T 1147/08 (Ophthalmologische Anwendung von Panthenol und Hyaluronat/URSAPHARM) 28-02-2012
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Pharmazeutische Zusammensetzung zur ophthalmologischen und rhinologischen Anwendung
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die am 14. April 2008 zugestellte Entscheidung der Einspruchabteilung das europäische Patent EP 1 455 803, eingereicht als internationale Patentanmeldung mit der Nummer WO 03/049747, auf Grundlage von Artikel 101(2) und 101(3)(b) EPÜ wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit zu widerrufen.
Der Einspruch wurde am 16. November 2006 zurückgenommen, jedoch wurde das Einspruchsverfahren von Amts wegen fortgesetzt.
II. Anspruch 1 wie erteilt hatte den folgenden Wortlaut
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
III. Folgende Dokumente wurden unter anderem zitiert:
D4 T.M. Radda, Spektrum Augenheilkd., 3/4, S. 174-176, 1989
D5 J. Horwarth, Spektrum Augenheilkd., 9/5, S. 215-217, 1995
D6 T. Hamano, Jpn. J. Ophthalmol., 40, S. 62-65, 1996
D7 Göbbels, Klin. Monatsbl. Augenheilkd., 209, S. 84-88, 1996
D19 G. Rieger, Graefe's Arch. Clin. Exp. Ophthalmol., 239, S. 222-226, 2001
IV. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der im erteilten Patent beanspruchte Gegenstand neu sei. Die Einspruchsabteilung äußerte sich jedoch nicht in Bezug auf Dokument D19 (siehe Kommentar in ersten Absatz der "Entscheidungsgründe" der Entscheidung der Einspruchsabteilung).
Jedoch befand die Einspruchsabteilung, dass der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ erfülle. Die Einspruchsabteilung war der Meinung, dass Dokument D4 für die ophthalmologische Indikation den nächstliegenden Stand der Technik darstelle. Im Lichte von Dokument D4 definierte die Einspruchsabteilung die Aufgabe als "ein wirksameres Mittel zur Behandlung des "trockenen Auges" zu finden". Desweiteren war die Einspruchsabteilung der Meinung, dass für den Fachmann nahegelegt sei, Dokument D7 zur Lösung der Aufgabe einzubeziehen. Die Einspruchsabteilung bestritt, dass die seitens der Patentinhaberin eingereichten Versuchsergebnisse über die Verhinderung der Augenirritationen einen synergistischen Effekt der Kombination Dexpanthenol und Hyaluronat belegen würden. Somit beschloss die Einspruchsabteilung, dass die bloße Kombination der Wirkstoffe vom Stand der Technik nahegelegt wäre.
In Bezug auf die mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2007 eingereichten Hilfsanträge I bis III befand die Einspruchsabteilung, dass der Gegenstand des jeweiligen Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
V. Der Beschwerdeführerin hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und Gründe vorgetragen.
VI. Sowohl im Einspruchsverfahren als auch im Beschwerdeverfahren wurden Einwendungen von Dritten gemäß Artikel 115 EPÜ eingereicht. Dokument D19 wurde mit den Einwendungen von Dritten eingereicht.
VII. Die Beschwerdeführerin reichte desweiteren als Anlage zum Schriftsatz vom 4. März 2009 eine Erklärung von Prof. Dr. Schrage mit Datum vom 24. Januar 2009 und eine Erklärung von Prof. Kruse mit Datum vom 19. Januar 2009, beide mit Versuchsergebnissen ein.
VIII. Der Beschwerdeführerin reichte darüber hinaus mit Schriftsatz vom 6. August 2009 eine weitere Erwiderung auf die Eingaben Dritter ein.
IX. Die Kammer erließ am 29. September 2011 eine Mitteilung unter Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung.
In dieser Mitteilung äußerte die Kammer eine vorläufige Meinung über die geltenden Anspruchssätze. Insbesondere erinnerte die Kammer daran, dass der Anspruch 1 der erteilten Fassung sowohl eine ophthalmologische als auch eine rhinologische Indikation umfasse, die getrennt zu bewerten wären. In Bezug auf die erfinderische Tätigkeit wies die Kammer auf die Dokumente D4, D5, D6, und D7 hin.
X. Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2012 reichte die Beschwerdeführerin einen geänderten Hauptantrag, sowie zwei Hilfsanträge (Hilfsantrag I und Hilfsantrag II), ein. Ferner reichte sie die Versuchsergebnisse von Prof. Dr. Schrage mit Datum vom 24. Januar 2009 als Farbkopien ein.
Anspruch 1 des Hauptantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 der erteilten Fassung dadurch, dass "und/oder rhinologischer" gestrichen worden ist. Ferner wurden Ansprüche 11 und 12 gestrichen.
XI. Die Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Versuchsergebnisse, die mit dem Gutachten von Prof. Dr. Schrage mit Schriftsatz vom 4. März 2009 eingereicht worden sind, wurden erneut als Farbkopie mit Schriftsatz vom 7. Februar 2012 eingereicht. Insbesondere wurde auf die Bewertung der Versuche hingewiesen, die unter dem Absatz "Morphological appearance" steht (Seite 24) und auf die Zusammensetzung auf Seite 25 und folgende. Die graphischen Darstellungen auf Seiten 24 und 25 wurden in Detail erklärt.
