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T 0097/90 (Schmiermittel) 13-11-1991
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1. Der Wortlaut des Artikels 114 (1) EPÜ bedeutet nicht, daß die Beschwerdekammern das erstinstanzliche Verfahren neu aufrollen müssen mit dem unbeschränkten Recht und sogar der Pflicht, alles neue Material ungeachtet der Frage zu prüfen, wie spät es vorgebracht wurde. Die Artikel 114 (2) und 111 (1) EPÜ begrenzen den Umfang etwaigen neuen Materials, das von den Beteiligten in ein Beschwerdeverfahren eingeführt werden darf, insofern, als Beschwerdesachen mit den in erster Instanz entschiedenen Fällen identisch oder eng verwandt sein und auch bleiben müssen (im Anschluß an T 26/88, ABl. EPA 1991, 30, T 326/87, ABl. EPA 1992, 522, T 611/90, ABl. EPA 1993, 50).
2. Führen verspätet in das Beschwerdeverfahren eingeführte neue Beweismittel, Argumente oder sonstiges Material zu einem Fall, der sich von dem erstinstanzlich entschiedenen erheblich unterscheidet, so sollte er an die erste Instanz zurückverwiesen werden, wenn der Grundsatz der Billigkeit gegenüber den Beteiligten dies erfordert; die Kosten sind hierbei dem Beteiligten aufzuerlegen, der die verspätete Einführung in das Beschwerdeverfahren zu vertreten hat (vgl. Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
3. Fälle, in denen ein völlig neuer Einwand im Beschwerdeverfahren verspätet vorgebracht wird, sollten nur dann an die erste Instanz zurückverwiesen werden, wenn die Zulassung des neuen Einwands zum Widerruf des Patents führen würde (im Anschluß an T 416/87, ABl. EPA 1990, 415). Ist das Patent in seinem Bestand nicht gefährdet, so kann es die Kammer entweder ablehnen, den völlig neuen Einwand zuzulassen, oder sie kann ihn im Beschwerdeverfahren zulassen und gegen den Einsprechenden entscheiden. Die letztgenannte Lösung ist unter Umständen vorzuziehen, denn sie führt zu einer ausführlichen schriftlichen Begründung, die in einem Rechtsstreit vor nationalen Gerichten gegebenenfalls von Nutzen sein kann (vgl. Nr. 2, letzter Absatz der Entscheidungsgründe).
Neuheit (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit (bejaht)
Zweck des Beschwerdeverfahrens
Verspätet vorgebrachter neuer Einwand - ausnahmsweise zugelassen
I. Die Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 145 150 wurde am 13. Januar 1988 bekanntgemacht (vgl. Patentblatt 88/02); dem Patent lag die europäische Patentanmeldung Nr. 84 306 559.0 zugrunde. ...
II. Am 15. Oktober 1988 wurde Einspruch eingelegt und der Widerruf des Patents wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit beantragt; sonstige Gründe wurden nicht geltend gemacht. Der Einspruch wurde auf die folgenden entscheidungserheblichen Dokumente gestützt:
(1) Derwent-Referat 26 384 W/16, beruhend auf der Druckschrift JP-A-48 053 093
(1a) Übersetzung der Tabelle 1 der Druckschrift JP-A-48 053 093
(2) US-A-3 234 252
(3) DE-B-2 149 715
(4) DE-A-2 502 155
(5) GB-A-1 371 956
III. Mit Entscheidung vom 18. Dezember 1989 wies die Einspruchsabteilung den Einspruch mit der Begründung zurück, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei neu. ... Sie vertrat auch die Auffassung, der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit. ...
IV. Am 6. Februar 1990 wurde gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt; die Beschwerdegebühr wurde am selben Tag entrichtet. Am 26. April 1990 wurde eine Beschwerdebegründung eingereicht.
V. Die Beschwerdeführerin machte geltend, daß es für den Fachmann naheliegend sei, die Polysiloxane der Zusammensetzungen nach der Entgegenhaltung 1 durch die Polysiloxane der Formel 1 des Streitpatents zu ersetzen, weil ...
