T 1989/19 30-06-2023
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Kristallines Mikronisat des Tiotropiumbromids
Alfred E. Tiefenbacher (GmbH & Co. KG)
HEXAL PHARMA AG
Laboratorios Liconsa, S.A.
Jump, Timothy John Simon
Ausreichende Offenbarung
Neuheit
Erfinderische Tätigkeit
I. Die Beschwerden der Einsprechenden 1, 2, 3 und 4 richteten sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Einsprüche gegen das europäische Patent EP 1 785 422 zurückzuweisen.
II. Mit Schreiben vom 24. April 2023 bzw. 7. September 2022 nahmen die Einsprechenden 1 und 3 ihre jeweilige Beschwerde zurück. Sie blieben allerdings gemäß Artikel 107 Satz 2 EPÜ weiterhin am Beschwerdeverfahren beteiligt. Mit Schreiben vom 23. August 2022 nahm der Einsprechende 4 seinen Einspruch zurück und schied aus dem Beschwerdeverfahren aus.
III. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem folgende Dokumente eingereicht:
D1 Malcomson, et al., "Dry powder formulations
for pulmonary delivery", PSTT 1(9), 1998,
Seite 394-398
D6 EP 0 418 716 B1
D9 WO 00/47200 A1
D14 New Zealand Gazette, Issue 142, Seite 3594
D16a X.M. Zeng et al., "Particulate Interactions
in Dry Powder Formulations for Inhalation",
Seite 30, 31, 86-89, 136-138, 163, 164
D16b X.M. Zeng et al., "Particulate Interactions
in Dry Powder Formulations for Inhalation",
Seite 134-138
D17 FDA "Guidance for Industry", "Metered Dose
Inhaler (MDI) and Dry Powder Inhaler (DPI)
Drug Products", 13 November 1998
D23 Versuchsbericht der Patentinhaberin datiert
auf 10. März 2016
D42 Versuchsbericht der Patentinhaberin vom
21. Juni 2012, "Vergleichende Untersuchung
von mikronisiertem
Tiotropiumbromidmonohydrat vor und nach
einem streitpatentgemäß durchgeführten
Konditionierungsschritt"
D46 US 5,610,163
D56 "Experimentalbericht" von Dr. Markus
Wolkenhauer datiert vom 6. April 2018
D59 "Experimental Report" von Liconsa vom
23. August 2018
D65 Versuchsbericht der Patentinhaberin vom
31. Januar 2019.
IV. Mit der Beschwerdebegründung der Einsprechenden 2 (nachfolgend Beschwerdeführerin) wurden die folgenden Dokumente eingereicht:
D71: Auszug aus der "Cambridge Structural
Database", (CSD) beim Cambridge
Crystallographic Data Centre (CCDC)
D72: Hesse, M. et al., Spektroskopische Methoden
in der organischen Chemie", 3. Auflage,
1987, Georg Thieme Verlag.
Mit der Beschwerdeerwiderung wurde von der Patentinhaberin (nachfolgend Beschwerdegegnerin) das folgende Dokument eingereicht:
D77: Schreiben der Beschwerdegegnerin vom
10. März 2016.
V. Die Parteien wurden antragsgemäß zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erging eine Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020. In dieser Mitteilung äußerte die Kammer unter anderem die vorläufige Meinung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber D9 neu sei.
VI. Die Beschwerdegegnerin beantragte, die mündliche Verhandlung als Präsenztermin durchzuführen.
VII. Mit Schreiben vom 27. April 2023 erklärte die Beschwerdeführerin, an der anberaumten mündlichen Verhandlung nicht teilzunehmen.
VIII. Am 30. Juni 2023 fand die mündliche Verhandlung vor der Kammer als Präsenztermin in Anwesenheit der Beschwerdegegnerin statt.
IX. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag (Patent in der erteilten Fassung) lautet wie folgt:
"Kristallines Mikronisat von Tiotopiumbromid [sic] der Formel (I)
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
gekennzeichnet durch eine Partikelgröße X50 von zwischen 1,0 mym und 3,5 mym bei einem Wert Q(5.8) von größer 60 %, durch einen spezifischen Oberflächenwert im Bereich zwischen 2 m**(2)/g und 5 m**(2)/g, durch eine spezifische Lösungswärme von größer 65 Ws/g sowie durch einen Wassergehalt van 1 % bis 4,0 %."
X. Anträge
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, oder hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung basierend auf einem der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Anspruchssätze der Hilfsanträge 1 bis 11.
XI. Bezüglich der für die vorliegende Entscheidung relevanten Ausführungen der Beschwerdeführerin bzw. der Beschwerdegegnerin wird auf die nachfolgenden Entscheidungsgründe verwiesen.
Fortsetzung des Verfahrens und Entscheidung über die Beschwerde in Abwesenheit
Die Beschwerdeführerin sowie die Einsprechenden 1 und 3 als weitere Verfahrensbeteiligte gemäß Artikel 107 EPÜ waren ordnungsgemäß geladen, nahmen jedoch nicht an der mündlichen Verhandlung teil. Die Kammer setzte das Beschwerdeverfahren gemäß Regel 115 (2) EPÜ in Abwesenheit der Beteiligten fort, wobei diese gemäß Artikel 15 (3) VOBK 2020 so behandelt wurden, als stützten sie sich auf ihr schriftliches Vorbringen. Aufgrund ihres Nichterscheinens nahmen diese Beteiligten ihr Recht, zu den im Rahmen der mündlichen Verhandlung erörterten Punkten Stellung zu nehmen, nicht wahr.