Des weiteren wurde auch folgendes vorgetragen. Die Hornhautverletzungen sind sehr schmerzvoll und stellen eines der häufigsten Probleme bei ophthalmologischen Fehlfunktionen dar. Es ist klinisch relevant, wie schnell die Heilung der Hornhaut eintritt, entscheidend sind hierbei die Versuchsergebnisse in der Zeitperiode von 19 bis 31 Stunden. Die Versuchsergebnisse belegen eine deutliche Verbesserung in der Heilungskinetik. Selbstverständlich enthalten die Versuche manche Ausreißer, die jedoch im Lichte der inhärente Natur der Beobachtungen mit Fluorescein bei ex vivo Hornhaut-Modellen mit biologischem Material zu verstehen sind. Es ist auch zu betonen, dass bei der Heilung der Hornhautverletzungen Parameter, die mit Zellproliferation (Zellteilung und Zellhaftung) verbunden sind, für das Schließen des Defekts an der Hornhaut eine wichtige Rolle spielen.
Die unterste Kurve der Graphik auf Seite 25 zeigt eindeutig eine Verbesserung der Heilungskinetik, die die Kombination Hyaluronat und Dexpanthenol verursacht. Diese Experimente belegen eine unerwartete Wirkung für die Kombination der Wirkstoffe des Anspruchs 1, weil sie nicht nur eine Verbesserung in Bezug auf die Heilungskinetik mit Hyaluronat zeigen, sondern auch in Bezug auf die langsamere Heilung, die mit Dexpanthenol eintritt. Die Erosionen schließen sich nicht mit Dexpanthenol allein bis Ende des Experiments.
Die Verbesserung der Heilungskinetik ist klinisch sehr relevant, weil die Patienten früher von Schmerzen befreit sind. Das Produkt hat sich auch in der Praxis bewährt. Dieser technische Effekt ist nicht aus dem Stand der Technik ableitbar.
Dokument D7 sollte als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden, weil es die Wirkung von Dexpanthenol bei der Wundheilung in der Therapie zur Behandlung Trockener Augen beschreibt. Die zu lösende Aufgabe besteht in der Verbesserung der Heilungskinetik. Diese Aufgabe wird auch in Absatz [0029] des Patents reflektiert. Die Lösung gemäß Anspruch 1 lässt sich nicht aus dem Stand der Technik ableiten.
XII. Der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Form auf der Basis des mit Schriftsatz vom 7. Februar 2012 eingereichten Hauptantrags oder auf Basis eines der mit demselben Schriftsatz eingereichten Hilfsanträge I oder II aufrechtzuerhalten.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Die mit dem Schriftsatz vom 7. Februar 2012 eingereichten Anträge werden im Beschwerdeverfahren zugelassen, da sie eine direkte und einfache Antwort (bloße Streichung der rhinologischen Indikation) auf die Mitteilung der Kammer unter Artikel 15(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern darstellen.
3. Hauptantrag
3.1 Der geänderte Anspruch 1 erfüllt die Erfordernisse des Artikels 123 EPÜ, da es sich von dem erteilten Anspruch 1 nur in der Streichung der rhinologischem Indikation unterscheidet.
3.2 Anspruch 1 des Hauptantrags ist in der schweizerischen Anspruchsform gemäß G 001/83, Amtsblatt EPA, S. 60, 1985, gefasst. Anspruch 1 bezieht sich auf die medizinische Indikation von Panthenol und/oder Pantothensäure und Hyaluronsäure und/oder Hyaluronat zur Behandlung ophthalmologischer Fehlfunktionen.
Zum weiteren Verständnis soll daran erinnert werden, dass Dexpanthenol die D-Form von Panthenol ist, und dass Panthenol das Alkoholderivat der Pantothensäure ist. Es ist auch grundsätzlich bekannt, dass Dexpanthenol sich bei der Anwendung in vivo in Pantothensäure umwandeln kann (siehe unter anderen Dokument D7).
Daher umfasst Anspruch 1 hauptsächlich die Verwendung der Kombination von zwei Wirkstoffen, nämlich Hyaluronsäure (das aber auch als Hyaluronat vorliegen kann) und Panthenol (der aber auch in der Form von Pantothensäure vorliegen kann) zur medizinischen Indikation der Behandlung ophthalmologischer Fehlfunktionen.
