T 0036/14 (Aerosolarme Partialkondensation/MESSER) 03-06-2016
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Verfahren und Vorrichtung zur aerosolarmen Partialkondensation
AIR LIQUIDE Forschung und Entwicklung GmbH
L'AIR LIQUIDE, SOCIETE ANONYME POUR L'ETUDE ET
L'EXPLOITATION DES PROCEDES GEORGES CLAUDE
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - Hilfsantrag (nein)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1602401 in geändertem Umfang.
II. Anspruch 1 des Streitpatents in seiner erteilten Fassung lautet wie folgt:
"1. Verfahren zur Reinigung von Gasen, bei dem ein mit einem Stoff beladener Gastrom zwecks Kondensation und/oder Ausfrieren einem ersten Wärmetauscher (2) zugeführt und mit einem Kühlmedium in thermischen Kontakt gebracht wird und anschließend das gereinigte Gas einem zweiten Wärmetauscher (3) zugeführt und mit einem Kühlmedium in thermischen Kontakt gebracht wird, dadurch gekennzeichnet, dass das Kühlmedium vor seiner Zuführung an den ersten Wärmetauscher (2) beheizt wird und der gereinigte Gasstrom aus dem zweiten Wärmetauscher (3) im ersten Wärmetauscher (2) in thermischen Kontakt mit dem zu reinigenden Gasstrom gebracht wird."
III. In der angefochtenen Entscheidung kam die Einspruchsabteilung inter alia zu dem Schluss, dass der Gegenstand dieses Anspruchs 1 (erteilte Fassung; damaliger Hauptantrag) im Hinblick auf die Offenbarung der Entgegenhaltung
D10: EP 0 988 879 A1
nicht neu sei, dass aber die Ansprüche des damals vorliegenden Hilfsantrags den Erfordernissen des EPÜ genügten.
IV. In ihrer Beschwerdebegründung verteidigte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) das Patent in seiner erteilten Fassung (Hauptantrag), wobei sie unter anderem geltend machte, dass der Gegenstand der erteilten Ansprüche auch im Hinblick auf D10 neu sei.
Zusätzlich reichte sie aber einen geänderten Anspruchssatz als Hilfsantrag ein. Anspruch 1 des Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruchs 1 des Hauptantrags nur durch das am Ende des Anspruchs hinzugefügte Merkmal
"und dass der gereinigte Gasstrom nach seiner Ausleitung aus dem zweiten Wärmetauscher (3), jedoch vor seiner Zuführung zum ersten Wärmetauscher (2) beheizt wird".
V. In ihrem Antwortschreiben machte die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende 2) inter alia mangelnde Neuheit (Anspruch 1; beide Anträge) im Hinblick auf D10 geltend.
VI. Seitens der Beschwerdegegnerin I (Einsprechende 1) wurden keine den Sachverhalt betreffenden Eingaben gemacht. Mit Eingabe vom 6. April 2016 kündigte sie lediglich an, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
VII. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 3. Juni 2016 in Abwesenheit der Beschwerdegegnerin I statt. Kontrovers erörtert wurden insbesondere die zutreffende Auslegung von Anspruch 1 (beide Anträge) und die Neuheit (beide Anträge, jeweils Anspruch 1) im Hinblick auf die Entgegenhaltung D10.
VIII. Anträge
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Streitpatents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), hilfsweise auf Grundlage der Ansprüche gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag.
Die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende 2) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
Seitens der Beschwerdegegnerin I (Einsprechende 1) wurden keine Anträge gestellt.
IX. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Anspruch 1 (beide Anträge) - Auslegung
- Gemäß dem Wortlaut der vorliegenden Ansprüche 1 werde sowohl ein Kühlmedium als auch der gereinigte Gasstrom zur Kühlung eines mit einem Stoff beladenen Gasstroms verwendet.
- Dies sei ein wesentlicher Unterschied der beanspruchten Erfindung im Vergleich zur Offenbarung der D10, laut welcher ausschließlich der gereinigten Gasstrom zur Kühlung verwendet werde.
- Mit der Ausgestaltung gemäß Figur 4 des Streitpatents sei es zwar möglich, dass der Rohgasstrom nur mit dem gereinigten Gasstrom in Wärmetausch-Kontakt gebracht werde, jedoch sei ein (anderes) Kühlmedium zumindest indirekt an der Kühlung beteiligt.
Anspruch 1 (beide Anträge) - Neuheit gegenüber D10
- Die Kühlung durch zwei Ströme stelle die Neuheit des beanspruchten Verfahrens gegenüber D10 her.
- Das Verfahren nach Anspruch 1 des Hilfsantrags weise als weiteres Unterscheidungsmerkmal noch zusätzliche Details zum Beheizungsschritt auf.
- Die Gegenstände der Ansprüche beider Anträge seien demnach neu.
Die entsprechenden Gegenargumente der Beschwerde-gegnerin II können wie folgt zusammengefasst werden:
Anspruch 1 (beide Anträge) - Auslegung
- Die Ansprüche 1 beider Anträge gäben keinen Hinweis darauf, dass Kühlmedium und gereinigter Gasstrom notwendigerweise unterschiedliche Gasströme zu sein hätten.