Hauptantrag (Patent wie erteilt)
1. Artikel 100 b) EPÜ - Unzureichende Offenbarung
1.1 Zulassung - Verweis auf im Einspruchsverfahren erhobene Einwände
1.1.1 Zusätzlich zu ihrem substantiierten Sachvortrag hinsichtlich bestimmter die ausreichende Offenbarung betreffender Einwände erklärte die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung (Seite 2, Punkt 1), dass sie alle im Einspruchsverfahren erhobenen Einwände aufrechterhalte.
1.1.2 Gemäß Artikel 12 (2) VOBK 2007, anzuwenden gemäß Artikel 24 und 25 (2) VOBK 2020, muss die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten, und sie muss deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Dieses Erfordernis wird durch einen allgemeinen Verweis auf im Einspruchsverfahren erhobene Einwände nicht erfüllt.
1.1.3 Diese Einwände wurden von der Kammer daher auf der Grundlage des Artikels 12 (4) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zugelassen. Aus diesem Grund war inhaltlich nur über die in der Beschwerdebegründung substantiiert vorgetragenen Einwände zu entscheiden.
1.2 Die in der Beschwerdebegründung substantiiert vorgetragenen Einwände
1.2.1 Anspruch 1 (siehe oben) definiert ein kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid durch eine Reihe von Parametern, nämlich durch
- eine Partikelgröße X50 zwischen 1,0 mym und 3,5 mym
- bei einem Wert Q(5.8) von größer 60 %,
- einen spezifischen Oberflächenwert zwischen 2 m**(2)/g und 5 m**(2)/g,
- eine spezifische Lösungswärme von größer 65 Ws/g,
- sowie einen Wassergehalt von 1 % bis 4,0 %.
1.2.2 Die Beschwerdeführerin machte geltend, das Streitpatent offenbare eine einzige Ausführungsform, nämlich das in Absatz [0037] hergestellte Tiotropiumbromidmonohydrat, und stelle damit hinsichtlich der oben genannten Parameter nur eine punktuelle Offenbarung für jeweils einen Wert innerhalb jedes einzelnen der obigen Parameterbereiche dar. Daher werde der Fachmann nicht in die Lage versetzt, alle in den Anspruchsumfang fallenden Ausführungsformen (d.h. Parameterkombinationen mit anderen jeweiligen Bereichswerten) zu erreichen. Insbesondere zeige das Streitpatent nicht, wie ein beanspruchtes Mikronisat bereitgestellt werden könne, bei dem alle Parameter in ihren besonders bevorzugten Bereichen lägen. Unter Verweis auf Entscheidung T 435/91 machte die Beschwerdeführerin geltend, dass das Streitpatent daher kein verallgemeinerungsfähiges Konzept ("concept fit for generalisation") offenbare. Das Streitpatent lehre auch nicht, wie man das beanspruchte Mikronisat mit Parameterwerten an den Endpunkten der beanspruchten Bereiche erhalte. Diesbezüglich verwies die Beschwerdeführerin auf D56.
Die Beschwerdeführerin machte weiterhin geltend, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 ein Produkt umfasse, das ohne einen Konditionierungsschritt hergestellt werde. Ein solcher Schritt sei jedoch gemäß Streitpatent zwingend erforderlich (Absatz [0012]). Dies sei durch Versuchsberichte D42 und D56 bestätigt. Daher lehre das Streitpatent den Fachmann nicht, wie er das beanspruchte Mikronisat ohne Konditionierungsschritt herstellen könne.
1.2.3 Die Kammer stimmt dieser Auffassung nicht zu. Der vorliegende Fall unterscheidet sich aus den von der Beschwerdegegnerin dargelegten Gründen (Beschwerdeerwiderung, Seite 6 - Seite 7, erster Absatz) von dem der Entscheidung T 435/91 zugrunde liegenden Fall.
1.2.4 In letzterem Fall war das strittige Merkmal ein funktionell definierter Bestandteil einer Zusammensetzung. Es wurde von der zuständigen Kammer festgestellt (Entscheidung T 435/91, Gründe 2.2.1), dass diese funktionelle Definition einer Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms entsprach, für das das Streitpatent kein verallgemeinerungsfähiges Konzept enthielt.
1.2.5 Im Gegensatz hierzu wird im vorliegenden Fall durch die Beschreibung des Streitpatents ein solches Konzept bereitgestellt. So offenbart das Beispiel im Streitpatent die Herstellung der anspruchsgemäßen Substanz (Absätze [0037] und [0044] bis [0045]). Ferner enthält die Beschreibung des Streitpatents detaillierte Anweisungen zur Herstellung eines Mikronisats, das durch die beanspruchten Parameter gekennzeichnet ist (Absätze [0010] bis [0013]).
1.2.6 Auch wenn für spezifisch hergestellte Proben der D56 nicht alle anspruchsgemäßen Parameter erfüllt sind, stellt dies keinen hinreichenden Nachweis dafür dar, dass der Fachmann trotz der im Streitpatent gegebenen Orientierungshilfen nicht in der Lage ist, innerhalb des beanspruchten Bereichs zu arbeiten.
1.2.7 Was das von der Beschwerdeführerin genannte Fehlen eines Konditionierungsschritts in Anspruch 1 betrifft, so stimmt die Kammer mit der Beschwerdegegnerin (Beschwerdeerwiderung, Seite 7, zweiter Absatz) und der Einspruchsabteilung (Entscheidungsgründe, 6.8) überein. Insbesondere bezieht sich Anspruch 1 auf ein Produkt und nicht auf ein Verfahren. Solange dieses Produkt - mit oder ohne Konditionierungsschritt - erhältlich ist, liegt kein Offenbarungsmangel vor. Diesbezüglich merkt die Kammer an, dass das Streitpatent in Absatz [0012] detailliert beschreibt, wie der Konditionierungsschritt durchgeführt werden soll. Das Streitpatent lehrt den Fachmann somit, wie das anspruchsgemäße Produkt herzustellen ist. Ein Offenbarungsmangel im Sinne von Artikel 100 b) EPÜ liegt daher nicht vor.
