T 1075/02 03-12-2004
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Trägermaterial für medizinische Zwecke
Zulässigkeit der Beschwerde (ja)
Zulässigkeit der Änderungen in Anspruch 1, Haupt- und Hilfsantrag (ursprüngliche Offenbarung und Klarheit) (nein)
I. Auf die am 29. Juli 1996 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 25. August 1995 eingereichte Patentanmeldung Nr. 96 112 202.5 wurde das europäische Patent Nr. 0 761 187 erteilt.
II. Gegen die Patenterteilung legte die Beschwerdegegnerin (Einsprechende), gestützt auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) EPÜ, Einspruch ein und beantragte den Widerruf des Patents.
III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent mit ihrer am 22. August 2002 zur Post gegebenen Entscheidung. Sie kam zu dem Ergebnis, der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 bis 3 sei neu im Sinne des Artikels 54 EPÜ, beruhe jedoch gegenüber dem geltend gemachten Stand der Technik nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
IV. Gegen diese Entscheidung hat sich die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 22. Oktober 2002 beschwert und gleichzeitig die Beschwerdegebühr bezahlt. Mit der am 12. Dezember 2002 eingereichten Beschwerdebegründung hat sie ihren Antrag auf Aufrechterhaltung des europäischen Patents weiterverfolgt, zwei Hilfsanträge eingereicht und hilfsweise eine mündliche Verhandlung beantragt.
V. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 13. Juni 2003, die Beschwerde als unzulässig, jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen.
VI. Die Beschwerdekammer hat in ihrer mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übersandten Mitteilung vom 2. April 2004 die wesentlichen strittigen Punkte nochmals zusammengefaßt.
VII. Am 3. Dezember 2004 fand eine mündliche Verhandlung statt.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der mit Schriftsatz vom 1. November 2004 am 2. November 2004 eingereichten Patentansprüche 1 - 10 (Hauptantrag), hilfsweise auf der Grundlage der Patentansprüche 1 - 9, überreicht in der mündlichen Verhandlung, sowie der Beschreibung (4 Seiten), eingereicht mit Schriftsatz vom 1. November 2004, und den erteilten Figuren 1a - 1d.
Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Trägermaterial für medizinische Zwecke bestehend aus Vlies, Gewebe, Folie, Schaumstoff, Gel oder Maschenware dadurch gekennzeichnet, daß ein Zusatz von hochfesten Fasern oder Fäden auf organischer oder anorganischer Basis mit einer Höchstzugkraft über 60 cN/tex dem Trägermaterial eine Höchstzugkraft über 2 N/cm verleiht und die Fäden und/oder Fasern durch Einweben bei Geweben, durch Einstricken bei Gewirken, durch Einbetten oder Einfügen beim Herstellverfahren von Folien, Gelen, Schaumstoffen oder Vliesen fest in das Trägermaterial eingearbeitet oder eingelassen sind."
Anspruch 1 des Hilfsantrags lautet wie folgt:
"Einschichtiges Trägermaterial für medizinische Zwecke bestehend aus Vlies, Gewebe, Folie, Schaumstoff oder Gel dadurch gekennzeichnet, daß ein Zusatz von hochfesten Fasern oder Fäden auf organischer oder anorganischer Basis mit einer Höchstzugkraft über 60 cN/tex dem Trägermaterial eine Höchstzugkraft über 2 N/cm verleiht und die Fäden und/oder Fasern durch Einweben bei Geweben, durch Einbetten oder Einfügen beim Herstellverfahren von Folien, Gelen, Schaumstoffen oder Vliesen fest in das Trägermaterial eingearbeitet sind."
VIII. Die Beschwerdeführerin trug vor, daß sie, wie in der Beschwerdebegründung dargelegt, gegen den Widerruf des Patentes Beschwerde eingelegt habe mit dem Ziel der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Die Beschwerde erfülle damit die Voraussetzungen der Regeln 64 und 65 EPÜ.
