T 3248/19 02-12-2022
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Fördern von stabförmigen Artikeln der Tabak verarbeitenden Industrie
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Alternative
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Änderung des Vorbringens - Antrag
Änderung des Vorbringens - Änderung zugelassen (ja)
Änderung des Vorbringens - Einwand
Änderung des Vorbringens - Änderung zugelassen (nein)
Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach das Streitpatent in der Fassung des (damaligen) Hilfsantrags IV die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, hat die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde eingelegt.
II. Zu diesem Hilfsantrag IV hatte die Einspruchsabteilung entschieden, dass
a) der Gegenstand dieses Antrags neu und erfinderisch sei gegenüber den Dokumenten
D1 EP 1 366 679 A2 und
D2 WO 97/01291;
b) das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne; und
c) der Gegenstand der Ansprüche nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
a) Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
b) Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte als Hauptantrag die Zurückweisung der Beschwerde und hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Hilfsanträge 1 oder 2.
IV. Der unabhängige Anspruch des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Verfahren zum Fördern von stabförmigen Artikeln (115) der Tabak verarbeitenden Industrie, insbesondere Filterstäbe oder Zigaretten oder Filterstabgruppen oder hieraus zusammengestellte Artikelgruppen, wobei die stabförmigen Artikel (115) in queraxialer Richtung in Aufnahmemulden (114, 124) von, insbesondere rotierend angetriebenen, Trommelkörpern (112, 122) von Fördertrommeln (110, 120) gefördert werden, wobei die stabförmigen Artikel (115) einzeln aus den abgebenden Aufnahmemulden (114) der ersten Fördertrommel (110) in einem Übergabebereich (130) an die aufnehmenden Aufnahmemulden (124) der zweiten Fördertrommel (120) übergeben werden, wobei die Artikel (115) auf der ersten Fördertrommel (110) mittels Unterdruck in den Aufnahmemulden (114) gehalten und zum Übergabebereich (130) gefördert werden, im Übergabebereich (130) zwischen der ersten Fördertrommel (110) und der zweiten Fördertrommel (120) und während der oder bei der Übergabe an jeweils eine Aufnahmemulde (124) des Trommelkörpers (122) der zweiten Fördertrommel (120) die Artikel (115) jeweils unter Ausbildung eines Formschlusses mit der am jeweiligen zu übergebenden Artikel (115) anliegenden Kontur der abgebenden Aufnahmemulden (114) der ersten Fördertrommel (110) und unter gleichzeitiger Ausbildung eines Formschlusses mit der am jeweiligen zu übergebenden Artikel (115) anliegenden Kontur der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) der zweiten Fördertrommel (120) übergeben werden, wobei mit der Ausbildung des beidseitigen Formschlusses der einzelnen Artikel (115) jeweils der Halteunterdruck an der abgebenden Aufnahmemulde (114) der ersten Fördertrommel (110) abgeschaltet ist und gleichzeitig der stabförmige Artikel (115) mit Halteunterdruck an der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) der zweiten Fördertrommel (120) beaufschlagt wird, dadurch gezeichnet, dass die stabförmigen Artikel (115) als kreisrund geformte Artikel (115) ausgebildet sind und bei Ausbildung des beidseitigen Formschlusses des zu übergebenden Artikels (115) mit der Kontur der abgebenden Aufnahmemulde (114) der ersten Fördertrommel (110) und mit der Kontur der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) der zweiten Fördertrommel (120) im Übergabebereich (130) der Abstand zwischen dem Muldengrund der abgebenden Aufnahmemulde (114) der ersten Fördertrommel (110) und dem Muldengrund der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) der zweiten Fördertrommel (120) kleiner als der Durchmesser des zu übergebenden Artikels (115) ist, wobei die zu übergebenden Artikel (115) jeweils im Übergabebereich (130) wenigstens eine oder mehrere Ansaugbohrungen (123) der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) der zweiten Fördertrommel (120) mit Ausbildung des Formschlusses mit der aufnehmenden Aufnahmemulde (124) verschließen."
Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 verlangt im Vergleich zum Hauptantrag, dass der Abstand zwischen dem Muldengrund der aufnehmenden Aufnahmemulde und dem Muldengrund der abgebenden Aufnahmemulde nicht nur kleiner, sondern "um 0,1 mm bis 0,3 mm" kleiner als der Durchmesser des Artikels sein soll.
