T 1054/98 08-06-2000
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Chipkarte
Verspätet vorgebrachte Einspruchsgründe nicht zugelassen
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent 0 424 726 zurückzuweisen.
II. Patentanspruch 1 wie erteilt lautet (ohne Bezugszeichen):
"Chipkarte, bei der die Energieversorgung und der bidirektionale Datenaustausch über Kontakte in einem Kontaktfeld bewirkt wird,
dadurch gekennzeichnet,
- daß neben dem Kontaktfeld auch noch Spulen zur Spannungsversorgung und zum Datenaustausch vorgesehen sind,
- daß ein Dioden-Kondensatornetzwerk zur Gleichrichtung und Glättung einer in die Spulen induzierten Wechselspannung an die Spulen angeschlossen ist und eine erste Gleichspannung erzeugt,
- daß die erste Gleichspannung zur Spannungsversorgung des Chips dient und an einen ersten Eingang einer Diskriminierungsschaltung geführt ist,
- daß eine über das Kontaktfeld gelieferte zweite Gleichspannung ebenfalls zur Spannungsversorgung des Chips dient und an einen zweiten Eingang der Diskriminierungsschaltung geführt ist,
- daß die Diskriminierungsschaltung an ihrem Ausgang ein Signal abgibt, das abhängig vom Vorliegen der ersten oder der zweiten Spannung zwei verschiedene logische Pegel aufweist und das eine weitere Schaltung steuert,
- daß der weiteren Schaltung über eine Leitungsreihe Signale zur Spannungsversorgung und zum Datenaustausch vom Kontaktfeld her zugeführt werden, und der über eine Schaltung und eine andere Leitungsreihe Signale zur Spannungsversorgung und zum Datenaustausch von den Spulen her zugeführt werden,
- daß die weitere Schaltung an ihrem Ausgang über eine Leitungsreihe an den Chip angeschlossen ist, und
- daß bei Vorliegen der ersten Spannung die Signale von den Spulen und bei Vorliegen der zweiten Spannung die Signale vom Kontaktfeld an den Chip durchgeschaltet werden."
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hatte Einspruch eingelegt mit der Begründung, die Erfindung beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Es wurde insbesondere auf die Dokumente
D1: WO-A-87/06747
D3: US-A-4 575 621
D4: US-A-4 791 285
verwiesen.
IV. Nach Ablauf der Einspruchsfrist wurde zum ersten Mal der Einspruchsgrund mangelnde Ausführbarkeit (Artikel 100 b) EPÜ) genannt. Es wurden ferner zwei weitere Dokumente erwähnt:
D8: EP-A-0 257 648 und
D9: FR-A-2 596 897.
V. Der Einspruch wurde zurückgewiesen mit der Begründung, daß die Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Die verspätet vorgebrachten Dokumente D8 und D9 wurden im Verfahren nicht zugelassen, weil sie nicht relevant genug seien. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ wurde nicht zugelassen, da er sich auf ein Merkmal beziehe, das in Patentanspruch 1 nicht vorkomme.
VI. In der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin Einwände nach Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 57, sowie nach Artikel 100 c) und Artikel 84 EPÜ erhoben.
VII. Am 8. Juni 2000 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
VIII. Die Beschwerdeführerin vertrat die Ansicht, die Erfindung sei durch D8 und D4 nahegelegt. Der Einspruchsgrund der mangelnden Offenbarung sei, auch wenn dieser von der Kammer nicht berücksichtigt werden könne, auf jeden Fall relevant, um die Fähigkeiten des einschlägigen Fachmannes einzuschätzen. Denn der gleiche Fachmann sei bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit heranzuziehen.
