T 1785/07 21-10-2008
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Anordnung des Aufzugantriebes
I. Auf die europäische Teilanmeldung Nr. 02005494.6, die aus der früheren Anmeldung Nr. 99112634.3 hervorgegangen ist, wurde das europäische Patent Nr. 1 215 157 erteilt.
II. Gegen das erteilte Patent wurde, gestützt auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) EPÜ, Einspruch eingelegt und der Widerruf des Patents beantragt. Nach Ablauf der Einspruchsfrist wurde als weiterer Einspruchsgrund (Artikel 100 c) EPÜ) eine Verletzung des Artikels 76 (1) EPÜ gerügt.
III. Die Einspruchsabteilung ließ den verspätet vorgebrachten Einspruchsgrund zum Verfahren zu und hielt das Patent mit ihrer am 16. August 2007 zur Post gegebenen Entscheidung in geändertem Umfang aufrecht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Änderungen des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag zulässig waren und dessen Gegenstand die Erfordernisse der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf den entgegengehaltenen Stand der Technik erfüllt.
IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) am 23. Oktober 2007 Beschwerde eingelegt, gleichzeitig die Beschwerdegebühr bezahlt und am 21. Oktober 2007 die Beschwerdebegründung eingereicht.
V. Die Beschwerdekammer hat in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung vom 6. Juni 2008 ihre vorläufige Einschätzung der Sachlage mitgeteilt, wonach der Anspruch 1 des Hauptantrags wegen Verstoßes gegen Artikel 76(1) EPÜ nicht gewährbar sei.
VI. Als Reaktion darauf hat die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) mit Schreiben vom 18. September 2008 weitere Ansprüche als Grundlage für die Hilfsanträge 1-5 eingereicht. Sie hat weiterhin eine Berichtigung der Beschreibung nach Regel 139 EPÜ beantragt.
VII. Mit Schreiben vom 16. Oktober 2008 hat die Beschwerdegegnerin die neuen Hilfsanträge 6 und 7 eingereicht.
VIII. Am 21. Oktober 2008 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt, in der die Beschwerdegegnerin die neuen Hilfsanträge 8 und 9 einreichte.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 215 157.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents auf Basis des Hauptantrags oder eines der Hilfsanträge 1-5, eingereicht mit Schreiben vom 18. September 2008 oder auf der Basis eines der Hilfsanträge 6 oder 7, eingereicht mit Schreiben vom 16. Oktober 2008 oder auf der Basis eines der Hilfsanträge 8 oder 9, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 21. Oktober 2008.
IX. Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag lautet wie folgt:
"1. Seilaufzug mit einer Aufzugkabine zum Aufnehmen von Personen und/oder Gütern, mindestens zwei Führungsschienen (17), entlang der die Aufzugkabine geführt ist, einem Gegengewicht, Tragmitteln (18), welche einerseits die Aufzugkabine und andererseits das Gegengewicht tragen und zum Heben und Senken der Aufzugkabine und des Gegengewichts über eine Treibscheibe (6) geführt sind, mit einem die Treibscheibe (6) antreibenden Aufzugsantrieb (1,2,3,4,5), der Antrieb ist in einem Aufzugsschacht angeordnet, der Aufzugsantrieb (1,2,3,4,5) ist über elastische Zwischenlagen (14) mit den Führungsschienen (17) verbunden, wobei der Antrieb (1,2) an einer Traverse (13) abgestützt ist und die Traverse (13) über elastische Zwischenlagen (14) mit den Führungsschienen (17) verbunden ist, gekennzeichnet durch einen Aufzugsantrieb mit aufrecht auf ein Getriebegehäuse (28) angebautem Motor (1), wobei der Aufzugsantrieb über das Getriebegehäuse (28) an der Traverse (13) abgestützt ist und wobei die Traverse (13) mit den elastischen Zwischenlagen (14) verbunden ist, die von an der der Fahrseite gegenüberliegenden Seite der Führungsschienen (16, 17) angeordneten Elementen (15) getragen werden."
Anspruch 1 des Hilfsantrag 1 definiert zusätzlich, dass der Motor nach oben gerichtet ist.