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sei nicht neu gegenüber D2, zumindest jedoch nicht erfinderisch ausgehend von D2. Der Fachmann würde auch in D2 den Unterdruck der abgebenden Fördertrommel bei der Übergabe des Artikels abschalten und gleichzeitig den Unterdruck der aufnehmenden Fördertrommel aufbringen. Dies ergebe sich aus dem allgemeinen Fachwissen, das beispielsweise durch D5 belegt sei.
b) Der Hilfsantrag 1 hätte bereits im Einspruchsverfahren vorgelegt werden müssen und könne daher nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen werden.
c) Die zum Hauptantrag geltend gemachten Einwände der fehlenden Ausführbarkeit der Erfindung, sowie der unzulässigen Änderung des Anspruchs 4 seien analog auch auf den Hilfsantrag 1 anzuwenden.
d) Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber D1. Zudem sei es nicht erfinderisch, einen bestimmten Längenunterschied, wie er dem Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 hinzugefügt wurde, zu wählen.
VI. Das Vorbringen des Beschwerdegegners lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) D2 zeige nicht, wie der Unterdruck der beiden Fördertrommeln gesteuert werde. Der Fachmann würde bei D2 im Übergabebereich auch keinen Unterdruck aufbringen, um eine Schädigung des Artikels durch das gleichzeitige Verformen zwischen den Fördertrommeln und das Einwirken des Unterdrucks zu vermeiden. Das Prinzip aus D5 wiederum lasse sich nicht auf D2 übertragen.
b) Der Hilfsantrag 1 stellt eine zulässige Reaktion auf die Einreichung des zusätzlichen Standes der Technik (insbesondere des Dokuments D5) mit der Beschwerdebegründung dar.
c) Die zum Hilfsantrag 2 vorgebrachten Mängel seien durchwegs erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und daher verspätet vorgebracht worden. Sie könnten daher nicht zum Verfahren zugelassen werden.
Hauptantrag
Neuheit und erfinderische Tätigkeit (Artikel 54 und 56 EPÜ)
1. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
1.1 Die Einspruchsabteilung sah den Gegenstand des Anspruchs 1 als neu gegenüber D1 und D2 an, sowie als erfinderisch ausgehend von D1 als nächstkommenden Stand der Technik.
1.2 Es ist unbestritten zwischen den Parteien, dass das Dokument D2 ein Verfahren offenbart, bei dem stabförmige, ursprünglich kreisrund geformte Artikel queraxial von einer Fördertrommel (10) auf eine andere Fördertrommel (11) in einem Übergabebereich übergeben werden (siehe Figur 2 in Verbindung mit Seite 14, vorletzter Satz: "acting as the transfer drum"). Im Übergabebereich werden die Artikel zwischen den beiden Fördertrommeln deformiert und dabei dort im beidseitigen Formschluss gehalten. Bis dieser erreicht und sobald er wieder aufgehoben ist, werden die Artikel auf den Fördertrommeln mittels Unterdruck gehalten, der über Ansaugbohrungen ("vacuum ports" 14, 15) in den Aufnahmemulden (12, 13) auf die Artikel einwirkt.
1.3 Strittig zwischen den Parteien ist allerdings, wie dieses Vakuum gesteuert wird, insbesondere ob mit der Ausbildung des beidseitigen Formschlusses der einzelnen Artikel jeweils der Halteunterdruck an der abgebenden Aufnahmemulde der ersten Fördertrommel abgeschaltet wird und gleichzeitig der stabförmige Artikel mit Halteunterdruck an der aufnehmenden Aufnahmemulde der zweiten Fördertrommel beaufschlagt wird.
1.3.1 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass eine derartige Steuerung zwingend notwendig sei, da sonst eine Übergabe von der einen Fördertrommel auf die andere Fördertrommel nicht möglich sei. D2 würde daher auch dieses Merkmal implizit offenbaren.
1.3.2 Dem ist jedoch nicht zu folgen, da der Übergabebereich (also der Bereich, in dem der Artikel sich in beidseitigem Formschluss mit den Fördertrommeln befindet) kein singulärer Punkt ist, sondern ein Bereich. Somit wäre es auch denkbar, den Unterdruck der abgebenden Fördertrommel mit Eintritt des Artikels in diesen Übergabebereich abzustellen, den Unterdruck der aufnehmenden Fördertrommel aber erst kurz vor dem Austritt des Artikels aus dem Übergabebereich anzustellen. Der Artikel würde dann ein kurzes Stück ohne durch Unterdruck erzeugtem Halt in einer der beiden Aufnahmemulden transportiert werden, ist aber dabei durch den beidseitigen Formschluss ausreichend gehalten.