Die Beschwerdegegnerin führte demgegenüber aus, daß die Erfindung keinem der genannten Dokumente entnehmbar sei. D8 und D9 seien verspätet vorgebracht und deshalb nicht zu berücksichtigen. Andere Einspruchsgründe als derjenige der mangelnden erfinderischen Tätigkeit sollten nicht zugelassen werden.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
X. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Die Erfindung
Die Erfindung betrifft eine Chipkarte. Eine solche Karte kann in ein entsprechendes Schreib/Lesegerät eingeführt werden, wobei sie von diesem mit Energie versorgt wird. Üblicherweise geschieht dies entweder galvanisch (kontaktbehaftet) oder induktiv (kontaktlos). Auch Daten werden auf die gleiche Weise übertragen. Die Karte gemäß der vorliegenden Erfindung funktioniert dagegen sowohl kontaktbehaftet als auch kontaktlos. Sie bestimmt dabei selbsttätig ihre Funktionsweise.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden in der Karte zwei Signalspannungen verglichen. Arbeitet das Schreib/Lesegerät konktaktlos, wird die Versorgungsspannung der Karte aus einer induzierten Wechselspannung erzeugt. Arbeitet das Schreib/Lesegerät kontaktbehaftet, wird die Versorgungsspannung direkt zur Verfügung gestellt. Die Signalwege sind in den beiden Fällen unterschiedlich, so daß die entsprechenden Spannungen mit einander in einer Diskriminierungsschaltung verglichen werden können. Das Ausgangssignal dieser Schaltung gibt an, ob die Karte kontaktbehaftet oder kontaktlos funktionieren soll.
2. Verspätet vorgebrachte Einspruchsgründe
2.1. Die Beschwerdeführerin hat nach Ablauf der Einspruchsfrist zum ersten Mal Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 57, Artikel 100 b) und Artikel 100 c) EPÜ (sowie einen Einwand gemäß Artikel 84 EPÜ) vorgebracht. Die Einspruchsabteilung hat jedoch nur den - rechtzeitig - gemäß Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 56 EPÜ geltend gemachten Einspruchsgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit geprüft.
Alle neuen Einspruchsgründe stützen sich auf die gleiche technische Überlegung. Es geht dabei um die Frage, wie die erfindungsgemäße Chipkarte reagiert, falls das Schreib/Lesegerät eine Versorgungsspannung sowohl kontaktlos als auch kontaktbehaftet liefern kann. In der angegriffenen Entscheidung, Punkt 2, wird in nachvollziehbarer Weise dargetan, warum nach Ansicht der Einspruchsabteilung diese Aufgabe nicht diejenige ist, welche die Chipkarte gemäß Patentanspruch 1 (der einzige Anspruch) lösen soll. Die beanspruchte Erfindung sei im Hinblick auf die im Patent angegebene Aufgabe hinreichend deutlich und vollständig beschrieben.
Damit hat die Einspruchsabteilung in korrekter Weise von ihrem Ermessungsspielraum Gebrauch gemacht, der ihr gemäß der Entscheidung G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) bei der Zulassung verspätet vorgebrachter Einspruchsgründe zusteht. Die Kammer könnte somit auf den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ und die anderen neuen Einspruchsgründe nur mit Einverständnis der Patentinhaberin eingehen. Dieses Einverständnis liegt jedoch nicht vor, weshalb die Kammer sich auf die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit beschränken wird.
2.2. Auch wenn die Frage der Ausführbarkeit der Erfindung von der Kammer nicht aufgegriffen wird, ist sie nach Meinung der Beschwerdeführerin trotzdem indirekt zu berücksichtigen. Für die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit sei nämlich ein Fachmann heranzuziehen, der in der Lage wäre, mit Hilfe der angeblich unzureichenden Beschreibung die vorliegende Erfindung auszuführen. Zumindest für einen derart kompetenten Fachmann ergebe sich die Erfindung in naheliegender Weise aus dem angeführten Stand der Technik.
Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin darin überein, daß die Artikel 56 und 83 EPÜ auf den gleichen Fachmann Bezug nehmen. Jedoch dürfte es in der Praxis kaum möglich sein, Schlüsse bezüglich des Naheliegens einer Erfindung daraus zu ziehen, wie deutlich und vollständig die Erfindung in der Beschreibung dargestellt ist. Denn bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit geht es hauptsächlich darum, ob sich Hinweise finden lassen, die zur Erfindung führen. Fehlen solche Hinweise, beruht die Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit. Bei der Frage der Ausführbarkeit, dagegen, ist normalerweise der Zweck der Erfindung bekannt. Entscheidend ist dann, ob der Fachmann aufgrund seines Fachwissens eventuelle Lücken in der Beschreibung ausfüllen kann. Dabei ist oft eine gezielte Suche möglich (vgl. auch Punkt 4.12 unten).