Zusätzlich hierzu definiert der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2, "dass die Achse des Motors (1) um einen Schrägstellungswinkel (ß) abweichend von der Vertikalen angeordnet ist".
Die Hilfsanträge 3, 4 und 5 entsprechen dem Hauptantrag, beziehungsweise den Hilfsanträgen 1 und 2, mit der Ergänzung, dass die Abstützung der Traverse durch "die Elemente (15)" erfolgt.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 6 enthält alle Merkmale des Anspruchs 1 des Hilfsantrag 2 und zusätzlich folgendes Merkmal:
"jedes Element (15) ist an einer dem Aufzugsantrieb abgewandten Seite der Führungsschiene (17) angeordnet ".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 7 definiert außerdem:
"sodass der Motor (1) um den Schrägstellungswinkel (ß) von der Schachtwand (41) weg geneigt ist".
Anspruch 1 des Hilfsantrags 8 lautet wie folgt:
"1. Seilaufzug mit einer Aufzugskabine zum Aufnehmen von Personen und/oder Gütern, zwei Führungsschienen (17), entlang der die Aufzugskabine geführt ist, einem Gegengewicht, das an zwei Führungsschienen (16) geführt ist, Tragmitteln (18), welche einerseits die Aufzugskabine und andererseits das Gegengewicht tragen und zum Heben und Senken der Aufzugskabine und des Gegengewichtes über eine Treibscheibe (6) geführt sind, mit einem die Treibscheibe (6) antreibenden Aufzugsantrieb (1,2,3,4,5), der Antrieb ist in einem Aufzugsschacht angeordnet, der Aufzugsantrieb (1,2,3,4,5) ist über elastische Zwischenlagen (14) mit den Führungsschienen (16, 17) verbunden ist, wobei der Antrieb (1,2) an einer Traverse (13) abgestützt ist und die Traverse (13) über elastische Zwischenlagen (14) mit den Führungsschienen (16, 17) verbunden ist, gekennzeichnet durch einen Aufzugsantrieb mit aufrecht auf ein Getriebegehäuse (28) angebautem und nach oben gerichtetem Motor (1), wobei die Achse des Motors (1) um einen Schrägstellungswinkel (ß) abweichend von der Vertikalen angeordnet ist und der Aufzugsantrieb über das Getriebegehäuse (28) an der Traverse abgestützt ist und wobei die Traverse (13) mit den elastischen Zwischenlagen (14) verbunden ist, die von der der Fahrseite gegenüberliegenden Seite der Kabinenführungsschienen (17) und den Gegengewichtsführungen (16) getragen werden, wobei die Kabinenführungsschienen (17) über den Aufzugsantrieb hinausragen."
Anspruch 1 des Hilfsantrags 9 enthält als zusätzliches Merkmal die Abstützung der Traverse durch "Elemente (15)".
X. Die Beschwerdeführerin argumentierte, die vorgenommenen Änderungen gemäß den Haupt- und Hilfsanträgen seien nicht zulässig, da nun anderer Gegenstand beansprucht werde als derjenige, der in der früheren Anmeldung offenbart werde.
XI. Die Beschwerdegegnerin hat im wesentlichen folgendes vorgetragen:
Erfindungswesentlich sei, dass die Aufzugskabine an der Traverse und an deren Führungsschienenabstützung vorbeifahren könne. Mit der erfindungsgemäßen Anordnung der Traverse könne der Raum im Schachtkopf optimal genutzt werden. Ob dabei der Motor nach oben gerichtet oder abweichend von der Vertikalen oder liegend angeordnet sei, sei unbedeutend für die Vorbeifahrt der Aufzugskabine. Darüber hinaus seien in dem unabhängigen Anspruch 1 gemäß den Haupt- und Hilfsanträgen die Merkmale der spezifische Anordnung der Verbindung zwischen Traverse und Führungsschienen definiert, die in dem Ausführungsbeispiel der früheren Anmeldung in Kombination miteinander offenbart seien. Somit seien die Erfordernisses des Artikels 76(1) EPÜ erfüllt.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hauptantrag und Hilfsanträge 1, 3 und 4
2.1 Wie die Kammer bereits ausführlich in ihrer Mitteilung vom 6. Juni 2008 ausgeführt hat, stellt das Weglassen der Merkmale des Anspruchs 1 der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, wonach der Motor des Aufzugsantriebes nach oben gerichtet ist und die Vertikalachse des Aufzugsantriebes um einen Winkel abweichend von der Vertikalen angeordnet ist, einen Verstoß gegen Artikel 76(1) EPÜ dar.