Damit würde das Abstellen bzw. Anstellen des Unterdrucks aber nicht gleichzeitig erfolgen, wie es Anspruch 1 zwingend verlangt.
1.3.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheidet sich somit von dem aus D2 bekannten Verfahren dahingehend, dass der Unterdruck der abgebenden Fördertrommel gleichzeitig abgeschaltet wird, wenn der jeweilige stabförmige Artikel mit dem Unterdruck der aufnehmenden Fördertrommel beaufschlagt wird. Anspruch 1 ist somit neu gegenüber D2.
1.4 Ausgehend von D2 muss der Fachmann einen Zeitpunkt wählen, wann der Unterdruck der jeweiligen Aufnahmemulden aus- bzw. eingeschaltet wird.
1.4.1 Der Fachmann hat letztlich nur zwei technisch sinnvolle Möglichkeiten: Entweder er schaltet den Unterdruck der aufnehmenden Fördertrommel erst an, nachdem der Unterdruck der abgebenden Fördertrommel schon aus ist, oder aber das Ab- und Anschalten erfolgt gleichzeitig. Die weitere Alternative, den Unterdruck der aufnehmenden Fördertrommel bereits aufzubringen, bevor der Unterdruck der abgebenden Fördertrommel ausgeschaltet wird, würde der Fachmann verwerfen, da das parallele Einwirken der beiden Unterdrücke zu unerwünschten Interaktionen führen kann.
1.4.2 Die Beschwerdegegnerin argumentierte zwar, dass der Fachmann es vermeiden würde, im Übergabebereich (in dem aufgrund des beidseitigen Formschlusses der Artikel bereits deformiert wird) eine zusätzliche Deformation des Artikels durch den Unterdruck zu erzeugen. Daher würde der Fachmann am Beginn des Übergabebereichs den Unterdruck der abgebenden Aufnahmemulde ausschalten und erst zeitversetzt dazu am Ende des Übergabebereichs den Unterdruck der aufnehmenden Aufnahmemulde einschalten.
Dieses Argument kann aber nicht überzeugen, da das vermeintliche Problem in D2 bereits erkannt und anderweitig gelöst wurde (siehe Seite 6, 2. Absatz), indem eine größere Anzahl von Vakuum-Öffnungen, mit jeweils nur einem vergleichsweise kleinen Durchmesser von 1-2 mm vorgeschlagen wird (wie Seite 6, Zeile 9 und beispielsweise Figur 4 zu entnehmen) und daher der über diese Öffnungen aufgebrachte Unterdruck den Artikel in seiner Form nicht maßgeblich beeinflussen kann.
1.4.3 Es gibt daher keinen zwingenden Grund, den Unterdruck der abgebenden Trommel erst auszuschalten und dann zeitversetzt den Unterdruck der aufnehmenden Trommel anzuschalten. Stattdessen ist es aus Sicht der Kammer eine naheliegende, wenn nicht sogar die naheliegendste Wahl, beide Schaltvorgänge gleichzeitig in der Mitte der Übergabezone vorzunehmen. So kommt der Fachmann zum Verfahren des Anspruchs ohne erfinderisch tätig werden zu müssen.
1.5 Entsprechend kann offen bleiben, ob das Dokument D5 die Steuerung des Unterdrucks der beiden Fördertrommeln zeigt, ob D5 das Fachwissen nachweist und/oder ob der Fachmann die Lehre des Dokuments D5 auf D2 anwenden kann.
Hilfsantrag 1
Zulassung des Hilfsantrags 1 (Artikel 12(4) VOBK 2020)
2. Der mit der Antwort auf die Beschwerdebegründung eingereichte Hilfsantrag 1 wurde von der Kammer ins Verfahren zugelassen.
2.1 Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Entscheidung zu D2 ausgeführt, dass dieses Dokument den Zeitpunkt des An- und Ausschalten des jeweiligen Halteunterdrucks nicht offenbare (siehe Entscheidungsgründe, Punkt 14.6.1).
2.2 Um das gleichzeitige An- und Abschalten als naheliegende Alternative nachzuweisen, reichte die Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung das Dokument D5 ein (siehe Seite 3 der Beschwerdebegründung, obere Hälfte).
2.3 Um sich gegenüber D1 und D2 weiter abzusetzen, reichte die Beschwerdegegnerin daraufhin mit ihrer Antwort auf die Beschwerdebegründung die Hilfsanträge 1 und 2 ein (siehe Kapitel IX auf Seite 37).