Dokument D19 befasst sich mit der anti-oxidativen Wirkung verschiedener künstlicher Tränenflüssigkeiten. Dokument D19 beschreibt jedoch nicht die Verwendung der Kombination von Hyaluronat und Dexpanthenol zum anti-oxidativen Schutz des Auges. Hyaluronat wird in Dokument D19 auf die Augen aufgetragen, um als Modell für die Messung der oxidativen Wirkung von Ozon oder UV-Strahlung zu dienen (siehe Seite 223, linke Spalte). Augentropfen beinhaltend unter anderem Pantothensäure (als Calcium Salz) oder Dexpanthenol werden in Dokument D19 verwendet (siehe unter anderem Seite 223, linke Spalte), um die Schutzfunktion der künstlichen Tränenflüssigkeit zu untersuchen. Bei den in Dokument D19 beschriebenen Versuchen wird die Viskosität, die durch Auftragung von Hyaluronat erzielt wird, vor und nach dem oxidativen Angriff gemessen (siehe Diagrame 1 bis 4 und "Results"). Die Senkung der Viskosität deutet auf die Zerstörung von Hyaluronat und hierdurch wird die Funktion der künstlichen Tränenflüssigkeit gemessen. Die in Dokument D19 beschriebenen Experimente befassen sich nicht mit der Verwendung von Hyaluronat als Wirkstoff zum Schutz oder zur Heilung der Hornhaut.
Deswegen ist der Gegenstand von Anspruch 1 neu gegenüber Dokument D19.
Die Einspruchsabteilung hatte die Neuheit eines breiteren Anspruchs 1 (d.h. Anspruch 1 wie erteilt) gegenüber allen anderen im Verfahren befindlichen Dokumente anerkannt, die Kammer sieht kein Grund dieser Entscheidung nicht zu folgen.
Somit erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse der Artikel 52(2) und 54 EPÜ.
3.3 Dokument D7 stellt den nächstliegenden Stand der Technik dar. Dokument D7 beschreibt die Verwendung von Dexpanthenol als Wirkstoff mit epithelialisierungsfördernden Eigenschaften zur Heilung von geschädigter Hornhaut am Hornhaut geschädigten trockenen Auge (Sicca-Symtomatik) (siehe Seite 84, rechte Spalte, Seite 85, linke Spalte, Seite 86, linke Spalte, Seite 87, linke Spalte, Ende ersten Absatz). Dokument D7 beschreibt desweiteren, dass die "statistisch signifikant bessere Integrität des Hornhautepithels nach sechswöchiger Behandlung mit einem dexpanthenolhaltigen Benetzungsmittel" klinisch relevant sei (siehe rechte Spalte, vierter vollständiger Absatz).
Demgegenüber kann die Aufgabe in einer Verbesserung der Heilungskinetik angesehen werden.
Mit Bezug auf die Versuchsergebnisse, die als Schwarzweiß-Kopie als Anlage der Erklärung mit Datum 24. Januar 2009 von Prof. Dr. Schrage (eingereicht mit dem Schriftsatz vom 4. März 2009) und erneut als Farbkopie mit Schriftsatz von 7. Februar 2012 (gekennzeichnet als "non-scannable object" in der elektronischen Akte) eingereicht wurden, ist die gestellte Aufgabe glaubhaft gelöst. Insbesondere wird hingewiesen auf die Graphik auf Seite 25, wo die gesamten Gruppen der Experimente aufgezeigt werden, und auf die unterste Kurve, die die beschleunigte Wirkung der Kombination Dexpanthenol und Hyaluronat nachweist.
Zusätzlich sollte auch erwähnt werden, dass die Überprüfung der erfinderischen Tätigkeit nicht von Anzahl und Form der Beweismittel abhängig ist. Das EPÜ enthält keine Vorschriften darüber, wie das Ergebnis einer Beweisaufnahme zu bewerten ist. Es gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 6. Auflage 2010, VI.H.4). Das Organ, das die Entscheidung zu treffen hat, entscheidet daher aufgrund des gesamten Inhalts der Beweisaufnahme und des Verfahrens nach freien, an keine gesetzlichen Bewertungsregeln (z.B. die geltende Regel für das Zulassungsverfahren vor der Arzneimittel-zulassungsbehörde) gebundene Überzeugung, ob eine Tatsache vorliegt oder nicht.
Die Kammer ist im vorliegenden Fall überzeugt, dass die Wirkung der in Anspruch 1 angegebenen Wirkstoffkombination aufgrund der eingereichten Versuchsergebnisse glaubhaft gezeigt worden ist.
Die Lösung der gestellten Aufgabe liegt in der Kombinationswirkung von Dexpanthenol (und/oder Pantothensäure) und Hyaluronat (und/oder Hyaluronsäure).
Keines der zitierten Dokumente, insbesondere D4 (Verminderung der Beschwerden beim Keratokonjunktivitis sicca), D5 (zweimonatliche Verwendung von Hyaluronat-Augentropfen auf trockene Augen), D6 (Erhöhung der Tränenfilmstabilität), die sich mit der Wirkung von Hyaluronat-Augentropfen (ohne Panthenol) befassen, weist auf eine Verbesserung der Heilungskinetik der Hornhaut hin.
Daher lässt sich die Lösung der gestellten Aufgabe nicht aus dem Stand der Technik ableiten.
Im Lichte der vorhergehenden Analyse erfüllt der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ. Die Ansprüche 2-10 sind abhängige Ansprüche, sie sind somit mit dergleichen Begründung wie für Anspruch 1 gewährbar.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Maßgabe, das Patent auf der Grundlage des Hauptantrags, eingereicht mit Schriftsatz vom 7. Februar 2012, und einer anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.