VI. Die Beschwerdegegnerin hielt daran fest, daß die erforderliche erfinderische Tätigkeit gegeben sei ...
VII. In der mündlichen Verhandlung am 13. November 1991 machte die Beschwerdeführerin als neuen Einspruchseinwand mangelnde Neuheit geltend (vgl. Nr. II); sie wies darauf hin, daß die beanspruchten Zusammensetzungen durch die Offenbarung der in ihrer Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltung 2 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien.
Obwohl die Kammer das Vorgehen der Beschwerdeführerin, den neuen Einwand einzuführen, entschieden mißbilligte und es in ihrem Ermessen stand, sämtliches verspätet eingereichte Material nicht zu berücksichtigen (vgl. "Allgemeine Grundsätze für das Einspruchsverfahren im EPA", ABl. EPA 1989, 417, insbesondere die Nummern 2 und 13, und T 182/89, ABl. EPA 1991, 391, T 326/87, ABl. EPA 1992, 522 und T 611/90, ABl. EPA 1993, 50), beschloß sie, das verspätet eingereichte Material zuzulassen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Kammer und die Beschwerdegegnerin ohne weiteres in der Lage waren, sich mit ihm zu befassen, sowie aus den unter Nummer 2 dieser Entscheidung genannten Gründen.
In bezug auf den Einwand gegen die Neuheit räumte die Beschwerdegegnerin zwar ein, daß die Entgegenhaltung 2 Bestandteile in Mengen offenbare, die unter die beanspruchten Komponenten A, B und C fielen, machte aber geltend, daß die beanspruchten spezifischen Zusammensetzungen nur durch eine Ex- post-facto-Analyse dieser Entgegenhaltung entnommen werden könnten.
VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung, abgesehen von ...
IX. ...
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung wollte die Beschwerdeführerin einen völlig neuen Einspruchseinwand, nämlich eine Vorveröffentlichung, geltend machen. Sie räumte offen ein, sie hätte diesen Grund durchaus vor der Einspruchsabteilung vorbringen und ausführen können, konnte aber nicht erklären, warum sie dies nicht getan hatte.
Dieses verspätete Vorbringen eines neuen Einspruchseinwands, das auf die Einführung eines völlig neuen Sachverhalts hinausläuft, wirft die Frage nach dem Zweck des Beschwerdeverfahrens nach dem EPÜ auf.
In diesem Zusammenhang wird zuweilen behauptet, der Wortlaut des Artikels 114 (1) EPÜ
"In den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt ermittelt das Europäische Patentamt den Sachverhalt von Amts wegen ..."
bedeute, die Beschwerdekammern müßten praktisch das erstinstanzliche Verfahren neu aufrollen mit dem unbeschränkten Recht und sogar der Pflicht, alles neue Material ungeachtet der Frage zu prüfen, wie spät es vorgebracht wurde. Nach Auffassung der Kammer läßt eine solche Auslegung des Artikels 114 (1) EPÜ nicht nur den Zusammenhang mit dem zweiten Absatz des Artikels 114, sondern auch den mit dem Artikel 111 (1) EPÜ vermissen. Wird Artikel 114 (1) EPÜ in seinem Gesamtzusammenhang ausgelegt, so wird erkennbar, daß der Umfang etwaigen neuen Materials, das von den Beteiligten oder der Kammer selbst in ein Beschwerdeverfahren eingeführt werden darf, klar begrenzt ist, denn Beschwerdesachen müssen mit den in erster Instanz entschiedenen Fällen identisch oder eng verwandt sein und auch bleiben.