1.2.8 Abschließend stellt die Kammer fest, dass nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein Einwand mangelnder Offenbarung nur dann durchgreifen kann, wenn ernsthafte, durch nachweisbare Fakten erhärtete Zweifel bestehen. Im vorliegenden Fall liegen jedoch keine Beweise vor, dass der Fachmann bei Nacharbeitung des Beispiels unter den im Streitpatent spezifizierten Bedingungen nicht zu einem anspruchsgemäßen Mikronisat gelangen würde.
1.3 Somit kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Streitpatents nicht entgegensteht.
2. Neuheit - Artikel 100 a) und Artikel 54 EPÜ
2.1 Zulassung - Verweis auf im Einspruchsverfahren erhobene Einwände
Zusätzlich zu ihrem substantiierten Sachvortrag in der Beschwerdebegründung zur Neuheit erklärte die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung (Seite 2, Punkt 1), dass sie alle im Einspruchsverfahren erhobenen Einwände aufrechterhalte.
Aus den oben in Zusammenhang mit der ausreichenden Offenbarung ausgeführten Gründen hat die Kammer diese lediglich durch Verweis auf das Einspruchsverfahren erhobenen Einwände auf der Grundlage des Artikels 12 (4) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zugelassen. Es war inhaltlich daher nur über die in der Beschwerdebegründung substantiiert vorgetragenen Einwände zu entscheiden.
2.2 Die in der Beschwerdebegründung substantiiert vorgetragenen Einwände
2.2.1 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber dem Patentdokument D9 nicht neu sei.
2.2.2 Wie von der Einspruchsabteilung dargelegt (angefochtene Entscheidung, 7.16), offenbart D9 die Verwendung von Tiotropiumbromid, welches auf eine Partikelgröße von 1 mym bis 5 mym gemahlen wird (D9, Seite 9, Beispiel 3). Hinsichtlich der Herstellung dieses Tiotropiumbromids verweist D9 auf US 5 610 163 (D46; siehe D9, Seite 3, Zeile 1 bis 4), welches dem US-Äquivalent von D6 entspricht.
2.2.3 Im Versuchsbericht D23 wurden Tiotropiumbromidmonohydrat gemäß Streitpatent und Tiotropiumbromid gemäß D6 in einer Luftstrahlmühle unter identischen Bedingungen mikronisiert (D23, Seite 1, Absatz 2), so dass ein erfindungsgemäßes Mikronisat und ein Mikronisat gemäß dem Stand der Technik ("Mikronisat gemäß SdT") erhalten wurde. Anschließend wurden die erhaltenen Proben im Hinblick auf die anspruchsgemäßen Parameter nach den im Streitpatent beschriebenen Methoden charakterisiert.
2.2.4 Die Ergebnisse (D23, Seite 1, erste Tabelle) zeigen, dass das erfindungsgemäße Mikronisat einen Wassergehalt von 2,7 % aufweist, während das "Mikronisat gemäß SdT" (d.h. die gemäß D6 nachgearbeitete und anschließend mikronisierte Probe) alle parametrischen Erfordernisse des Anspruchs 1, nicht jedoch den anspruchsgemäßen Wassergehalt erfüllt. Dieser beträgt 0,9 % und liegt damit unter der beanspruchten Untergrenze von 1 %.
2.2.5 Ein weiteres erfindungsgemäßes Mikronisat mit einem Wassergehalt von 1,4 % wurde gemäß Versuchsbericht D65 hergestellt (D65, erste Tabelle auf Seite 1, "Erfindungsgemäßes Mikronisat, (Probe 1)"). D65 umfasst auch die in D23 aufgeführten Daten.
2.2.6 Es wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass der Wassergehalt der Probe "Mikronisat gemäß SdT", in D23 und D65 (0,9 %) in den anspruchsgemäßen Bereich falle. Insbesondere umfasse die untere Grenze des beanspruchten Bereichs, nämlich 1 %, gemäß der Rundungskonvention Werte von 0,5 % bis 1,4 %.
2.2.7 Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin darin überein, dass gemäß Rundungskonvention die Werte 0,5 und 1,4 jeweils auf den Wert 1 auf- bzw. abgerundet werden können. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Umgekehrte gilt, dass heißt, dass der Wert 1 auf 0,5 ab- oder auf 1,4 aufgerundet werden kann. Dies kann nach Auffassung der Kammer der Rundungskonvention nicht entnommen werden. Darüber hinaus würde das auf der Rundungskonvention basierende Argument der Beschwerdeführerin selbst dann nicht durchgreifen, wenn sie die Rundungskonvention korrekt angewendet hätte. Diese Rundungskonvention gilt im Bereich der Mathematik. Der in Frage stehende Patentanspruch ist jedoch nicht an einen Mathematiker oder eine Mathematikerin, sondern an einen auf dem Gebiet der Inhalationspulver arbeitenden Fachmann gerichtet. Ein solcher Fachmann ist damit vertraut, dass die Messung von Wassergehalten möglicherweise mit einem gewissen Fehler behaftet sein kann und dass für einen Wassergehalt genannte Werte im Lichte dieser Fehlergrenzen zu lesen sind und damit Werte innerhalb dieses Fehlerbereiches einschließen. Von der Beschwerdeführerin wurde aber kein Nachweis erbracht, dass bei Berücksichtigung solcher wie auch immer gearteten Fehlergrenzen der in Anspruch 1 genannte Wassergehalt von 1 % mit dem im Stand der Technik vorliegenden Wert von 0,9 % identisch ist, oder zumindest überlappt. Daher sind die beiden Werte als verschieden voneinander zu betrachten. Bereits aus diesem Grund ist der Wassergehalt als Unterscheidungsmerkmal anzusehen.
