerisch gesteuert seien, bedeute nicht, daß es sich um eine Vorschubbewegung handle. Der Anmeldung sei lediglich zu entnehmen, daß mit der Höhenverstellung der Spindeleinheit ein weiterer Freiheitsgrad gegeben werden solle, wogegen die Drehbewegung des Bearbeitungsturms allein zur Einstellung der Winkelposition der Werkstücke diene. Diese Angaben könnten aber nicht im Sinne einer Vorschubbewegung ausgelegt werden. Die Hinzufügung dieses Merkmals in Anspruch 1 verstoße daher gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
VI. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt (Hauptantrag) bzw. auf der Grundlage eines der in der mündlichen Verhandlung überreichten Hilfsanträge 1 bis 4.
Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Änderungen (Hauptantrag)
2.1. Das strittige Merkmal ist im letzten mit "daß" beginnenden Abschnitt des Anspruchs 1 enthalten, nämlich "daß sowohl die Drehbewegung des Bearbeitungsturms (9) um seine vertikale Achse (10) als auch die Höhenverstellung der Spindeleinheit (11) als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs unabhängig numerisch steuerbar ist". In diesen Abschnitt waren während des Prüfungsverfahrens Merkmale der Ansprüche 2, 6 und 8 der ursprünglichen Anmeldung sowie die Formulierung "als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs" aufgenommen worden. In Anspruch 1 bezieht sich die Formulierung sowohl auf den Bearbeitungsturm 9 als auch auf die Spindeleinheit 11.
In der ursprünglichen Anmeldung wird das Wort "Vorschubbewegung" nur im Zusammenhang mit der durch den numerisch steuerbaren Antrieb 8 bewirkten Bewegung des Werkstücks gebraucht (s. Seite 3, letzter Absatz; Seite 7, erster Absatz; Seite 9, zweiter Absatz; Anspruch 9). An keiner Stelle der Beschreibung bezieht sich diese "Vorschubbewegung" auf die Bewegung eines Werkzeugs oder dessen Aufnahmevorrichtung.
Was den Bearbeitungsturm betrifft, so heißt es in der Beschreibung der Anmeldung, daß er um seine vertikale Achse drehbar ist, wobei die Drehung numerisch gesteuert oder manuell bewirkt werden kann, so daß das Werkzeug mit oder ohne Programmierung in die gewünschte Betriebslage gebracht werden kann (Seite 2, letzter Absatz). Nach der Indexierung kann der Bearbeitungsturm in jeder gewünschten Winkelposition arretiert werden (Seite 8, letzter Absatz). Die Verstellung des Bearbeitungsturms dient im wesentlichen dazu, ein Werkzeug in eine exakte und übliche Bearbeitungsposition zu einem auf die Maschinenhauptachse zentrierten Werkstück zu bringen (Seite 10, fünfter Absatz und Seite 9, letzter Absatz). Die Drehbewegung des Bearbeitungsturms dient somit nur der Positionierung der an verschiedenen Seiten des Bearbeitungsturms angebrachten Werkzeuge, sowohl derjenigen, die an der Aufnahmevorrichtung 13 aufgespannt werden, als auch derjenigen, die auf jeder Seite der Spindeleinheit 11 angebracht sind. Die Drehbewegung des Bearbeitungsturms dient keineswegs dazu, einem Werkzeug eine Vorschubbewegung zu vermitteln.
Was die Spindeleinheit 11 betrifft, so ist die numerisch gesteuerte Höhenverstellung allein dazu bestimmt, der Bewegung des benutzten Werkzeugs einen weiteren Freiheitsgrad zu verleihen (Seite 3, dritter Absatz). Die Vertikalbewegung des die Spindeleinheit tragenden Schlittens 36 wird durch eine numerisch steuerbare Antriebsvorrichtung 37 bewirkt (Seite 9, erster und zweiter Absatz). Auch hier ist die numerisch gesteuerte Positionierung eines Werkzeugs nie als Vorschubbewegung zu betrachten, denn diese ist ausschließlich dem Werkstück vorbehalten, und zwar mittels der numerisch steuerbaren Antriebsvorrichtung 8.
Diese Ausführungen machen deutlich, daß die Formulierung "als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs" weder direkt noch implizit durch den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt wird und auch nicht als bloße Klarstellung betrachtet werden kann (Richtlinien, C-VI, 5.4 und 5.6). Somit hat die Änderung des Anspruchs 1 zur Folge, daß sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht und daher gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt.
2.2. Die Große Beschwerdekammer hat sich in der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) mit der Kollision zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ befaßt, insbesondere mit dem Sachverhalt, daß ein Merkmal, das während der Prüfung eigentlich gar nicht hätte hinzugefügt werden dürfen, weil der Gegenstand des Patents damit über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, nach der Erteilung aus den Ansprüchen dann nicht mehr gestrichen werden kann, da die Streichung einer Erweiterung des Schutzbereichs gleichkäme (Artikel 123 (3) EPÜ).