Ein in einem unabhängigen Anspruch enthaltenes Merkmal stellt in der Regel ein wesentliches Merkmal der Erfindung dar (vgl. Regel 43(3) EPÜ), dessen Weglassen nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes einen Verstoß gegen Artikel 76(1) EPÜ darstellt (siehe z.B. T 58/86, T 1080/96 und T 331/87). Es stellt sich die Frage, ob in den restlichen Unterlagen der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Basis für diese Änderung vorhanden ist.
2.2 Die Einspruchsabteilung hat zwar ausgeführt (siehe Punkt 2.1 der angefochtenen Entscheidung), dass der Fachmann ohne weiteres erkenne, dass die spezifischen Abstützungsmaßnahmen, die die Grundlage des Anspruchs 1 bilden, unabhängig von der Neigung des Aufzugsantriebs sind.
Bei der Prüfung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, geht es jedoch nicht darum, ob der Fachmann aufgrund eigener Überlegungen erkennen konnte, dass die spezifischen Abstützungsmaßnahmen unabhängig von der Neigung des Aufzugsantriebs sind, sondern darum, ob der Fachmann dies der ursprünglichen Offenbarung unmittelbar und zweifelsfrei als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnimmt. Dies ist hier nicht der Fall. Aus der ursprünglichen Offenbarung ist lediglich zu entnehmen, dass die spezifischen Abstützungsmaßnahmen die Traverse mit den elastischen Zwischenlagen umfassen, die auf die spezielle Anordnung des Aufzugsantrieb (Motor nach oben gerichtet und mit einem Schrägstellungswinkel ß angeordnet) abgestimmt sind. In der früheren Anmeldung werden die spezifischen Abstützungsmaßnahmen nur als Merkmale der einzigen Ausführungsform der Erfindung offenbart. Aus dieser Ausführungsform ist erkennbar, dass diese Merkmale in funktioneller Verbindung mit der Neigung des Aufzugsantriebs sowie der Aufrichtung des Motors nach oben stehen. Insbesondere wird durch die Befestigung der Traverse sowohl an den Kabinenführungsschienen, als auch an den Gegengewichtsführungsschienen eine zur geringen seitlichen Ausdehnung des Aufzugsantriebs passende Abstützung geschaffen; siehe auch Abs. [0008] der früheren Anmeldung).
2.3 Ferner hat die Beschwerdegegnerin ausgeführt, dass es für die Teilanmeldung erfindungswesentlich sei, dass die Aufzugskabine an der Traverse und an deren Führungsschienenabstützung vorbeifahren könne. Hierzu sei unbedeutend, ob der Motor nach oben gerichtet oder abweichend von der Vertikalen oder liegend angeordnet sei.
Da jedoch die Anordnung der Traverse, wie oben ausgeführt, in funktioneller Verbindung mit der Neigung des Aufzugsantriebs sowie der Ausrichtung des Motors dargestellt wird, ist es für den Fachmann aus den ursprünglich eingereichten Unterlagen der früheren Anmeldung nicht erkennbar, dass die Anordnung der Traverse eine eigenständige Erfindung darstellen könnte.
2.4 Somit geht der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Der Hauptantrag ist daher wegen Verstoßes gegen Artikel 76(1) EPÜ nicht gewährbar. Das gleiche gilt entsprechend für den jeweiligen Anspruch 1 gemäß den Hilfsanträgen 1, 3 und 4, weil auch diese Ansprüche zumindest das Merkmal nicht enthalten, wonach die Vertikalachse des Aufzugsantriebes um einen Winkel abweichend von der Vertikalen angeordnet ist.