2.2.8 Die Kammer schließt sich ferner der Begründung der Einspruchsabteilung an (angefochtene Entscheidung, 7.17, dritter Absatz). Ebenso wie D23 beschreibt der Versuchsbericht D59 die Nacharbeitung der Herstellung von Tiotropiumbromid gemäß D6 (D59, Seite 1, "TBA Sample SC235/t=0"). Gemäß Tabelle 1 (D59, Seite 4) wurde für die nachgearbeitete Probe ein Wassergehalt von 0,3 % ermittelt, was selbst unter Zugrundelegung der von der Beschwerdeführerin herangezogenen Rundungskonvention deutlich unter der Untergrenze des beanspruchten Bereichs von 1 % bis 4 % liegt. Die Kammer stimmt hierbei dem von der Einspruchsabteilung gezogenen Schluss in Punkt 7.17, Seite 31 ihrer Entscheidung zu:
"... Wenn also zweimal derselbe Stand der Technik nachgearbeitet wird, und dabei verschiedene Wassergehalte für das Mikronisat ermittelt wurden [0,9 % in D23 und D65 und 0,3 % in D59], und wenn der Wert aus der Nacharbeitung von O-III (D59, Tabelle 1) zweifelsfrei von jeder Rundungsinterpretation jenseits des beanspruchten Merkmals 1e "Wassergehalt 1 - 4.0%" liegt, dann kann der Wassergehalt nicht zweifelsfrei ein inhärentes Merkmal aus dem Stand der Technik D9 sein in einer Höhe, die - gegebenenfalls nach Rundung - in den Anspruchsbereich von Merkmal 1e fällt." (Hinzufügung in eckigen Klammern durch die Kammer)
2.2.9 Somit kommt die Kammer auch auf der Grundlage der unterschiedlichen Ergebnisse in D23 und D65 einerseits und D59 andererseits im Einklang mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass der beanspruchte Wassergehalt nicht unmittelbar und eindeutig in D9 offenbart ist.
2.2.10 Diesbezüglich ist das in der Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin geltend gemachte Argument, dass die Einspruchsabteilung den Erklärungen der Beschwerdegegnerin nicht hätte folgen dürfen, da die Erklärungen nicht durch technische Details gestützt wurden (Beschwerdebegründung, Seite 5, Punkt 2), nicht überzeugend.
2.2.11 Insbesondere begründete die Beschwerdeführerin nicht, warum die obige Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung, die sich aus einem Vergleich von D23 und D59 ergibt, nicht korrekt ist. Folglich wurde die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung in dieser Hinsicht von der Beschwerdeführerin nicht substantiiert in Frage gestellt, wie von der Beschwerdegegnerin zu Recht angemerkt.
2.3 Somit kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Neuheit gegenüber D9 gegeben ist und daher der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit Artikel 54 EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegensteht.
3. Erfinderische Tätigkeit - Artikel 100 a) und Artikel 56 EPÜ
Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf D9 oder D14 als nächstliegendem Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
Ausgehend von D9
3.1 Unterscheidungsmerkmale
Wie oben in Bezug auf die Neuheit dargelegt, stellt der beanspruchte Wassergehalt von 1 bis 4 % ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber D9 dar.
3.2 Technische Wirkung
3.2.1 Die Beschwerdegegnerin verwies auf die Versuchsberichte D23 und D65 als Nachweis für eine technische Wirkung. Es wurde vorgetragen, dass die darin enthaltenen Versuche zeigten, dass das oben genannte Unterscheidungsmerkmal zu einer verbesserten Lagerstabilität führe.
3.2.2 Wie oben dargelegt, verweist D9 hinsichtlich der Herstellung von Tiotropiumbromid auf US 5 610 163 (D46), welches dem US-Äquivalent von D6 entspricht.
Wie ebenfalls oben ausgeführt, wurden in D23 Tiotropiumbromidmonohydrat gemäß dem Streitpatent und Tiotropiumbromid gemäß D6 in einer Luftstrahlmühle unter identischen Bedingungen mikronisiert. Das nach der Mikronisierung des Tiotropiumbromidmonohyrats resultierende Produkt stellt ein erfindungsgemäßes Mikronisat dar. Das aus der Mikronisierung der D6 resultierende Produkt stellt ein Produkt gemäß dem nächstliegenden Stand der Technik D9 dar und wird in D23 als "Mikronisat gemäß SdT" bezeichnet (D23, Seite 1, erste Tabelle).
3.2.3 Diese beiden Proben von D23 wurden einer dreitägigen Stresslagerung bei 40°C und 75 % relativer Luftfeuchtigkeit unterworfen und schließlich erneut charakterisiert. Die Ergebnisse (D23, Seite 1, zweite Tabelle) zeigen, dass sich während dieser Stresslagerung beim "erfindungsgemäßes Mikronisat" sowohl der Median (X50) als auch die Partikelgrößenverteilung viel weniger zu größeren Partikeln verschieben als es beim Stand der Technik gemäß D6 (und daher auch D46) der Fall ist (D23, Seite 2, erster Absatz). Somit ist die Lagerstabilität des erfindungsgemäßen Mikronisats gegenüber derjenigen des Standes der Technik verbessert.