2.4 Die Vorlage des Hilfsantrags 1 ist daher als zeitnahe Reaktion auf die Vorlage des Dokuments D5 anzusehen. Der Antrag ist geeignet, den auf diesem Dokument basierenden Einwand zu adressieren, nicht sonderlich komplex und der Verfahrensökonomie nicht abträglich - er erfüllt also die in Artikel 12(4) VOBK 2020 genannten Kriterien und ist daher zulassungsfähig.
2.5 Entgegen der Argumentation der Beschwerdeführerin hätte die Vorlage nicht gemäß Artikel 12(6) VOBK 2020 schon im Einspruchsverfahren erfolgen müssen, da in diesem Verfahrensstadium noch kein Dokument vorlag, das ein gleichzeitiges Ein- und Ausschalten des jeweiligen Halteunterdrucks offenbarte. Dieses Dokument wurde mit D5 erst im Beschwerdeverfahren von der Beschwerdeführerin vorgelegt.
2.6 Die Kammer übte daher ihr Ermessen nach Artikel 12(4) VOBK 2020 aus und ließ den Hilfsantrag 1 zum Verfahren zu. Im vorliegenden Fall ist die Verfahrensordnung in der Fassung von 2020 maßgeblich, da die Beschwerdebegründung am 4. März 2020, und damit nach dem 1. Januar 2020 eingereicht wurde (Artikel 25(2) VOBK 2020).
Zulassung der Einwände der Beschwerdeführerin (Artikel 12(4) und 13(2) VOBK 2020)
3. Die Beschwerdeführerin argumentierte im schriftlichen Verfahren vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht inhaltlich auf die Vorlage der Hilfsanträge 1 und 2. Erst in der mündlichen Verhandlung machte sie geltend, dass diverse zum Hauptantrag geltend gemachte Mängel auch den Hilfsantrag 1 beträfen und daher unverändert übernommen werden könnten. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Einwände können aber aus den nachfolgend genannten Gründen nicht zum Verfahren zugelassen werden:
4. Die Einsprechende machte zum einen geltend, dass im ursprünglich eingereichten Anspruch 4 das fakultative Merkmal
"Artikel sind jeweils mit Unterdruck an der abgebenden Aufnahmemulde der ersten Fördertrommel beaufschlagt"
nur in Kombination mit dem Merkmal
"die zu übergebenden Artikel verschließen jeweils im Übergabebereich wenigstens eine oder mehrere Ansaugbohrungen der aufnehmenden Aufnahmemulde der zweiten Fördertrommel mit Ausbildung des Formschlusses mit der aufnehmenden Aufnahmemulde"
offenbart worden sei. Der geltende Anspruch 4 des Hauptantrags enthält das vormals fakultative Merkmal jedoch nunmehr von dem weiteren Merkmal unabhängig, was zu einer unzulässigen Generalisierung führe.
Anspruch 4 des Hauptantrags sei zudem wortgleich mit Anspruch 4 des Hilfsantrags 1, so dass dieser Einwand analog auch auf den Hilfsantrag 1 zutreffe.
4.1 Der Hauptantrag wurde im Einspruchsverfahren als seinerzeitiger Hilfsantrag IV innerhalb der Ladungsfrist nach Regel 116(1) EPÜ eingereicht, so dass die Beschwerdeführerin als Einsprechende spätestens in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung diesen Einwand erheben hätte können und müssen. Stattdessen wurde der Einwand erstmalig mit der Beschwerdebegründung zum wortgleichen Anspruch 4 des Hauptantrags vorgebracht.
4.2 Die Kammer übte daher ihr Ermessen nach Artikel 12(4) und (6) VOBK 2020 dahingehend aus, den Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ gegen Anspruch 4 des Hauptantrags nicht zum Verfahren zuzulassen. Entsprechend kann er auch nicht dem Hilfsantrag 1 analog entgegengehalten werden.
5. Hinsichtlich des Hauptantrags hatte die Beschwerde-führerin des weiteren vorgebracht, dass dieser nicht die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfülle, da die Erfindung aus den folgenden Gründen nicht ausführbar sei:
- Zum einen könne der Fachmann die Abweichung des Abstandes der beiden Aufnahmemulden aufgrund einer Fertigungsungenauigkeit nicht unterscheiden von einer geplanten Differenz zwischen dem Abstand und dem Durchmesser der Artikel, da der im Patent genannte Abstand nur "kleiner als der Durchmesser der Artikel" sein müsse. Die Angabe "kleiner" sei zudem ein relativer Begriff, der keine klare Abgrenzung zum Stand der Technik ermögliche, da auch minimale Differenzen zwischen dem Aufnahmemuldenabstand und dem Durchmesser der Artikel schon unter das Merkmal fielen.