3. Hilfsanträge 2, 5, 6 und 7
3.1 Der jeweilige Anspruch 1 der Hilfsanträge 2, 5, 6, und 7 enthält die Merkmale, wonach der Motor des Aufzugsantriebes nach oben gerichtet ist und die Vertikalachse des Aufzugsantriebes um einen Winkel abweichend von der Vertikalen angeordnet ist.
Diese Ansprüche enthalten aber zusätzlich das Merkmal, dass die elastischen Zwischenlagen von "Elementen (15)" getragen werden.
3.2 Die Beschwerdegegnerin hat eingeräumt, dass "Elemente 15" in der Beschreibung nicht erwähnt sind. Diese seien jedoch den Figuren zu entnehmen.
Wie die Kammer in der mündlichen Verhandlung angemerkt hat, sind mit dem Bezugszeichen 15 in den Figuren 1, 3 und 4 spezifische Abstützungselemente für die Traverse gezeigt, welche horizontale Auflageflächen für die elastischen Zwischenlagen 14 aufweisen und über vertikalen Flächen sowohl mit den Kabinenführungsschienen 17 als auch mit den Gegengewichtsführungsschienen 16 verbunden sind (siehe auch Spalte 3, Zeilen 25-27 der Veröffentlichung der früheren Anmeldung). Da es sich dabei um spezifische Abstützungselemente handelt, die in einer bestimmten Art und Weise im Aufzugsgehäuse befestigt sind, stellen die Figuren 1, 3 und 4 keine Basis für das allgemein formulierte Merkmal des Anspruchs 1 dar, dass die elastischen Zwischenlagen von Elementen (15) getragen werden.
3.3 Somit ist auch der jeweilige Anspruch 1 gemäß den Hilfsanträgen 2, 5, 6 und 7 wegen Verstoßes gegen Artikel 76(1) EPÜ nicht gewährbar.
4. Hilfsanträge 8 und 9
4.1 Nach Artikel 13 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt. Da die geänderten Anträge erst zum fast spätest denkbaren Zeitpunkt, nämlich im Lauf der Verhandlung vor der Beschwerdekammer vorgelegt wurden, übt die Kammer ihr Ermessen aus Gründen der Verfahrensökonomie regelmäßig dahingehend aus, dass sie so späte Anträge nur zum Verfahren zulässt, wenn sie prima facie gewährbar erscheinen. Das bedeutet zunächst, dass sie zumindest zweifelsfrei die formalen Voraussetzungen erfüllen müssen.
4.2 Der jeweilige Anspruch 1 gemäß den Hilfsanträgen 8 und 9 definiert zwar, dass die elastischen Zwischenlagen (14) von den Kabinenführungsschienen (17) und den Gegengewichtsführungsschienen (16) getragen werden. Sie enthalten jedoch weder Angaben zur spezifischen Anordnung der Zwischenlagen, noch zu den spezifischen Mitteln zu deren Aufnahme, die in den Figuren der einzigen Ausführungsform gezeigt sind (in den Figuren 1 und 4 sind zwei Konsolen mit horizontaler Auflagefläche, sowie zwei elastische Zwischenlagen pro Auflagefläche gezeigt). Daher stellen die Änderungen des Anspruchs 1 gemäß den Hilfsanträgen 8 und 9 prima facie eine unzulässige Verallgemeinerung (Art. 76(1) und 123(2) EPÜ) von spezifischen Merkmalen einer Ausführungsform dar.
4.3 Demzufolge werden die verspätet vorgelegten Hilfsanträge 8 und 9 nicht zum Verfahren zugelassen (Artikel 13 (1) VOBK).
5. Da die unabhängigen Ansprüche aller vorliegenden Anträge wegen Verstoßes gegen Artikel 76(1) EPÜ nicht gewährbar sind, muss das Streitpatent widerrufen werden. Bei dieser Sachlage ist es nicht nötig, auf den Antrag der Beschwerdegegnerin auf Berichtigung der Beschreibung einzugehen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das europäische Patent wird widerrufen.