3.2.4 Der Versuchsbericht D65 bezieht sich auf die Proben, die auch in D23 getestet wurden. Zusätzlich enthält D65 auch Daten für ein weiteres "erfindungsgemäßes Mikronisat" mit einem anspruchsgemäßen Wassergehalt von 1,4 % (D65: "Probe 1"). Für diese Probe wird ebenfalls eine Verbesserung der Lagerstabilität im Vergleich zur Probe des Standes der Technik gezeigt.
3.2.5 Die Beschwerdeführerin stellte nicht in Frage, dass die "erfindungsgemäßen" Proben in D23 und D65 eine Verbesserung der Lagerstabilität im Vergleich zu den Proben nach dem Stand der Technik ("Mikronisat gemäß SdT") aufweisen.
3.2.6 Vielmehr machte die Beschwerdeführerin die folgenden Einwände geltend:
3.2.7 Erstens wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass das Beispiel "Mikronisat gemäß SdT" in D23 und D65 "im Unterscheidungsmerkmal modifiziert worden sei".
Dieser Vortrag scheint zu implizieren, dass laut Beschwerdeführerin das "Mikronisat gemäß SdT" in D23 und D65 nicht dem Mikronisat des nächstliegenden Standes der Technik D9 entspreche, so dass ein Vergleich der erfindungsgemäßen Mikronisate mit dem "Mikronisat gemäß SdT" keine technische Wirkung gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik begründen könne.
Dem kann die Kammer nicht folgen. Wie oben ausgeführt, stellt der Wassergehalt das Unterscheidungsmerkmal gegenüber D9 dar, und ist in D9 keinerlei Wassergehalt offenbart. Um eine auf den Wassergehalt zurückgehende technische Wirkung nachzuweisen, musste die Beschwerdegegnerin somit ein Mikronisat mit anspruchsgemäßem Wassergehalt mit einem Mikronisat mit nicht anspruchsgemäßem Wassergehalt vergleichen. Genau dies hat die Beschwerdegegnerin mit dem Vergleich der erfindungsgemäßen Mikronisate mit dem "Mikronisat gemäß SdT" in D23 und D65 getan. Hierbei hat sie sogar für die Vergleichsprobe einen Wassergehalt gewählt (0,9 %), der sehr nahe an der anspruchsgemäßen Untergrenze von 1 % liegt, und hat dennoch die oben genannte technische Wirkung einer verbesserten Lagerstabilität erhalten.
Eine "Modifizierung" des in D23 und D65 hergestellten "Mikronisats gemäß SdT" gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik hat lediglich, wie in der Beschwerdeerwiderung (Punkt b) auf Seite 24) ausgeführt, dahingehend stattgefunden, dass die nach nächstliegendem Stand der Technik hergestellte Probe mikronisiert wurde. Wie aber ebenfalls von der Beschwerdegegnerin ausgeführt wurde, war diese Mikronisierung notwendig, um ein Material zu erhalten, das sich lediglich bezüglich des Wassergehalts vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheidet. Somit ist das Vergleichsbeispiel "Mikronisat gemäß SdT" in D23 und D65 auch in dieser Hinsicht nicht zu beanstanden.
3.2.8 Zweitens wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass der Wassergehalt von 0,9 % der Probe "Mikronisat gemäß SdT" in D23 (und D65) in den anspruchsgemäßen Bereich falle. Insbesondere umfasse die untere Grenze des beanspruchten Bereichs, nämlich 1 %, gemäß der Rundungskonvention Werte von 0,5 % bis 1,4 %. Der Vergleich in D23 und D65 sei daher nicht geeignet, eine Verbesserung gegenüber dem Stand der Technik D9 nachzuweisen.
Wie jedoch oben ausgeführt, liegt der Wassergehalt von 0,9 % der Probe "Mikronisat gemäß SdT" in D23 und D65 nicht innerhalb des in Anspruch 1 für den Wassergehalt definierten Bereichs.
3.2.9 Drittens wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass mit den Experimenten von D23 und D65 Tiotropiumbromid mit unterschiedlichen Kristallmodifikationen verglichen wurde. Die Beschwerdeführerin verwies hierbei unter anderem auf die im Streitpatent (Absatz [0041]) und im Dokument D71 enthaltenen Kristalldaten. Daher sei jeder Vergleich ein Vergleich von "Äpfeln und Birnen", und es werde daher eine Wirkung geltend gemacht, die nicht glaubhaft auf das Unterscheidungsmerkmal zurückgehe.
3.2.10 Die Kammer teilt auch diese Auffassung nicht. Insbesondere ist, wie in der Beschwerdeerwiderung (Punkt c) beginnend auf Seite 24) ausgeführt, auch dies nicht zutreffend. Es ist zwar richtig, dass, wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt, Tiotropiumbromidanhydrat, welches einen Wassergehalt von 0 % aufweist, und Tiotropiumbromidmonohydrat sich nicht nur im Wassergehalt, sondern auch in der Kristallstruktur voneinander unterscheiden. Diese Formen werden aber in D23 und D65 nicht miteinander verglichen. Wie oben ausgeführt, wird in diesen Dokumenten ein mikronisiertes Tiotropiumbromid mit einem Wassergehalt von 0,9 % mit mikronisierten Tiotropiumbromiden mit Wassergehalten von 1,4 % und 2,7 % verglichen. Wie von der Beschwerdegegnerin schriftlich ausgeführt, fehlt jeglicher Nachweis seitens der Beschwerdeführerin, dass sich diese in D23 und D65 getesteten Proben zusätzlich in der Kristallstruktur unterscheiden. Ohne einen solchen Nachweis kann das Argument der Beschwerdeführerin nicht durchgreifen.