Diese Auslegung wird von der Rechtsprechung der Kammer eindeutig bestätigt, beispielsweise in den Entscheidungen T 26/88, ABl. EPA 1991, 30, T 326/87, ABl. EPA 1992, 522 und T 611/90, ABl. EPA 1993, 50 und auch in einer Reihe unveröffentlichter Entscheidungen, z. B. T 137/90, T 38/89 und T 153/85. Daraus folgt, daß ein Verfahren ungeachtet des Vorbringens oder der Anträge, für deren Zulassung sich die Kammern in Ausübung ihres richterlichen Ermessens entscheiden, immer ein Beschwerdeverfahren bleiben muß. Eine gute Beschreibung dessen, was ein Beschwerdeverfahren ist, enthält Nummer 12 der Entscheidungsgründe in der Sache T 26/88, wo es wie folgt heißt: "Nach Auffassung der Kammer liegt der wesentliche Zweck einer Beschwerde ... darin, zu untersuchen, ob eine von einem erstinstanzlichen Organ erlassene Entscheidung sachlich richtig ist ... Es ist eigentlich nicht die Aufgabe einer Beschwerdekammer, Fragen zu prüfen und zu entscheiden, die erstmals im Beschwerdeverfahren gestellt werden." Diese enge Auslegung des Artikels 114, insbesondere des Artikels 114 (1), wird auch vom Wortlaut des Artikels 111 (1) letzter Satz EPÜ bestätigt, der eindeutig besagt, daß es Fälle gibt, die von einer Beschwerdekammer an die erste Instanz zurückverwiesen werden müssen; eine solche Zurückverweisung wäre völlig überflüssig, wenn die Beschwerdekammern sämtliches neue Material unbeschadet des Zeitpunkts seiner Einführung in das Verfahren prüfen oder sogar eine ausgedehnte, erschöpfende Untersuchung von Material durchführen müßten, das ihnen von den Beteiligten überhaupt nicht vorgelegt worden ist. Mit anderen Worten: Eine solche generelle Verpflichtung zur Prüfung sämtlichen Materials ungeachtet der Frage, wie spät es eingereicht worden ist, würde die Tätigkeit der erstinstanzlichen Organe entweder überflüssig machen oder ihre Aufgabe darauf beschränken, lediglich eine vorläufige Auffassung im Hinblick auf eine spätere richterliche Überprüfung und Entscheidung durch die Beschwerdekammern darzulegen.
Dennoch herrscht selten Klarheit darüber, wie die Beschwerdekammern vorgehen müssen, wenn Material verspätet eingereicht wird. In der vorstehend erwähnten Entscheidung T 326/87 vertrat die Kammer beispielsweise die Auffassung, daß bei verspätet in das Beschwerdeverfahren eingeführten neuen Beweismitteln, Argumenten oder sonstigem Material, das zu einem Fall führt, der sich von dem erstinstanzlich entschiedenen erheblich unterscheidet, dieser in der Regel an die erste Instanz zurückverwiesen werden sollte, damit die Beteiligten in den Genuß zweier Instanzen kommen. In ihrer ebenfalls bereits genannten Entscheidung T 611/90 legte die Beschwerdekammer das Kriterium "in der Regel" jedoch so aus, daß eine solche Zurückverweisung nur dann erfolgen sollte, wenn der Grundsatz der Billigkeit gegenüber den Beteiligten dies erfordert. In dem betreffenden Fall hatte die Kammer entschieden, eine völlig neue Frage, die noch nie vorgebracht, untermauert, geschweige denn geltend gemacht worden war (öffentliche Vorbenutzung), an die erste Instanz zurückzuverweisen, wobei sie die Kosten dem Beteiligten auferlegte, der ihre verspätete Einführung in das Beschwerdeverfahren zu vertreten hatte. Der Grund für diese Entscheidung ist natürlich der, daß das Vorbringen eines völlig neuen Einwands, wie im vorliegenden Fall geschehen, die extremste Art der Vorlage eines neuen Falls ist; verspätet vorgebrachte Tatsachen, Beweismittel und Anträge können möglicherweise zu solch einem neuen Fall führen, aber das Vorbringen eines völlig neuen Einwands im Beschwerdeverfahren muß diese Wirkung zwangsläufig haben.