- Andererseits sei offen, ob die kreisrunde Form des Artikels vor und/oder nach der Übergabe gegeben sein müsse. In diesem Zusammenhang sei die Rückstellfähigkeit des Artikels (von verformt auf kreisrund zurück) stark abhängig von dessen Dichte und Elastizität, die jedoch beide im Patent nicht spezifiziert werden. Dieser Effekt werde zudem verstärkt dadurch, dass der Überlappungsbereich des Umhüllungspapiers immer eine unrunde Form des Artikels erzeuge.
5.1 Diese Gründe können entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin aber nicht analog auf den Hilfsantrag 1 angewandt werden, da im Hilfsantrag 1 die Differenz zwischen dem Abstand der Aufnahmemulden und dem Durchmesser des Artikels quantifiziert wurde ("um 0,1 mm bis 0,3 mm kleiner"). Der Fachmann erhält daher eine klare Lehre, um wie viel kleiner der Abstand der Aufnahmemulden gegenüber dem Durchmesser des Artikels sein soll und kann diese Größe nun auch von eventuellen Fertigungstoleranzen unterscheiden.
5.2 Die zum Hauptantrag vorgebrachten Argumente unter Artikel 83 EPÜ sind daher nur noch teilweise auf den Hilfsantrag 1 anwendbar, wobei die Kammer keine konkreten Anhaltpunkte hat, welche der Einwände sie weiter zu berücksichtigen hat.
6. Ferner argumentierte die Beschwerdeführerin zum Hauptantrag, dass dieser weder neu sei gegenüber D1, noch gegenüber D2 (Artikel 54 EPÜ). Zudem sei der Hauptantrag nicht erfinderisch gegenüber einer Kombination von D2 mit dem Fachwissen des Fachmanns (Artikel 56 EPÜ).
6.1 In den Hilfsantrag 1 wurde im Vergleich zum Hauptantrag aufgenommen, dass der Abstand der Aufnahmemulden um 0,1 mm bis 0,3 mm kleiner als der Durchmesser der Artikel sein soll.
6.2 Ein neuheitsschädliches Dokument muss daher auch einen konkrete Differenz zwischen dem Abstand der Aufnahmemulden und dem Durchmesser des Artikels offenbaren, die in diesen Wertebereich fällt. Der nunmehr in Anspruch 1 aufgenommene Bereich wurde jedoch von der Beschwerdeführerin in der bisher schriftlich vorgetragenen Argumentation weder diskutiert, noch im Stand der Technik nachgewiesen.
6.3 Daher bedürfte es auch hier eines vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht vorgebrachten Sachvortrags seitens der Beschwerdeführerin.
7. Die gegen den Hauptantrag vorgebrachten Einwände unter Artikel 54, 56 und 83 EPÜ bedürfen daher einer Modifikation im Vorbringen der Beschwerdeführerin, die als Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13(2) VOBK 2020 anzusehen ist. Derartige Änderungen bleiben jedoch grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
7.1 Im vorliegenden Fall machte die Beschwerdegegnerin keine derartigen Umstände geltend und brachte auch keine stichhaltigen Gründe vor.
7.2 Die Kammer ließ die Einwände unter Artikel 54, 56 und 83 EPÜ gegen den Hilfsantrag 1 daher gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zu.
8. Die gegenüber dem Hauptantrag noch unter Artikel 84 EPÜ, sowie unter Artikel 123(2) EPÜ gegenüber dessen Anspruch 1 erhobenen Mängel wurden von der Beschwerdeführerin gegenüber dem Hilfsantrag 1 nicht mehr geltend gemacht.
9. Die Beschreibung wurde von der Beschwerdegegnerin an den Wortlaut der Ansprüche nach Hilfsantrag 1 angepasst. Die Beschwerdeführerin hatte hierzu keine Einwände.
10. Somit liegen keine zu berücksichtigenden Einwände gegen den Hilfsantrag 1 vor.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent auf der Grundlage der folgenden Unterlagen aufrecht zu erhalten:
- Ansprüche 1 bis 3 gemäß Hilfsantrag 1, wie eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung;
- Beschreibungsabsätze:
- 2-8, 10-15, 17, 19-21, 23-50, 53-62 der Patentschrift,
- 1, 9, 18 und 22, wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchs-abteilung am 17. September 2019,
- 7a, 16 und 52, wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 2. Dezember 2022;
- Figuren 1-4b der Patentschrift.