- Aufgrund ihres Wortlauts umfassten die Ansprüche durchaus auch Verfahren, bei denen im ersten Wärmetauscher nur der gereinigte Gasstrom zur Kühlung des ungereinigten Gasstroms verwendet werde.
- Der laut Anspruch 1 des Hilfsantrags präziser definierte Beheizungsschritt ändere daran nichts.
Anspruch 1 (beide Anträge) - Neuheit gegenüber D10
- Das in D10 beschriebene Verfahren, insbesondere die in der Figur beschriebene Ausführungsform, weise - unter Zugrundelegung der korrekten Auslegung der Ansprüche - alle Merkmale der beanspruchten Verfahren auf und sei daher für den Gegenstand der Ansprüche 1 beider Anträge neuheitsschädlich.
Hauptantrag
1. Anspruch 1 - Auslegung
1.1 In Anspruch 1 ist von folgenden Stoffströmen die Rede:
a) "zu reinigender", mit einem Stoff "beladener Gasstrom",
b) "Kühlmedium" und
c) "gereinigter Gasstrom".
1.2 Aus dem Wortlaut des Anspruchs ist für den Fachmann unzweifelhaft ersichtlich, dass es sich bei dem "gereinigten Gasstrom" c) um den Gasstrom handelt, der sich aus dem Gastrom a) ergibt, nachdem letzterer durch thermischen Kontakt mit Kühlmedium in den Wärmetauschern durch Kondensation und/oder Ausfrieren gereinigt wurde.
1.3 Anspruch 1 bezieht sich im Zusammenhang mit den beiden Wärmetauschstufen auf ein "Kühlmedium" im Allgemeinen, ohne dessen Natur oder Ursprung näher zu definieren.
1.3.1 Nach dem Dafürhalten der Kammer umfasst der Begriff "Kühlmedium" daher zwar unter anderem Flüssig-Stickstoff-Ströme, wie sie auch laut Streitpatent eingesetzt werden (siehe Figuren 1 bis 4 sowie die entsprechenden Beschreibungspassagen), schließt aber keineswegs andere technisch sinnvolle Varianten aus, wie etwa die Verwendung eines beliebigen anderen Stoffstroms als "Kühlmedium", insbesondere den Einsatz des gekühlten Reingasstroms als "Kühlmittel" im ersten Wärmetauscher. Letztere ist in der Ausführungsform gemäß Figur 4 (siehe Wärmetauscher 2) des Streitpatents der Fall.
1.3.2 Für die Kammer impliziert der Anspruchswortlaut allerdings nicht zwingend, dass ein derart als Kühlmittel fungierender Reingasstrom nach seinem Austritt aus dem zweiten Wärmetauscher durch ein zusätzliches (anderes) Kühlmedium gekühlt werden muss. Daher ist das Argument der Beschwerdeführerin, wonach im Kontext von Anspruch 1 der gereinigte Gasstrom nicht das alleinige Kühlmedium sein könne, da immer auch zusätzlich ein (anderes) Kühlmedium anwesend sein müsse, für die Kammer nicht überzeugend.
1.4 Da sich für die Kammer aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 keine Unklarheiten ergeben - auch von den Beschwerdegegnerinnen wurden keine entsprechenden Einwände erhoben - ist im vorliegenden Fall ein Heranziehen der Beschreibung zur Auslegung des Anspruchs nicht angebracht, ganz zu schweigen von einer einschränkenden Auslegung (siehe etwa T 0175/98 vom 20. Oktober 2000, Gründe 1.1 et seq.) .
1.5 Lediglich der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die obige Auslegung von Anspruch 1 keineswegs im Widerspruch zum Inhalt der Beschreibung des Streitpatents steht.
1.5.1 So wird einerseits das gereinigte Prozessgas, d.h. der Reingasstrom, selbst als "Kühlmittel" bezeichnet (Spalte 10, Zeilen 16), und andererseits werden die Begriffe "Kühlmittel" und "Kühlmedium" austauschbar verwendet (z.B. in Spalte 7, Zeilen 5 bis 7).
1.5.2 Zudem schließt auch die Angabe (Absatz [0013] des Streitpatents; Hervorhebung durch die Kammer)
"[h]ierdurch erfolgt die Kühlung des Gasstroms im ersten Wärmetauscher zumindest teilweise durch den gereinigten Gasstrom selbst, ..."
die Verwendung des gereinigten Gasstroms als (alleiniges) "Kühlmedium", das im ersten Wärmetauscher in thermischen Kontakt mit dem zu reinigenden Gas gebracht werden soll, gerade nicht aus.
1.5.3 Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass es auch in der Beschreibung des Streitpatents keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass Anspruch 1 so zu verstehen wäre, dass im ersten Wärmetauscher notwendigerweise noch ein anderes "Kühlmedium" als der Reingasstrom zum Einsatz kommen muss, wie von der Beschwerdeführerin behauptet.