3.2.11 Schließlich wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass D23 und D65 eine technische Wirkung nur für eine bestimmte kristalline Form zeigen könnten. Da der Anspruch jedoch nicht auf eine bestimmte kristalline Form beschränkt sei, sei die von der Beschwerdeführerin herangezogene technische Wirkung der verbesserten Lagerstabilität nicht über den gesamten Anspruchsumfang gezeigt.
Auch diesem Argument kann sich die Kammer nicht anschließen. Wie oben ausgeführt, hat die Beschwerdegegnerin mit D23 und D65 Versuche vorgelegt, die die verbesserte Lagerstabilität gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik für zwei anspruchsgemäße Proben zeigen. Im Gegensatz hierzu fehlt jeglicher experimentelle Nachweis seitens der Beschwerdeführerin, dass eine von diesen beiden anspruchsgemäßen Proben verschiedene anspruchsgemäße Probe keine verbesserte Lagerstabilität zeige. In Ermangelung eines solchen experimentellen Nachweises kann auch dieses Argument der Beschwerdeführerin nicht durchgreifen.
3.2.12 Somit kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Daten in D23 und D65 die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte technische Wirkung einer verbesserten Lagerstabilität hinreichend zeigen.
3.3 Berücksichtigung der in D23 und D65 gezeigten technischen Wirkung im Lichte der G 2/21
3.3.1 Zusätzlich zu den oben diskutierten Punkten wurde von der Beschwerdeführerin argumentiert, dass die experimentellen Daten in D23 und D65 nachveröffentlicht seien und die ursprünglich eingereichte Anmeldung keinen Hinweis auf die in D23 und D65 gezeigte technische Wirkung einer verbesserten Lagerstabilität enthalte. Daher könne diese Wirkung nicht im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden.
3.3.2 Die Frage der möglichen Berücksichtigung einer technischen Wirkung wurde in der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/21 vom 23. März 2023 (ABl. EPA 2023, A85) erörtert.
3.3.3 Punkt 1 der Entscheidungsformel lautet wie folgt:
"Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, dürfen nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden."
Gemäß Punkt 1 der Entscheidungsformel schließt daher die Tatsache, dass D23 und D65 nachveröffentlicht sind, für sich genommen nicht aus, dass diese Beweismittel, welche die technische Wirkung der verbesserten Lagerstabilität zeigen (siehe Punkt 3.2 oben), berücksichtigt werden können.
3.3.4 Punkt 2 der Entscheidungsformel der Entscheidung G 2/21 lautet wie folgt:
"Ein Patentanmelder oder -inhaber kann sich zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird."
3.3.5 Seit Ergehen der Entscheidung G 2/21 sind daher für die Frage, ob im Rahmen der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit eine technische Wirkung anerkannt werden kann, die vorgenannten Erwägungen als maßgeblich heranzuziehen. Ausweislich des Wortlauts von Punkt 2 der Entscheidungsformel hat dabei die Prüfung, ob eine solche Wirkung aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung abzuleiten bzw. dieser zu entnehmen ist, anhand zweier Kriterien, nämlich "von der technischen Lehre umfasst" und "von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert" zu erfolgen. Dass es dabei auf die technische Lehre der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ankommt, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen, beispielsweise den Punkten 71 und 93.
3.3.6 In Punkt 71 führte die Große Beschwerdekammer aus, dass sie der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern als gemeinsame Basis entnehme, dass es im Kern um die Frage gehe, was der Fachmann - ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung - als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehe.
3.3.7 Wie oben dargelegt, beruft sich die Beschwerdegegnerin im vorliegenden Fall auf die mittels D23 und D65 nachgewiesene technische Wirkung einer verbesserten Lagerstabilität. Die Beurteilung, ob diese technische Wirkung bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden kann, muss daher aus der Perspektive des Fachmanns, der unter Heranziehung seines allgemeinen Fachwissens von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausgeht, erfolgen.
Aus dieser spezifischen Perspektive des Fachmanns ist zu beurteilen, ob die genannte technische Wirkung als "von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert" ableitbar ist.
3.3.8 Nach Auffassung der Kammer handelt es sich ferner bei der Ableitbarkeit als "von der technischen Lehre umfasst" und "von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert" um zwei Kriterien, die kumulativ erfüllt sein müssen.
3.3.9 In diesem Zusammenhang ist nach Auffassung der Kammer auch Punkt 93 der Entscheidungsgründe der G 2/21 von besonderer Bedeutung. Dieser lautet wie folgt:
"Der maßgebliche Standard für die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung bei der Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand eine erfinderische Tätigkeit aufweist, ist die Frage, was der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehen würde. Die - auch zu einem späteren Zeitpunkt - geltend gemachte technische Wirkung muss von dieser technischen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern, denn eine solche Wirkung ändert nicht die Art der beanspruchten Erfindung".
3.3.10 Aus diesen Ausführungen der Großen Beschwerdekammer geht hervor, dass eine technische Wirkung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, d. h. nach dem Anmeldetag, im Verfahren geltend gemacht werden kann. Es ist für die Anerkennung einer technischen Wirkung im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dabei nicht Voraussetzung, dass diese geltend gemachte Wirkung in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ausdrücklich genannt oder darin nachgewiesen sein müsste. Vielmehr kann eine durch nachveröffentlichte Beweismittel nachgewiesene technische Wirkung im Sinne des Punktes 2 der Entscheidungsformel der G 2/21 dann anerkannt werden, wenn sie als von der technischen Lehre der ursprünglich eingereichten Anmeldung umfasst und als von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert ableitbar ist. Dies wiederum bedeutet, dass im Hinblick auf diese technische Wirkung die Art der beanspruchten Erfindung gegenüber dieser ursprünglich offenbarten Erfindung nicht verändert wird.