Die vorgenommenen Änderungen stünden mit Artikel 123 (2) EPÜ in Einklang, denn der Begriff "oder eingelassen sind" am Ende des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei gleichbedeutend mit dem Einbetten oder Einfügen beim Herstellverfahren von Folien, Gelen, Schaumstoffen oder Vliesen, wie er bereits in dem erteilten Anspruch 3 und dem ursprünglichen Anspruch 9 verwendet worden sei.
Die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ seien ebenfalls erfüllt. Der Begriff "durch Einstricken bei Gewirken" sei für den Fachmann klar verständlich, da es sich in jedem Fall um Maschenwaren handele. Der Begriff "fest" würde vom Fachmann im Gegensatz zu "lose" interpretiert. Er sei auch im Hinblick auf die Verwendung des Trägermaterials für medizinische Zwecke ausreichend klar, welche eine dem jeweiligen Einsatz entsprechende Festigkeit aufweisen müsse, damit die Verstärkungsfäden sich nicht vom Trägermaterial lösen. Der Begriff "einlassen" sei äquivalent zu "einarbeiten" und würde vom Fachmann auch so verstanden.
Bezüglich des Anspruchs 1 des Hilfsantrags berief sich die Beschwerdeführerin auf die Entscheidung T 523/88, aus der sich ableiten lasse, daß Merkmale, die nur in den Figuren offenbart seien, in einen Anspruch aufgenommen werden könnten. Dies treffe hier zu, da den Figuren 1a - 1d eindeutig ein einschichtiges Trägermaterial zu entnehmen sei. Überdies sei dieser Antrag auch nicht verspätet, da zu Beginn einer mündlichen Verhandlung alle Parteien noch mit der Einschränkung des Schutzbereichs eines Anspruchs rechnen müßten.
IX. Die Beschwerdegegnerin vertrat die Meinung, daß die Beschwerde als unzulässig, jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen sei. Die mit Schreiben vom 21. Oktober 2002 eingelegte Beschwerde sei gemäß Regel 65 (1) in Verbindung mit Regel 64 b) unzulässig, da die Beschwerdeschrift keinen Antrag enthalte, aus dem hervorgehe, in welchem Umfang die Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt werde.
Abgesehen davon sei der vorgelegte Hauptantrag auch formal unzulässig. Insbesondere sei die Formulierung "oder eingelassen sind" am Ende des Anspruchs 1 in dem gewählten Zusammenhang nicht ursprünglich offenbart, so daß er Artikel 123 (2) EPÜ verletze. Des weiteren fehle dieser Formulierung die notwendige Klarheit (Artikel 84 EPÜ). Dies gelte auch für die Begriffe "fest" und "durch Einstricken bei Gewirken". "Fest" sei ein unbestimmter Begriff und definiere nicht, wie fest die Fäden eingebunden sein sollten. Beim Einstricken entstehe ein Gestricke, aber kein Gewirke.
Bezüglich des Hilfsantrags wurde geltend gemacht, er sei verspätet eingereicht und deshalb a priori unzulässig. Ferner verletze Anspruch 1 des Hilfsantrags Artikel 123 (2) EPÜ, weil der Begriff "einschichtig" in Zusammenhang mit dem Trägermaterial in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen nicht offenbart sei. Im übrigen betreffe der Klarheitseinwand gegen den Begriff "fest" auch den Hilfsantrag.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Die Kammer ist in Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA der Meinung, daß Regel 65 (2) und Regel 64 b) EPÜ nicht zu eng ausgelegt werden dürfen. Nach Einlegung der Beschwerde und Bezahlung der Beschwerdegebühr ist zunächst davon auszugehen, daß die Beschwerde sich gegen die Entscheidung über den Widerruf des Europäischen Patents insgesamt richtet. Die Frist von 2 Monaten, die für die Einlegung der Beschwerde gilt, soll daher dazu führen, daß nach dieser Frist erkennbar ist, ob ein weiteres Verfahren anhängig ist. Zur Ausarbeitung einer Beschwerdebegründung reicht die Beschwerdefrist jedoch wegen der Komplexität der Sachverhalte oftmals nicht aus. Deshalb gewährt das EPÜ dem Beschwerdeführer zur Ausarbeitung dieser Begründung durch das EPÜ eine weitere Zeitspanne von 2 Monaten. Erst bei der Ausarbeitung der Begründung kann der Beschwerdeführer jedoch endgültig entscheiden, in welchem Umfang er letztendlich die Entscheidung der Einspruchsabteilung anficht. Wie in der angezogenen Entscheidung (z. B. T 729/90) wurden auch im vorliegenden Fall gemeinsam mit der Beschwerdebegründung Anträge vorgelegt, die die Einwände der ersten Instanz ausräumen sollen. Die Kammer folgt ebenso dem Grundsatz der Entscheidung T 194/90, daß der Umfang der Beschwerde aus dem gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers zu ermitteln ist.