In dem Fall, daß das nicht offenbarte, aber während der Prüfung hinzugefügte Merkmal den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränkt, aber einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leistet, so geht der Gegenstand dieses Merkmals über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus (Nrn. 15 und 16 der Entscheidung G 1/93). Das hinzugefügte Merkmal im Anspruch kann dann weder beibehalten (Art. 123 (2)) noch gestrichen (Art. 123 (3)) werden. Das Patent muß widerrufen werden (Nr. 1 der Entscheidungsformel nach G 1/93).
In der vorliegenden Sache ist das Merkmal "als Vorschubbewegung des jeweils verwendeten Werkzeugs" insofern einschränkend, als eine Vorschubbewegung der auf dem Bearbeitungsturm und/oder der Spindeleinheit angebrachten Werkzeuge, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart war (Nr. 2.1 oben), jetzt unter den Schutzbereich fällt und den Gegenstand somit einschränkt. Darüber hinaus leistet das Merkmal einen technischen Beitrag zum beanspruchten Gegenstand, weil eine Vorschubbewegung der Werkzeuge eine zusätzliche technische Funktion der Drehmaschine gemäß Anspruch 1 darstellt. Dieses Merkmal ist also weder ohne jede technische Bedeutung noch schließt es lediglich den Schutz für einen Teil des beanspruchten Gegenstands aus (G 1/93, Nrn. 4 und 16). Ebensowenig handelt es sich um ein überflüssiges oder unnötiges Merkmal, das nur ein in einem Anspruch bereits enthaltenes Merkmal mit anderen Worten wiederholt (Tautologie). In der (noch zu veröffentlichenden) Entscheidung T 384/91 der Kammer 3.4.2 vom 27. September 1994 (die Zwischenentscheidung mit dem gleichen Aktenzeichen war die Vorlageentscheidung für die Entscheidung G 1/93) heißt es, daß ein technischer Beitrag dann vorliege, wenn das hinzugefügte Merkmal auf die Art und Weise, mit welcher die übrigen Merkmale des Anspruchs die in der Anmeldung genannte Aufgabe lösten, einwirke. Dieses Kriterium ist durchaus auf die vorliegende Sache anwendbar, denn nachdem die Vorschubbewegung zunächst auf das Werkstück beschränkt war, bewirkt die Hinzufügung eines Werkzeugvorschubs, daß die Möglichkeiten der Werkstückbearbeitung mittels derselben Werkzeuge und damit die Vielseitigkeit der Mehrzweck-Drehmaschine ganz erheblich verändert werden.
2.3. Auch aus den vorstehenden Gründen verstößt die Hinzufügung des strittigen Merkmals gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Das Patent kann daher nicht mit den Ansprüchen gemäß Hauptantrag aufrechterhalten werden.
3. Änderungen (Hilfsanträge)
Die Hilfsanträgen 1 bis 4 enthalten ebenfalls das strittige Merkmal. Es kann somit aus denselben Gründen, die oben für den Hauptantrag dargelegt wurden, auch hier weder beibehalten noch gestrichen werden.
Die o. g. Entscheidung G 1/93 sieht für wenige Ausnahmefälle die Möglichkeit vor, das hinzugefügte Merkmal ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ durch ein in der ursprünglichen Anmeldung offenbartes anderes Merkmal zu ersetzen (s. Nrn. 4 und 13 der Entscheidung). Die Kammer hat diese Möglichkeit im Hinblick auf die Hilfsanträge geprüft, d. h. ob die den betreffenden Ansprüchen hinzugefügten Merkmale gegebenenfalls das strittige Merkmal ersetzen könnten. Die zusätzlichen Merkmale lauten wie folgt:
"daß die Drehbewegung des Bearbeitungsturmes um seine vertikale Achse numerisch steuerbar und in einer beliebigen Winkelstellung gegen Bearbeitungsreaktionskräfte sicherbar ist und daß die Spindeleinheit für Bearbeitungsaufgaben numerisch gesteuert vertikal verfahrbar oder bei Nichtgebrauch aus dem Weg bringbar ist."
Diese Merkmale werden zwar durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt, die darin enthaltenen Angaben beziehen sich jedoch nur auf die Positionierung des Bearbeitungsturms und der Spindeleinheit. Sie können daher das strittige Merkmal nicht in dem Sinne ersetzen, daß sie einen Werkzeugvorschub erklären oder rechtfertigen könnten.
Unter diesen Umständen kann das Patent auch auf der Grundlage der Hilfsanträge 1 bis 4 nicht aufrechterhalten werden.
4. Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß der Anmelder die Änderung nach Erhalt des Recherchenberichts, d. h. vor der Sachprüfung durch die Prüfungsabteilung, von sich aus hinzugefügt hat. Nach der Entscheidung G 1/93, Nr. 13 trägt der Anmelder die Verantwortung für diese Änderung auch dann, wenn sie die Prüfungsabteilung gebilligt hat.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.