3.3.11 In diesem Zusammenhang sind, wie von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die folgenden Textstellen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung von besonderer Bedeutung:
Auf Seite 1, Zeile 22 bis Seite 2, Zeile 2 wird offenbart, dass Tiotropiumbromid ein hochwirksames Anticholinergikum darstellt und bei der Therapie von Asthma oder einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung einen therapeutischen Nutzen entfalten kann. Es wird darauf hingewiesen, dass die Applikation von Tiotropiumbromid vorzugsweise auf inhalativem Wege erfolgt und dass es im Hinblick auf die inhalative Applikation von Tiotropiumbromid erforderlich ist, den Wirkstoff in mikronisierter Form bereitzustellen. Vorzugsweise weist der Wirkstoff dabei eine mittlere Teilchengröße von 0,5 mym bis 10 mym, bevorzugt von 1 mym bis 6 mym, besonders bevorzugt von 1,5 mym bis 5 mym, auf.
Gemäß Seite 2, Zeile 14 bis 18 ist es
"...Aufgabe der vorliegenden Erfindung, ein Verfahren bereitzustellen, welches mikronisiertes Tiotropiumbromid in einer Form zugänglich macht, die den hohen, an einen inhalativ applizierten Wirkstoff zu richtenden Anforderungen genügt und dabei den spezifischen Eigenschaften des Tiotropiumbromids Rechnung trägt."
Laut Seite 6, Zeile 28 bis 30 besteht ein weiterer Aspekt der vorliegenden Erfindung in einem
"Inhalationspulver gekennzeichnet durch einen Gehalt an erfindungsgemäßem Tiotropiumbromidmikronisat."
Schließlich offenbart Seite 7, Zeile 5 bis 8:
"Dementsprechend zielt die vorliegende Erfindung auf Inhalationspulver enthaltend wenigstens etwa 0,03 %, vorzugsweise unter 5 %, besonders bevorzugt unter 3 %
des nach vorstehend beschriebenem Verfahren erhältlichen Tiotropiumbromidmikronisats..."
3.3.12 Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung konzentriert sich daher auf die Anwendung der anspruchsgemäßen Mikronisate als Inhalationspulver und lehrt, dass für die Verabreichung durch Inhalation ein bestimmter Partikelgrößenbereich erforderlich ist. Da zwischen der Herstellung eines Arzneimittels und seiner Verabreichung notwendigerweise eine gewisse Zeit vergeht, lässt sich aus der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht ableiten, dass die Partikelgrößenstabilität (entsprechend der in D23 und D65 nachgewiesenen Lagerstabilität) eine wesentliche Voraussetzung für die anmeldungsgemäße Verabreichung des Arzneimittels darstellt.
3.3.13 Zudem war, wie von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dem Fachmann vor dem Prioritätstag der Anmeldung allgemein bekannt, dass die Stabilität der Partikelgröße für die Verabreichung eines Arzneimittels durch Inhalation von entscheidender Bedeutung ist. Als Nachweis des allgemeinen Fachwissens nahm die Beschwerdegegnerin auf die Dokumente D1, D16a, D16b und D17 Bezug.
D1 ist ein 1998 veröffentlichter Review-Artikel und betrifft Trockenpulverformulierungen für die pulmonale (d.h. inhalative) Verabreichung ("Dry powder formulations for pulmonary delivery"). Es wird angegeben, dass die maximale Partikelgröße für die Ablagerung in den zentralen Atemwegen 5 mym und für die Ablagerung in der Peripherie/Tiefe der Lunge 2 bis 3 mym beträgt. Größere Partikel werden von den Schutzvorrichtungen der Lunge zurückgehalten, während Partikel, die kleiner als 0,5 mym sind, ausgeatmet werden (D1, Seite 395, linke Spalte, Zeile 1 bis 5).
D1 zeigt daher, dass es dem Fachmann allgemein bekannt war, dass die Partikelgröße ein entscheidender Faktor für die inhalative Verabreichung eines Medikaments ist.
D16a ist ein Auszug aus einem 2001 veröffentlichten Buch mit dem Titel "Particulate interactions in dry powder formulations for inhalation". In Abschnitt 3.6.1 (Seite 86, erster Satz) heißt es, dass die Ablagerungseigenschaften und die Wirksamkeit eines Aerosols weitgehend von der Partikelgröße abhängen. In demselben Buch (D16b; Seite 136, Abschnitt 5.1) wird festgestellt, dass es allgemein anerkannt ist, dass Medikamentenpartikel einen aerodynamischen Durchmesser zwischen 1 und 5 mym haben müssen, damit das Medikament in die unteren Atemwege gelangen kann.
D17 ist ein Dokument der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) mit dem Titel "Guidance for Industry" (Leitfaden für die Industrie) und betrifft Arzneimittel zur Inhalation ("Metered Dose Inhaler (MDI) and Dry Powder Inhaler (DPI) Drug Products"). Dieses Dokument lehrt, dass die Partikelgrößenverteilung (unter anderem) von entscheidender Bedeutung ist, und dass ihre Einhaltung während des Haltbarkeitszeitraums wahrscheinlich die größte Herausforderung darstellt (Zeile 103 bis 105). Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Partikelgrößenverteilung eines Arzneimittels in der Formulierung bei der Anfangsdosis und der Enddosis ermittelt und überwacht werden solle (Zeilen 792 bis 974).