3. Verspätet vorgebrachte Entgegenhaltungen
3.1. D8 wurde nach Ablauf der Einspruchsfrist genannt und von der Einspruchsabteilung nicht zum Verfahren zugelassen. Die Kammer wird jedoch diese Schrift berücksichtigen, da sie nach Ansicht sowohl der Beschwerdeführerin als auch der Kammer den nächsten Stand der Technik darstellt.
3.2. D9, die auch nach Ablauf der Einspruchsfrist genannt wurde, erscheint weniger relevant und wird deshalb nicht zum Verfahren zugelassen.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1. Es ist unbestritten, daß die Erfindung neu ist. Es bleibt somit nur die Frage der erfinderischen Tätigkeit.
4.2. Im Streitpatent wird die technische Aufgabe folgendermaßen angegeben: "...eine Chipkarte zu schaffen, die sowohl kontaktbehaftet wie auch kontaktlos funktioniert, so daß dies ohne Dazutun des Kartenbenutzers in Verbindung mit Kontaktkartenlesern bzw. kontaktlos arbeitenden Lesern eingesetzt werden kann und automatisch selbsttätig ihre Funktionsweise (kontaktlos oder kontaktbehaftet) bestimmen /kann/".
4.3. Diese ("subjektive", also in der Patentschrift angegebene) Aufgabe ist neu, denn sie wird in keiner der Entgegenhaltungen angesprochen. Ferner ergibt sie sich nicht zwangsläufig aus dem Stand der Technik, denn eine Karte muß nicht in unterschiedlichen Lesern funktionieren. Sie betrifft auch nicht eine routinemäßige Verbesserung, um die sich der Fachmann ohne besonderen Anlaß bemühen würde.
Folglich kann a priori nicht ausgeschlossen werden, daß die subjektive Aufgabenstellung selbst erfinderischer Natur ist. Deshalb sollte, nach den Grundsätzen des Aufgabe-Lösungsansatzes, zunächst eine allgemeinere Aufgabe gefunden werden, die der Fachmann zu lösen hatte. Ausgehend von D8 könnte sie z. B. in folgender Weise formuliert werden: eine kontaktbehaftete Karte derart zu verbessern, daß sich ihre Einsetzbarkeit erhöht.
4.4. Gewissermaßen beschäftigt sich D8 bereits mit dieser Aufgabe, denn die darin beschriebene Chipkarte ist "multi-funktional". Das heißt, daß sie nicht nur mit Schreib/Lesegeräten sondern auch selbständig - als Taschenrechner, Uhr oder Notizblock - funktioniert. Darüber hinaus verfügt sie über einen Magnetwandler ("magnetism generating member" 14), der es erlaubt, die Chipkarte in einem Lesegerät für Magnetkarten zu verwenden.
4.5. Die bekannte Karte kann somit als eine Kombination einer Chipkarte und einer Magnetkarte gesehen werden. Folglich ist der Gedanke, zwei Kartentypen in einer einzigen Karte zu vereinen, nicht neu. Es stellt sich deshalb die Frage, ob möglicherweise jede solche Kombination von Kartentypen - und insbesondere diejenige gemäß der Erfindung - als naheliegend zu bewerten wäre.
4.6. Die Kammer findet jedoch, daß eine solche Schlußfolgerung zu pauschal wäre. Der Magnetwandler in D8 ist ein zusätzlicher Datengeber. Er kann ohne größere Eingriffe in die schon vorhandenen Chipkartenfunktionen hinzugefügt werden. Die Chipkartenfunktion und die Magnetkartenfunktion sind leicht kombinierbar, da sie kaum Berührungspunkte besitzen.
4.7. Bei der vorliegenden Erfindung liegt die Sache anders. Bekannt ist es, die Versorgungsspannung sowie Datensignale entweder kontaktbehaftet oder kontaktlos zu übertragen. Hier hat man mit einer Alternative zu tun und nicht mit einer zusätzlichen Funktion. Ein Fachmann, der die aus D8 bekannte Kombination einer Chipkarte und einer Magnetkarte auf andere Kartentypen übertragen wollte, könnte ohne erfinderische Leistung Funktionen hinzufügen. Er könnte z. B. die Chipkarte mit einem Magnetstreifen versehen. (Solche Karten gehören im übrigen auch zum Stand der Technik.) Es kann nach Ansicht der Kammer jedoch nicht davon ausgegangen werden, daß er auch Funktionsalternativen in Erwägung gezogen hätte.