2. Anspruch 1 - Neuheit gegenüber D10
2.1 D10 beschreibt ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Reinigung von Gasen, insbesondere von feuchten Gasen, durch Auskondensation unerwünschter Gaskomponenten (D10, Absatz [0001]).
2.2 In der Figur von D10 ist eine derartige Vorrichtung dargestellt:
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur der D10
Beim Betrieb dieser Vorrichtung (siehe D10, Absätze [0030] bis [0035]) wird, wie beim Verfahren gemäß dem Oberbegriff von Anspruch 1 des Streitpatents, mit Stoff (Feuchte) beladenes Gas ("Rohgas") zunächst in einem ersten Wärmetauscher WT I zwecks Vorkühlung und Kondensation eines Teils des Wassergehalts mit einem Kühlmittel in Kontakt gebracht, und anschließend in einem zweiten Wärmetauscher WT II zwecks Ausfrieren restlicher Feuchte mit einem nicht näher beschriebenen Kühlmittel in Kontakt gebracht. Als Kühlmittel dient im ersten Wärmetauscher WT 1 das gekühlte Reingas, das aus dem zweiten Wärmetauscher WT II abgezogen wird.
Das durch Figur 4 von D10 illustrierte Verfahren weist auch die kennzeichnenden Merkmale des Verfahrens nach Anspruch 1 des Streitpatents auf: Der Reingasstrom aus dem zweiten Wärmetauscher WT II wird über die Leitung 6 in den ersten Wärmetauscher WT I geführt, wo er - als Kühlmedium - in thermischen Kontakt mit dem ungereinigten Rohgasstrom tritt. Der dabei anfallende, wiedererwärmte Reingasstrom wird zum Teil über die Leitung 7 zurückgeführt und mittels der Regelklappe 4 mit dem kühleren Reingasstrom aus Leitung 6 gemischt, um dessen Temperatur vor Eintritt in den Wärmetauscher WT I zu regeln. Das Beimischen von wärmerem Reingas aus Leitung 7 zu dem kälteren Reingas aus Leitung 6 führt zu einer Temperaturerhöhung. Für die Kammer bedeutet dies, dass (ganz im Sinn des kennzeichnenden Teils von Anspruch 1 des Streitpatents) das als "Kühlmedium" wirkende Reingas "beheizt" wird.
2.3 Unter Zugrundelegung ihrer der unter 1.3.1 und 1.3.2, supra, dargelegten Auslegung von Anspruch 1 des Streitpatents (insbesondere der Merkmale "Kühlmedium" und "Kühlmedium .... beheizt" gelangt die Kammer daher zu dem Schluss, dass das in D10 (Figur, Absätze [0030] bis [0035]) offenbarte Verfahren alle Merkmale des Verfahrens nach Anspruch 1 des Hauptantrags aufweist.
2.4 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents in seiner erteilten Fassung ist demnach nicht neu (Artikel 52(1) und 54(1)(2) EPÜ).
3. Folglich ist der Hauptantrag der Beschwerdeführerin nicht gewährbar.
Hilfsantrag
4. Anspruch 1 - Auslegung
4.1 Anspruch 1 laut Hilfsantrag enthält das zusätzliche Merkmal "dass der gereinigte Gasstrom nach seiner Ausleitung aus dem zweiten Wärmetauscher (3), jedoch vor seiner Zuführung zum ersten Wärmetauscher (2) beheizt wird".
4.2 Die Einfügung dieses Merkmals ändert nichts an den Überlegungen der Kammer betreffend die Auslegung des Anspruchs, die demnach auch für den geänderten Anspruch 1 des Hilfsantrags ihre Gültigkeit behalten.
5. Anspruch 1 - Neuheit gegenüber D10
5.1 Wie bereits unter Punkt 2.2 supra ausgeführt, weist die in der Figur der D10 dargestellte Vorrichtung Mittel zum Erwärmen des kalten, aus dem zweiten Wärmetauscher WT II abgeleiteten Reingasstroms auf (Regelklappe 4; Leitung 7; Verbindung mit Leitung 6). Dieser kalte Reingasstrom wird also vor seiner Zuführung in den ersten Wärmetauscher WT I durch Beimischung von wärmerem Reingas "beheizt".
5.2 Gemäß einer weiteren Ausführungsform ist aber auch die Anordnung zusätzlicher "Wärmeelemente" (8, 9) zum Beheizen des Reingasstroms vor dessen Zuführung zum Wärmetauscher I vorgesehen (D10: Absatz [0039]).
5.3 Dies bedeutet, dass das in D10 offenbarte Verfahren auch die zusätzlichen Merkmale von Anspruch 1 des Hilfsantrags aufweist.
5.4 Somit ist auch der Gegenstand des Anspruchs 1 laut Hilfsantrags nicht neu (Artikel 52(1) und 54(2) EPÜ).
6. Folglich ist auch der Hilfsantrag der Beschwerdeführerin nicht gewährbar.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.