T 2315/16 (Validiertes Verfahren/IMC) 05-07-2019
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Selbstkontrollierendes Dokumentationssystem für validiertes Verfahren
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Erfinderische Tätigkeit - Bloße Automatisierung
Erfinderische Tätigkeit - Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung zurückzuweisen. Die Entscheidung stützt sich unter anderem auf das Dokument
D1: "Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten", Robert Koch Institut, Empfehlungen, Bundesgesundheitsblatt 44, 2001,
und kommt zu dem Ergebnis, dass der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 3 nicht erfinderisch sind
(Artikel 56 EPÜ).
II. In ihrer Beschwerdebegründung beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage der der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegenden Anträge zu erteilen.
III. Die Kammer hat die Beschwerdeführerin zu einer für den 5. Juli 2019 anberaumten mündlichen Verhandlung geladen.
IV. Mit Schreiben vom 27. Mai 2019 ersuchte Dr. Wolfgang Buß um die Verlängerung der Frist zur Einreichung von Eingaben oder Änderungen im Hinblick auf die mündliche Verhandlung aufgrund eines Ausfalls der vertretenden Anwaltskanzlei. Die Kammer teilte der Beschwerdeführerin sodann mit, dass nach der Aktenlage die Vertretung vom ursprünglichen Vertreter am 12. Juli 2017 niedergelegt wurde. Seither werde die Korrespondenz direkt mit der Anmelderin geführt, die eine juristische Person sei und deren Vertretung nur durch eine Person erfolgen könne, die als Organ oder auch als Angestellte zu einer solchen Vertretung berechtigt sei.
V. Mit Schreiben vom 4. Juni 2019 erklärte Dr. Wolfgang Buß den Rückzug der Beschwerde. Die Kammer teilte daraufhin der Beschwerdeführerin mit, dass keine Nachweise dafür eingereicht wurden, dass Dr. Wolfgang Buß zur Vertretung der Anmelderin berechtigt sei, und dass damit der im Schreiben vom 4. Juni 2019 erwähnte Rückzug nicht wirksam erfolgt sei.
VI. Es fand am 5. Juli 2019 eine mündliche Verhandlung vor der Kammer in Abwesenheit der Beschwerdeführerin statt.
VII. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
" Computersystem (1000) zur Überwachung der Aufbereitung von Medizinprodukten nach einem validierten Verfahren, umfassend:
ein Aufzeichnungsmodul (1001), welches konfiguriert ist Messwerte (M1, M2) von mindestens einem im validierten Verfahren verwendeten Aufbereitungsmittel (2001, 2002) zu empfangen, wobei die Messwerte für das validierte Verfahren relevante technische Parameter (101, 102) umfassen;
ein Dokumentationsmodul (1002) zum Erfassen mindestens einer Freigabeinstruktion für eine Freigabeentscheidung hinsichtlich der verwendeten Aufbereitungsmittel (2001, 2002) des validierten Verfahrens, wobei die Freigabeentscheidung auf einer Überprüfung und Dokumentation des vollständigen und korrekten Prozessverlaufs des validierten Verfahrens beruht;
gekennzeichnet dadurch, dass
ein Auswertungsmodul (1005) konfiguriert ist, die Annahme der Freigabeinstruktion zumindest teilweise zu verhindern, wenn bei der Überprüfung zumindest ein Messwert (M1, M2) eines für das validierte Verfahren relevanten technischen Parameters (101, 102) außerhalb eines vordefinierten Toleranzbereichs liegt, wobei diese Überprüfung in Echtzeit erfolgt."
VIII. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass am Ende
des Anspruchs folgender Text hinzugefügt wurde:
"wobei weiterhin eine Datenstruktur (601) verwendet wird, um die Anwendung eines Medizinprodukts am Patienten zu protokollieren und wobei diese Datenstruktur (601) mit einer weiteren Datenstruktur (602) mit Daten des Aufzeichnungsmoduls und des Dokumentationsmoduls gekoppelt (611, 615) ist, so dass für jede Anwendung des Medizinprodukts am Patienten die Konsistenz der Freigabeentscheidung und den entsprechenden für das validierte Verfahren relevanten technischen Parametern überprüfbar ist, [sic]"
IX. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass nach dem Text "gekennzeichnet dadurch, dass" folgender Text hinzugefügt wurde:
"das Computersystem ein Bibliotheksmodul (1004) umfasst, welches für die verwendeten Aufbereitungsmittel (2001, 2002) wählbare Programme vorhält, wobei ein wählbares Programm einen zu erwartenden zeitlichen Messverlauf für mindestens einen der relevanten technischen Parameter (101, 102) enthält; und"
und nach dem Text "ein Auswertungsmodul (1005) konfiguriert ist," folgender Text hinzugefügt wurde:
"einen Soll-Ist-Vergleich für mindestens einen zu erwartenden technischen Parameter eines gewählten Programms mit mindestens einem entsprechenden empfangenen Messwert auf der Basis des vordefinierten Toleranzbereichs durchzuführen, und".
X. Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 dadurch, dass vor dem Text ";und ein Auswertungsmodul (1005) konfiguriert ist," folgender Text hinzugefügt wurde:
"und die Auswahl eines bestimmten Programms automatisch erfolgt, indem das entsprechende Aufbereitungsmittel über seine Maschinenschnittstelle mitteilt, welches Programm für das gerade zur Aufbereitung anstehende Medizinprodukt erforderlich ist"
1. Hauptantrag
1.1 Die angefochtene Entscheidung beinhaltet zwei alternative Einwände unter Artikel 56 EPÜ, wobei der erste Einwand die Erfindung als reine Automatisierung einer Geschäftsmethode mit gewöhnlichen technischen Mitteln bezeichnet. Die beanspruchte Erfindung ist jedoch ein System zur Überwachung der Aufbereitung von Medizinprodukten in einem validierten Verfahren und damit keine Geschäftsmethode.
1.2 Der zweite Einwand geht von D1 als nächstliegendem Stand der Technik aus. Die angefochtene Entscheidung sieht den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags im Wesentlichen als die Automatisierung des von D1 bekannten Verfahrens mittels eines Computersystems an. Die Kammer stimmt dieser Sichtweise zu.
1.3 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern, kommt die bloße Automatisierung von bisher vom Menschen ausgeführten Funktionen dem allgemeinen Trend in der Technik entgegen und wird nicht als erfinderisch angesehen (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 8. Aufl., 2016, I.D.9.18.4).
1.4 Dagegen führt die Beschwerdeführerin aus, dass in D1 die Freigabe nur durch eine Person erfolgt und bei einer reinen Automatisierung müsste demnach die Freigabe auch automatisiert ablaufen. Eine Automatisierung und die Anforderung aus D1 zur Freigabe durch eine Person jedoch widersprächen sich, weil bei einer vollständig automatisierten Freigabe die Aufbereitung nach einem nicht-validierten Verfahren ablaufen würde. Die Beschwerdeführerin fügt an, dass der Fachmann während der Automatisierung bereits beim Freigabeschritt scheitern würde. Er würde auch versuchen, die Freigabe durch einen Menschen zu automatisieren, aber das Automatisieren von gedanklichen Tätigkeiten sei nicht möglich.
1.5 Diese Auffassung der Beschwerdeführerin geht ersichtlich von den Annahme aus, dass ein Verfahren nur automatisiert ist, wenn in keinem einzigen Schritt davon ein Mensch involviert ist. Das ist jedoch nicht was die Rechtsprechung und die Kammer unter dem Begriff "Automatisierung" verstehen. Es ist zudem selbstverständlich, dass der Fachmann angesichts eines rechtlichen Hinweises darauf, dass die Freigabe durch eine Person abzulaufen hat, nicht versuchen würde, gegen gesetzliche Vorgaben durchzusetzen, dass die Freigabe vollständig maschinell abläuft.
1.6 Die Beschwerdeführerin führt dennoch aus, dass der Fachmann pragmatisch eine Benutzerschnittstelle bereitstellen würde, die dem freigegebenen Benutzer die Möglichkeit bietet, seine Entscheidung über die Freigabe eines Medizinprodukts in das System einzugeben. Das System würde dann im Falle einer "reinen" Automatisierung lediglich in Abhängigkeit der Eingabe den Systemstatus des Medizinprodukts auf "freigegeben" bzw. "nicht freigegeben" setzen.
1.7 Die Beschwerdeführerin geht ersichtlich davon aus, dass bei einer als naheliegend zu erachtenden Umstellung eines manuellen Verfahrens auf eine automatisierte Vorgehensweise vorauszusetzen sei, dass sämtliche Verfahrensschritte des manuellen Verfahrens von dem Fachmann unmodifiziert bei einer Automatisierung des Verfahrens übernommen werden. Bei dieser Betrachtungsweise wird übersehen, dass der Fachmann bei der Entwicklung eines automatisierten Verfahrens, ausgehend von einem bekannten manuellen Verfahren, über die bloße Automatisierung der einzelnen Verfahrensschritte des manuellen Verfahrens hinausgehend auch die Möglichkeiten, die eine Automatisierung beispielweise hinsichtlich der Überwachung, Steuerung und Regelung der einzelnen Verfahrensschritte bietet, soweit sie im Rahmen handwerklichen Könnens liegen, einbeziehen wird (Siehe T 850/06, Ziffer 3.5.2). Dementsprechend muss im vorliegenden Fall die Frage beantwortet werden, ob die in Anspruch 1 des Hauptantrags gebotenen Möglichkeiten im Rahmen handwerklichen Könnens des Fachmanns liegen.