4.8. Aus dem gleichen Grund ist das Argument der Beschwerdeführerin nicht überzeugend, die Erfindung ergebe sich in naheliegender Weise aus Karten, die sowohl kapazitiv als auch induktiv funktionieren. Eine solche Karte ist z. B. in D1 beschrieben. Sie empfängt Energie über eine induktive und Daten über eine kapazitive Kopplung. Eine Alternative liegt jedoch auch in diesem Fall nicht vor, denn es besteht keine Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Übertragungsarten. Außerdem fehlt bei diesem Stand der Technik der Gedanke, die Karte sowohl kontaktlos als auch kontaktbehaftet funktionieren zu lassen.
4.9. D8 besitzt eine weitere Funktion, die darin besteht, die Versorgungsspannung wahlweise aus einer Batterie oder (kontaktbehaftet) aus einer externen Energiequelle zu beziehen. Die Beschwerdeführerin sieht hierin eine Anweisung an den Fachmann, Chipkarten für mehrere Versorgungsquellen auszulegen. Da kontaktbehaftete und kontaktlose Schreib/Lesegeräte beide bekannt seien, sei es naheliegend, eine Karte für diese zwei Arten von Lesern anzupassen.
Die Kammer ist jedoch der Meinung, daß der Fachmann dieses Merkmal nicht ohne weiteres verallgemeinert hätte. Die Karte gemäß D8 ist für selbstständige Funktionen gedacht und muß demnach eine Batterie besitzen. Sie ist aber auch mit einem Schreib/Lesegerät zu benutzen und hat damit Zugang zu dessen Versorgungsspannung. Diese spezielle doppelte Benutzungsmöglichkeit machte es notwendig, mit zwei Versorgungsspannungen zu arbeiten. Anders ist es, wenn die Karte (wie die Erfindung) keine Batterie aufweist. Dann besteht keine Notwendigkeit, zwischen zwei Energiequellen zu wechseln. Dieser Fall wird in D8 nicht angesprochen.
4.10. Die Beschwerdeführerin hat darauf hingewiesen, daß kontaktlose Karten an sich bestens bekannt sind, z. B. aus D3 oder D4, und daß die Schreib/Lesegeräte selbst sowohl kontaktbehaftete als auch kontaktlose Grenzflächen besitzen (zu der Karte bzw. zu dem angeschlossenen Rechner).
Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß der Aufbau eines Schreib/Lesegeräts den Fachmann zur Lösung einer Aufgabe, die nicht das Gerät sondern die zugehörige Karte betrifft, angeregt hätte.
4.11. Zusammenfassend ist die Kammer der Ansicht, daß der verfügbare Stand der Technik nicht eine Chipkarte nahelegt, die mit sowohl einem kontaktbehafteten als auch einem kontaktlosen Schreib/Lesegerät funktioniert. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 beruht deshalb auf einer erfinderischen Tätigkeit. Ob die übrigen Merkmale des Patentanspruchs - insbesondere die Diskriminierungsschaltung - erfinderischer Natur sind oder nicht, braucht nicht entschieden zu werden.
4.12. Abschließend soll noch einmal kurz auf die Frage des Fachmannes eingegangen werden. Wie oben dargetan, sieht die Kammer den entscheidenden erfinderischen Schritt schon in der Vereinigung der kontaktbehafteten und der kontaktlosen Funktionsweise in einer einzigen Karte. Zu dieser grundlegenden Idee ließ sich kein Hinweis finden. Auch ein Fachmann, der mit der Ausführung einer knapp beschriebenen Erfindung keine Mühe gehabt hätte, wäre ohne einen entsprechenden Hinweis nicht zur Erfindung gelangt. Denn wenn das Ziel nicht bekannt ist, bleibt der Weg dahin verborgen, auch wenn er im Nachhinein als nicht allzu schwierig erscheinen mag.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.