2. Formale Zulässigkeit des Hauptantrags aufgrund der durchgeführten Änderungen
2.1. "Einlassen" (Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 84 EPÜ)
Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags enthält folgendes Merkmal am Ende des kennzeichnenden Teils: "und ... durch Einbetten oder Einfügen beim Herstellverfahren von Folien, Gelen, Schaumstoffen oder Vliesen fest in das Trägermaterial eingearbeitet oder eingelassen sind". Die Beschwerdegegnerin hat geltend gemacht, daß die Formulierung "oder eingelassen sind" in diesem Zusammenhang nicht ursprünglich offenbart und auch nicht von der Beschreibung gestützt oder klar sei und damit sowohl Artikel 123 (2) EPÜ als auch Artikel 84 EPÜ verletzt seien. Der Verweis der Beschwerdeführerin auf den erteilten Anspruch 3 und Paragraph 0016 der Patentschrift sowie Anspruch 9, wie ursprünglich eingereicht, könne diesen Einwand nicht beseitigen.
In der ursprünglich eingereichten Anmeldung, deren Beschreibung identisch mit der erteilten Fassung des Patents ist, läßt sich kein Hinweis auf ein "Einlassen" der Fäden im Zusammenhang mit Einbetten oder Einfügen beim Herstellverfahren von Vliesen, Folien, Schaumstoffen oder Gel finden. Der ursprünglich eingereichte Anspruch 9 beschränkt sich darauf, daß "die Fäden und/oder Fasern in das Trägermaterial eingelassen sind". Er kann deshalb nicht als Grundlage dafür dienen, daß "Einlassen" gleichbedeutend mit "Einbetten" oder "Einfügen" sein soll. Somit ist kein eindeutiger Bezug auf das "Einbetten" bzw. "Einfügen" beim Herstellungsverfahren nur von Vliesen, Folien, Schaumstoffen oder Gel vorhanden, so daß die Merkmalskombination des Anspruchs 1 über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Artikel 123 (2) EPÜ). Der Anspruch 1 ist ferner nicht klar im Sinne von Artikel 84 EPÜ, da die Unterschiede zwischen "Einbetten", "Einfügen" oder "Einlassen" nicht erläutert werden und auch bezüglich der unterschiedlichen Trägermaterialien und deren Herstellungsverfahren weder nähere Einzelheiten noch Ausführungsbeispiele der Erfindung angegeben werden.
2.2. "Einstricken bei Gewirken" (Artikel 84 EPÜ)
Maschenwaren werden unterschieden in Gestricke und Gewirke. Bei Strickwaren werden die Maschen einer Maschenreihe immer nacheinander gebildet. Bei Wirkwaren hingegen können mehrere Schlingen zugleich vorgeformt und dann zu Maschen ausgearbeitet werden. Deshalb ist ein "Einstricken bei Gewirken" technisch nicht möglich und kann daher nicht zum Gegenstand eines Patent- anspruchs gemacht werden. Die von der Beschwerdeführerin genannte Textstelle der Beschreibung in Spalte 2, Zeile 49/50 bietet keine Grundlage für eine derartige Einschränkung des Anspruchs, da aus dieser Textstelle nicht hervorgeht, ob nun ein Einstricken bei Gestricken oder ein Einarbeiten bei Gewirken gemeint ist. Wenn in einem derart späten Verfahrensstadium Textstellen aus der Beschreibung in einen Anspruch aufgenommen werden, ist es erforderlich, daß die daraus hervorgehende Lehre klar und eindeutig ist. Diesem Erfordernis entspricht das Vorbringen der Patentinhaberin nicht.
