T 0270/22 (Staubsaugerfilterbeutel/EUROFILTERS) 20-02-2024
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STAUBSAUGERFILTERBEUTEL AUS RECYCLIERTEN KUNSTSTOFFEN
Hauptantrag und Hilfsantrag 1: Zulässigkeit der Änderung - (nein)
Hilfsantrag 2: Gewährbarkeit der Streichung eines Merkmals ohne technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung - (ja)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) betrifft die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent EP 3 219 376 B1 zu widerrufen.
II. Unter anderem war das folgende Dokument Gegenstand im Einspruchsverfahren:
D8|DIN EN 15347, "Kunststoffe - Kunststoff-Rezyklate - Charakterisierung von Kunststoffabfällen; Deutsche Fassung EN 15347:2007", Februar 2008, 1-9|
III. Die Einspruchsabteilung war zum Schluss gelangt, dass alle Anspruchssätze, d.h. der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 15, entweder die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ, oder die von Artikel 123(3) EPÜ nicht erfüllen.
IV. Im Beschwerdeverfahren hielt die Beschwerdeführerin den Hauptantrag des Einspruchsverfahrens (Zurückweisung des Einspruchs) aufrecht und reichte zusätzlich Hilfsanträge ein.
V. Anspruch 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 lautet wie folgt:
"1. Staubsaugerfilterbeutel, umfassend einen Innenraum umschließende Wandung aus einem luftdurchlässigen Material sowie eine in die Wandung eingebrachte Einlassöffnung,
dadurch gekennzeichnet, dass das luftdurchlässige Material mindestens eine Lage eines Vliesstoffes und/oder eine Lage aus einem Faservlies umfasst, der bzw. das Fasern umfasst oder hieraus besteht, die aus einem recyclierten Kunststoff oder mehreren recyclierten Kunststoffen gemäß der Norm DIN EN 15347:2007 gebildet sind."
VI. Im Vergleich zu Anspruch 1 des Hauptantrags wurde im Anspruch 1 von Hilfsantrag 2 das Merkmal "gemäß der Norm DIN EN 15347:2007" gestrichen.
Anspruch 14 von Hilfsantrag 2 lautet wie folgt:
"14. Verwendung von recyclierten Kunststoffen für die Herstellung von Vliesstoffen und/oder Faservliesen für Staubsaugerfilterbeutel."
Die Ansprüche 2 bis 13 beschreiben bevorzugte Ausführungsformen des beanspruchten Staubsaugerfilterbeutels gemäß Anspruch 1.
VII. Die Patentinhaberin trug zusammengefasst vor, alle Anspruchssätze erfüllten die Erfordernisse von Artikel 123(2) und (3) EPÜ.
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) trug zusammengefasst vor, Hauptantrag und Hilfsantrag 1 verletzten die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ und Hilfsantrag 2 jene des Artikels 123(3) EPÜ.
IX. Die Beschwerdeführerin beantragt, den Einspruch unter Aufhebung und Abänderung der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt sie, das Patent in geänderter Form auf der Basis eines der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 33 aufrechtzuerhalten.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
1. Hauptantrag: Artikel 123(2) EPÜ
Aus den folgenden Gründen erfüllt Anspruch 1 nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ, wie auch schon von der Einspruchsabteilung geschlussfolgert:
Im Vergleich zu Anspruch 1 wie ursprünglich eingereicht, ist im Produktanspruch 1 des Streitpatents präzisiert, dass Fasern des Vliesstoffes/Faservlieses aus einem (oder mehreren) recyclierten Kunststoffen "gemäß der Norm DIN EN 15347:2007" gebildet sind.
Wie unten darzulegen, hat das eingefügte Merkmal keinerlei technische Einschränkung zur Folge. Entgegen der Ansicht der Patentinhaberin muss aber auch der beanspruchte Gegenstand nach Aufnahme eines solchen Merkmals eindeutig und unmittelbar in der ursprünglichen Anmeldung offenbart sein (siehe z.B. den Leitsatz von T 619/05).
Die einzige Stelle in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht, die diese Norm (siehe dazu die deutsche Fassung D8) erwähnt, ist der erste vollständige Absatz auf Seite 3, welcher lautet:
"Der für die Zwecke der vorliegenden Erfindung verwendete Begriff 'recyclierter Kunststoff' ist dabei synonym zu verstehen zu Kunststoff-Rezyclaten. Zur begrifflichen Definition wird hierbei auf die Norm DIN EN 15347:2007 verwiesen."
Dieser Abschnitt besagt jedoch nicht, dass Fasern des Vliesstoffes/Faservlieses aus einem (oder mehreren) recyclierten Kunststoffen gemäß der Norm DIN EN 15347:2007 gebildet sind, wie es Anspruch 1 erfordert.
Der Ausdruck "[z]ur begrifflichen Definition" auf Seite 3 stellt lediglich klar, dass bestimmte Begriffe - wie möglicherweise die vorangegangenen Begriffe "recyclierter Kunststoff" und/oder "Kunststoff-Rezyclat[e]" - im Sinne dieser Norm zu verstehen sind.