1.8 In einem validierten Verfahren darf der Fachmann den Freigabeschritt selbst nicht automatisieren. Die Beschwerdeführerin führt selbst aus, dass der Fachmann pragmatisch eine Benutzerschnittstelle bereitstellen würde, die dem freigebenden Benutzer die Möglichkeit bietet, seine Entscheidung über die Freigabe eines Medizinprodukts in das System einzugeben. Jedoch ist es eine notorisch bekannte Maßnahme, dass Benutzerschnittstellen die Eingaben eines Benutzers in Echtzeit überprüfen und den Benutzer auf Fehler in seinen Eingaben hinweisen bzw. die fehlerhaften Eingaben ablehnen. Damit ist es im Rahmen des handwerklichen Könnens des Fachmanns und infolgedessen naheliegend, dass ein Computersystem, das das Verfahren von D1 ausführt, überprüft, ob die Freigabeinstruktion, d.h. die Eingabe des Benutzers, richtig oder falsch ist, und gegebenenfalls eine Freigabe verhindert. Die anderen technischen Merkmale, die in Anspruch 1 des Hauptantrags für die Implementierung der Automatisierung des Verfahrens von D1 verwendet werden, z.B. dass ein Computersystem unterschiedliche Softwareeinheiten oder Module mit unterschiedlichen Funktionen umfasst, liegen jedenfalls im Rahmen handwerklichen Könnens des Fachmanns.
1.9 Aus diesen Gründen beruht Anspruch 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPC).
2. Hilfsantrag 1
2.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags, durch die Datenstrukturen, die die Anwendung des Medizinprodukts protokollieren und nachweisen können, dass die zum Einsatz gekommenen Medizinprodukte ordnungsgemäß freigegeben worden sind.
2.2 Obwohl, wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt, die Aufbereitung von Medizinprodukten als solche zweifelsfrei eine Aneinanderreihung einer Vielzahl von technischen Vorgängen ist, ist die Dokumentation oder Protokollierung einer solchen Aufbereitung nicht technisch (siehe T 2488/11-Quality Control/ROCHE von derselben Kammer, Ziffer 1.2 bis 1.6). Wie die Kammer auch in T 2488/11 (siehe insbesondere Ziffer 1.4(i)) betonte, ist der Umfang der Dokumentation oder Protokollierung in einem validierten Verfahren von den Dokumentationsanforderungen des validierten Verfahrens bestimmt, die eine zu erfüllende Vorgabe im Sinne von T 641/00 (ABl EPA 2003, 352), Leitsatz 2 sind. Zudem ist selbstverständlich, dass Computersysteme zum Speichern und Verarbeiten von Daten Datenstrukturen verwenden.
2.3 Die Kammer kann den Argumenten der Beschwerdeführerin bezüglich des Hilfsantrags 1 nicht folgen, weil weder Anspruch 1 des Hilfsantrags noch ein anderer Teil der Anmeldung etwas mit einem Diagnoseverfahren zu tun hat.
2.4 Aus diesen Gründen beruht Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit
(Artikel 56 EPC).
3. Hilfsanträge 2 und 3
3.1 Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags durch das Bibliotheksmodul, die Sollwerte für die verwendeten Aufbereitungsmittel ("Programme") umfasst. Das Auswertungsmodul überprüft die Freigabeinstruktion anhand dieser Sollwerte.
3.2 Dem Computersystem müssen zwangsläufig die Sollwerte des Toleranzbereichs vorliegen, um zu überprüfen, ob ein Messwert außerhalb eines Toleranzbereichs liegt. Wenn das Computersystem mit mehreren Aufbereitungsmitteln verbunden ist, die jeweils unterschiedliche Medizinprodukte aufbereiten, ist es auch selbstverständlich, dass unterschiedliche Sollwerte für jeden Aufbereitungsvorgang erforderlich sind.
3.3 Anspruch 1 des Hilfsantrags 3 hat das zusätzliche Merkmal, dass die Auswahl des "Programms" automatisch erfolgt, indem das entsprechende Aufbereitungsmittel über seine Maschinenschnittstelle mitteilt, welches Programm für das gerade zur Aufbereitung anstehende Medizinprodukt erforderlich ist.
3.4 Es ist klar, dass das Computersystem selbst nicht wissen kann, welches Medizinprodukt das Aufbereitungsmittel gerade aufbereiten wird. Diese Information kann nur vom Benutzer oder vom Aufbereitungsmittel selbst kommen. Diese beiden Möglichkeiten werden auch in der Beschreibung, Seite 10, Zeilen 4 bis 8 erwähnt. Es ist weiter klar, dass, wenn die Information vom Aufbereitungsmittel kommt, dies nur über seine Maschinenschnittstelle mitgeteilt werden kann.
3.5 Aus diesen Gründen beruhen Anspruch 1 der Hilfsanträge 2 und 3 auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPC).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.