2.3. "fest in das Trägermaterial eingearbeitet" (Artikel 84 EPÜ)
Eine Basis für diese Änderung findet sich in der Beschreibung, Spalte 2, Zeile 46-47. Auch wenn die Kammer der Meinung der Beschwerdegegnerin folgen kann, daß diese Formulierung eine konkrete Evaluierung nicht ermöglicht, so versteht der Fachmann den Begriff "fest" doch zumindest so, daß es sich nicht um das Gegenteil, nämlich "lose" handeln soll. Dementsprechend interpretiert der Fachmann diesen Begriff "fest" in der Weise, daß bei bestimmungsgemäßer Verwendung das Trägermaterial mit den eingearbeiteten Fasern oder Fäden verbunden bleiben muß. Eine weiterreichende Bedeutung dieses Begriffs kann die Kammer jedoch nicht erkennen. Innerhalb dieser Definition kann der Begriff "fest" aber als klar im Sinne des Artikels 84 EPÜ verstanden werden.
2.4. Zusammenfassend ist festzustellen, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags durch ein Merkmal ("oder eingelassen") so geändert wurde, daß der Gegenstand dieses Anspruchs über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgeht. Der Anspruch verstößt deshalb gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Des weiteren wurde der Gegenstand des Anspruchs 1 durch ein Merkmal ("Einstricken bei Gewirken") in unklarer Art und Weise verändert, so daß dieser Anspruch auch wegen Verletzung des Artikels 84 EPÜ nicht gewährbar ist.
3. Formale Zulässigkeit des Hilfsantrags
3.1. In Anspruch 1 des Hilfsantrags wurden das unklare ("Einstricken bei Gewirken") sowie das nicht von der ursprünglichen Offenbarung gestützte Merkmal ("oder eingelassen") gestrichen, um die genannten formalen Hindernisse zu beseitigen. Als weitere Änderung wurde der Begriff "einschichtig" dem Gegenstand des Anspruchs vorangestellt und als Grundlage dafür auf die Figuren 1a - 1d in den ursprünglichen Unterlagen verwiesen sowie darauf, daß gemäß T 523/88 ein derartiges Vorgehen zulässig sei.
Dem vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Der Beschwerdeführerin ist zuzugeben, daß grundsätzlich auch eine Offenbarung in der Zeichnung berücksichtigt werden kann. Dies ist nach der zitierten Rechtsprechung jedoch nur der Fall, wenn die betreffenden Merkmale unmittelbar, vollständig und eindeutig aus der Zeichnung hervorgehen. Davon kann vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden. Es trifft zwar zu, daß die Figuren 1a - 1d einen Bereich zeigen, der einem Trägermaterial entsprechen könnte. Dieser Bereich ist jedoch nicht bezeichnet oder erläutert oder in seinen Ausgestaltungen als Vlies, Gewebe, Folie, Schaumstoff oder Gel gekennzeichnet. Der in den Figuren 1a - 1d dargestellte, gestrichelte Umriß des Trägermaterials läßt keinen eindeutigen Rückschluß auf den Aufbau einer oder mehrerer derartiger Schichten zu. Auch der Hinweis in der Beschreibung auf die Figuren in Spalte 4, Zeilen 26 - 28 erlaubt nur einen Rückschluß auf die Anordnungsmöglichkeiten der Verstärkungsfäden, nicht jedoch auf die Form oder Anordnung der weiteren Komponenten des beanspruchten Trägermaterials. Eine Definition des Trägermaterials in Bezug auf eine oder mehrere Lagen ist somit den Figuren nicht entnehmbar. Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Hilfsantrag erfüllt daher nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
3.2. Bei dieser Sachlage brauchte nicht näher darauf eingegangen werden, ob ein verspätetes Vorbringen des Hilfsantrags vorliegt und er damit a priori nicht zulässig ist.
4. Nachdem die den beiden vorhandenen Anträgen zugrundeliegenden unabhängigen Ansprüche 1 nicht gewährbar sind, war die Beschwerde zurückzuweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.