Es kann sich dabei auch nicht um Kunststofffasern gemäß dieser Norm handeln, da sich diese Norm nicht mit der Charakterisierung von recycliertem Kunststoff/Kunststoff-Rezyklaten befasst (wie auf Seite 5 ganz am Ende von Punkt 1 der D8 ausdrücklich angemerkt wird), sondern mit der Charakterisierung von Kunststoff-Abfällen (siehe den ersten Satz von Punkt 1), also dem Ausgangsprodukt vor dem Recycling.
Das Merkmal "gemäß der Norm DIN EN 15347:2007" im erteilten Anspruch 1 geht daher über die ursprüngliche Offenbarung hinaus (Artikel 123(2) EPÜ).
2. Hilfsantrag 1: Artikel 123(2) EPÜ
In Hilfsantrag 1 wurde im Vergleich zum Hauptantrag der Verwendungsanspruch gestrichen.
Für den im Vergleich zum Hauptantrag unveränderten Produktanspruch 1 gelten jedoch die Schlussfolgerungen von Punkt 1. unverändert (Artikel 123(2) EPÜ).
3. Hilfsantrag 2: Artikel 123(3) EPÜ
Bei Hilfsantrag 2 handelt es sich um Hilfsantrag 1 der angefochtenen Entscheidung, in welchem das Merkmal "gemäß Norm DIN EN 15347:2007" in den Ansprüchen 1 und 14 wieder gestrichen wurde.
3.1 Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin besitze dieses Merkmal technische Relevanz. So unterscheide die Norm D8 zwischen normgemäßen und nicht-normgemäßen Kunststoffen und schränke daher den Fundus der zur Verfügung stehenden Kunststoffe ein.
Ein konkretes Beispiel für eine Erweiterung des Schutzumfangs sei nach der Beschwerdegegnerin folgendes: Angenommen, man stelle aus normgemäßen Kunststoffen Fasern im Sinne des erteilten Anspruchs her. Würde dieser Kunststoff eingeschmolzen, dann wären daraus wiederum hergestellte Fasern nicht mehr normgemäß und würden daher nicht unter den erteilten Anspruch fallen, wohl aber unter den Anspruch von Hilfsantrag 2.
3.2 Das überzeugt nicht.
Nach G 1/93 ist es statthaft, ein nicht offenbartes Merkmal ohne jegliche technische Bedeutung aus einem Anspruch zu streichen, ohne dass gegen Artikel 123(3) EPÜ verstoßen wird. Punkt 4 der Entscheidungsgründe sagt folgendes: "Strittig dürfte auch nicht die in der Sache T 231/89 vertretene Auffassung sein, daß ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal ohne jegliche technische Bedeutung aus einem Anspruch gestrichen werden kann, ohne daß gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird".
Dies trifft auch im vorliegenden Fall zu, da die Norm D8 (siehe Punkt 1 auf Seite 5) lediglich ein "Schema für die Charakterisierung von Kunststoffabfällen" (Hervorhebung durch die Kammer) liefert, also eine Art Etikettierung des Ausgangsmaterials für die Herstellung der Fasern.
Dagegen stellt die Norm ausdrücklich keine Anforderungen an die Kunststoff-Rezyklate selbst (siehe die "Anmerkung" in Punkt 1 auf Seite 5 von D8).
So sind auch die von D8 "geforderten Daten" bzw. "freiwilligen Daten" für Kunststoffabfälle (ebd. sowie die Tabellen 1 und 2 auf Seite 7) keine technischen Merkmale des recyclierten Kunstoffes bzw. der recyclierten Kunststoffe an sich. Nach dieser Norm kann ein Kunststoffabfall außerdem auch mit dem Etikett "Nicht klassifiziert" bzw. "Keine Informationen" versehen werden (siehe den ersten Absatz von Punkt 4.2 oder auch die "Anmerkung" in Tabelle 1). Nirgends in D8 wird somit ausgesagt, dass bestimmte Kunststoffabfälle nicht verwendet werden dürfen.
Selbst die mögliche Beeinträchtigung durch Verunreinigungen (letzter Absatz der Einleitung auf Seite 4) stellt keinen Ausschluss von Kunststoffabfällen dar.
Das in der erteilten Fassung eingefügte Merkmal impliziert höchstens, dass es sich bei dem Ausgangsstoff für den recyclierten Kunststoff um Kunststoffabfall bzw -abfälle handelt. Dies ist aber auch nach dem Streichen des Merkmals der Fall, da sich Anspruch 1 immer noch auf recyclierte(n) Kunststoff(e) bezieht. Wenn ein Kunststoff recycliert werden soll, ist er zwingend ein Kunststoffabfall, denn nur ein Abfall kann recycliert werden kann.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin ist auch der in Abschnitt [0024] des Streitpatents genannte "pre-consumer waste" Abfall. Dies stellt auch Abschnitt [0023] des Streitpatents klar, der von "Abfallmaterialien" spricht.
Insofern stellt das eingefügte Merkmal keine weitere Einschränkung des Fundus der verwendbaren Kunststoffabfälle dar und kann gestrichen werden, ohne Artikel 123(3) EPÜ zu verletzen.
4. Zurückverweisung
Die angefochtene Entscheidung hat lediglich zu den Erfordernissen von Artikel 123 EPÜ Stellung genommen.
Dies stellt besondere Gründe im Sinne von Artikel 11 VOBK 2020 dar. Deshalb ist der Fall an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen (Artikel 111(1) EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.