Allerdings folgt aus der Entscheidung T 611/90 nicht, daß alle Fälle, in denen ein neuer Einwand im Beschwerdeverfahren verspätet vorgebracht wird, an die erste Instanz zurückverwiesen werden müssen. Die Kammer ist im Gegenteil der Auffassung, daß eine solche Zurückverweisung nur dann erfolgen sollte, wenn die Zulassung des neuen Einwands im Beschwerdeverfahren zum Widerruf des Patents führen würde.
Diese Vorgehensweise stimmt mit der Begründung der Entscheidung T 416/87 (ABl. EPA 1990, 415) völlig überein, wo die Kammer unter Nummer 9 der Entscheidungsgründe ausführte, daß "ein Dokument, das vom Einsprechenden erstmals in der Beschwerdephase ... herangezogen wird ..., in der Regel an die erste Instanz zurückverwiesen werden sollte, ... wenn die Kammer das neu eingeführte Dokument für so bedeutsam hält, daß sie die Aufrechterhaltung des Patents gefährdet sieht". Diese Handlungsweise hat ihren Grund natürlich darin, daß die Entscheidung der Kammer, ein Patent zu widerrufen, endgültig wäre.
In Fällen, in denen das Patent in seinem Bestand nicht gefährdet ist, hat die Kammer die Wahl zwischen zwei Maßnahmen: a) Sie kann es ablehnen, den neuen Einwand zuzulassen; b) sie kann den neuen Einwand im Beschwerdeverfahren zulassen und gegen den Einsprechenden entscheiden. Nach Auffassung der Kammer ist die letztgenannte Maßnahme in der Regel vorzuziehen, denn sie führt (in der schriftlichen Entscheidung) zu einer ausführlichen Begründung, die in einem etwaigen späteren Rechtsstreit vor den nationalen Gerichten hilfreich sein kann. Natürlich kann es, wie in der Entscheidung T 611/90, auch Fälle geben, in denen es der verspätet geltend gemachte Einwand seiner Natur nach der Kammer unmöglich macht, auch nur zu einer Vorabentscheidung zu gelangen, weil die Frage vollständig von der Glaubwürdigkeit von Beweismitteln abhängt, die der Patentinhaber aus Zeitgründen nicht prüfen und schon gar nicht zu widerlegen versuchen konnte. Im vorliegenden Fall wird als neuer Grund eine Vorveröffentlichung geltend gemacht, und obwohl die Patentinhaberin nur eine vorläufige Stellungnahme abgeben und die von der Einsprechenden vorgebrachten Argumente nur ansatzweise erwidern konnte, war die Kammer auf der Grundlage dieser Argumente sowie ihrer Ermittlungen von Amts wegen gemäß Artikel 114 (1) EPÜ in der Lage, zu einer Entscheidung zu gelangen.
3. Zu klären sind deshalb die Fragen, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
4. Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 wurde von der Beschwerdeführerin auf der Grundlage der Entgegenhaltung 2 bestritten.
Unter diesen Umständen ist die Kammer überzeugt, daß die Entgegenhaltung 2 die spezifische Kombination der drei obligatorischen Komponenten, die in Anspruch 1 des angefochtenen Patents definiert sind, nicht offenbart.
In diesem Zusammenhang weist die Kammer darauf hin, daß die Entgegenhaltung 2 und die darin offenbarten besonderen Bestandteile von der Beschwerdeführerin in Kenntnis der beanspruchten Zusammensetzungen genannt worden sind und daß das Vorhandensein der in der Entgegenhaltung 2 erwähnten Bestandteile, die unter die beanspruchten Zusammensetzungen fallen, nicht zwangsläufig eine patentierbare Auswahl aus dem breiten Spektrum möglicher Kombinationen dieser offenbarten Bestandteile ausschließt.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
3. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent in der erteilten Fassung, aber mit den im Antrag der Beschwerdegegnerin enthaltenen Änderungen aufrechtzuerhalten.