3.3.14 Ausgehend von seinem oben genannten Fachwissen betreffend die notwendige Partikelgrößen/Partikelgrößenverteilung beim Einsatz von Inhalationspulvern zur medizinischen Verabreichung würde der Fachmann auf Grundlage der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung erkennen, dass das Tiotropiumbromid aufgrund der offenbarten Partikelgrößen und dessen Einsatzweck auch eine adäquate Stabilität der Partikelgrößen aufweist. Diese Stabilität entspricht der von der Beschwerdegegnerin für die erfinderische Tätigkeit herangezogenen technischen Wirkung der Lagerstabilität. Der Fachmann würde daher aus der in der ursprünglich eingereichten Anmeldung beschriebenen Anwendung des anspruchsgemäßen Mikronisats als Inhalationsprodukt direkt auf die Lagerstabilität dieses Produktes schließen. Der ursprünglich eingereichten Anmeldung oder dem allgemeinen Fachwissen kann nichts entnommen werden, was das Erreichen dieser Lagerstabilität durch den Anspruchsgegenstand begründet in Zweifel zieht, und ein solcher Zweifel wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht geäußert. Es ist somit aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung ableitbar, dass diese technische Wirkung von der technischen Lehre der Anmeldung umfasst und von der derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird.
3.3.15 Hierbei erkennt die Kammer an, dass die aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung im Sinne des Punktes 2 der Entscheidungsformel der G 2/21 ableitbare technische Wirkung in einer Lagerstabilität als solcher besteht, während es sich bei der durch D23 und D65 gezeigten Wirkung um die Verbesserung eben dieser Lagerstabilität gegenüber dem zitierten nächstliegenden Stand der Technik handelt.
3.3.16 Nach Ansicht der Kammer gilt, sobald das oben genannten Kriterium der Ableitbarkeit einer technischen Wirkung erfüllt ist, dies gleichermaßen für die Verbesserung dieser Wirkung. Konkret wird der Fachmann, auch wenn er über keine erfinderischen Fähigkeiten verfügt, in jedem Bereich der Technologie nach Weiterentwicklungen oder technischen Verbesserungen streben. Wenn also eine bestimmte technische Wirkung, wie im vorliegenden Fall die Lagerstabilität, für den Fachmann im Sinne der Entscheidungsformel, Punkt 2 der Entscheidung G 2/21 aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung ableitbar ist, ist auch deren Verbesserung als implizit ableitbar zu betrachten.
3.3.17 Somit steht die Tatsache, dass die von der Beschwerdegegnerin herangezogene technische Wirkung in einer Lagerstabilität besteht, die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik verbessert ist, deren Berücksichtigung im Lichte der Entscheidung G 2/21 nicht entgegen.
3.3.18 Folglich ändert die in den nachveröffentlichten Dokumenten D23 und D65 gezeigte technische Wirkung der verbesserten Lagerstabilität auch nicht die Art der beanspruchten Erfindung.
3.3.19 Die in D23 und D65 gezeigte verbesserte Lagerstabilität kann daher im Lichte der Entscheidung G 2/21 berücksichtigt werden.
3.4 Die objektive technische Aufgabe
Auf der Grundlage der technischen Wirkung der verbesserten Lagerstabilität liegt die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung eines Tiotropium-Inhalationspulvers mit verbesserter Lagerstabilität.
3.5 Naheliegen der Lösung
Weder in D9, noch in dem von der Beschwerdeführerin angeführten weiteren Stand der Technik gibt es einen Hinweis darauf, dass diese Aufgabe durch das kristalline Mikronisat des Anspruchs 1 gelöst werden kann. Die Beschwerdeführerin hat auch keine Argumente dafür vorgebracht, dass der beanspruchte Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen würde, wenn die technische Wirkung der verbesserten Lagerstabilität anerkannt und berücksichtigt würde.
3.6 Aus den oben genannten Gründen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass ausgehend von D9 der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ beruht.
4. Ausgehend von D14 als nächstliegendem Stand der Technik
4.1 D14 ist eine Ankündigung des Neuseeländischen Gesundheitsministers über die Zulassung von "Spiriva", welches Tiotropiumbromidmonohydrat enthält. Die Darreichungsform wird als pulvergefüllte Inhalationskapsel ("powder-filled inhalation capsule") angegeben (D14, Seite 3594, letztes Produkt). In D14 wird keiner der beanspruchten Parameter explizit erwähnt.
4.2 Die Beschwerdeführerin erkannte an, dass sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von D14 durch folgende Merkmale unterscheidet:
- das Merkmal, dass der Wirkstoff kristallin ist,
- ein spezifischer Oberflächenwert zwischen 2 m**(2)/g und 5 m**(2)/g und
- eine spezifische Lösungswärme von größer 65 Ws/g.
4.3 Die in D23 und D65 enthaltenen Daten belegen, dass das beanspruchte, die obigen Merkmale aufweisende Mikronisat eine gute Lagerstabilität aufweist. Die objektive technische Aufgabe ist daher in der Bereitstellung einer Form von Tiotropiumbromid zur Inhalation mit guter Lagerstabilität zu sehen.
4.4 Weder D14 noch ein anderes Dokument lehrt den Fachmann, dass diese Aufgabe mit einer Form von Tiotropiumbromid nach Anspruch 1 gelöst werden kann.
4.5 Aus den oben genannten Gründen ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass auch ausgehend von D14 der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ beruht.
5. Schlussfolgerung
Keiner der von der Beschwerdeführerin gegen den Hauptantrag erhobenen Einwände ist überzeugend. Die einzige verbliebene Beschwerde der Einsprechenden 2 ist daher zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.