T 0513/90 (Geschäumte Körper) 19-12-1991
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Erfinderische Tätigkeit (verneint)
Naheliegen - zwangsläufige Auswahl in der Praxis
I. Auf die am 4. August 1982 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 82 107 059.6 wurde am 27. März 1983 das europäische Patent Nr. 0 072 499 mit drei Ansprüchen erteilt. Anspruch 1 des Patents lautet wie folgt:
"1. Verfahren zur Herstellung geschäumter Formkörper aus Polypropylen-Harz, dadurch gekennzeichnet, daß man vorgeschäumte Teilchen aus einem Ethylen/Propylen-Copolymer mit einem Schmelzindex von 0,1 bis 25, einer latenten Kristallisationswärme von nicht mehr als 28 cal/g (117,2 J/g) und einem Ethylengehalt von 1 bis 30 Gew.-% als Ausgangsharz mit einem anorganischen Gas oder einer gasförmigen Mischung aus einem anorganischen Gas und einem flüchtigen Treibmittel unter Druck setzt, um den Druck im Inneren der Teilchen zu erhöhen, danach die Teilchen in eine Form einbringt, die die Teilchen einschließt, Gase jedoch entweichen läßt, und anschließend die Teilchen erhitzt, damit sie zur Gestalt der Form expandieren"
II. Gegen die Erteilung des Patents wurde von mehreren Seiten Einspruch eingelegt. In einer am 5. April 1990 mündlich verkündeten und am 28. Mai 1990 schriftlich erlassenen Entscheidung widerrief die Einspruchsabteilung das Patent mit der Begründung, daß der Gegenstand der Patentansprüche in Anbetracht der folgenden Veröffentlichungen keine erfinderische Tätigkeit aufweise:
(D1) DE-A-2 363 923
(D6) EP-A-0 053 333
(D8) Ullmanns Encyklopädie der technischen Chemie, 4. Auflage, Band 19, 1980, S. 206 - 207
(E1) zwei Untersuchungsberichte des Torey Research Center, Inc. vom 20.12.1984 zur Analyse marktgängiger Polypropylen-Harze (Berichte 1 und 2)
(E3) Katalog der Sumitomo Chemical Co, Ltd. für Polypropylen-Harze "Sumitomo Noblen"
III. Die Entscheidung stützt sich auf die Druckschrift D1, die den nächstliegenden Stand der Technik bildet und in der verschäumte Formkörper aus Polyolefin-Harz geringer Dichte und komplexer Gestalt, darunter solche auf der Basis von Ethylen/Polyolefin-Harzen offenbart sind. Nach Meinung der Einspruchsabteilung bestand die Aufgabe des Fachmanns daher darin, die Offenbarung entsprechend anzupassen und auf marktgängige Ethylen/Polypropylen-Harze abzustimmen. Schon zum maßgeblichen Zeitpunkt seien bei solchen Kunststoffen die nun im Anspruch des Streitpatents für den betreffenden Zweck angegebenen Eigenschaften allgemein bekannt gewesen; es habe also nahegelegen, das dort beschriebene Verfahren in der Praxis anzuwenden.
IV. Gegen die Entscheidung legte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 26. Juni 1990 unter Entrichtung der Gebühr Beschwerde ein; eine Beschwerdebegründung wurde am 8. Oktober 1990 eingereicht.
V. Die Beschwerdeführerin brachte in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 1991 im wesentlichen folgende Argumente vor:
a) Aus der Druckschrift D1 gehe allenfalls hervor, daß vernetzte Polyolefin-Harze als Kunststoffe zu bevorzugen seien, während das Streitpatent in erster Linie auf unvernetzte Kunststoffe gerichtet sei. Vor dem Prioritätstag des Streitpatents sei man allgemein davon ausgegangen, daß die Vernetzung eine unerläßliche Voraussetzung für das Verschäumen der Teilchen sei.
b) Durch die Vernetzung werde allerdings - gegenüber unvernetzten Varianten - die Fließfähigkeit verringert und der Schmelzindex herabgesetzt. Vernetzte Kunststoffe entsprächen daher nicht unbedingt den patentgemäßen Polymeren mit einem Schmelzindex zwischen 0,1 und 25.
c) Die Dokumente, die als Beleg für den allgemeinen Wissensstand oder die Verfügbarkeit bestimmter Kunststoffe herangezogen worden seien, seien nach dem Prioritätstag des Patents veröffentlicht worden oder bezögen sich auf andere Rahmenbedingungen als die für die Herstellung geschäumter Körper maßgeblichen.
d) Ganz generell gebe es keinen triftigen Grund, nicht davon auszugehen, daß der Gelgehalt über 10 % liegen müsse, wenn man, wie vorgeschlagen, statt mit dem zumindest teilweise vernetzten Polyethylen der Druckschrift D1 mit Polypropylen-Copolymeren arbeite.
VI. Die Beschwerdegegnerin (frühere Einsprechende 01) argumentierte wie folgt:
a) Im Beispiel 7 der Druckschrift D1 werde Polyethylen mit einem Gelgehalt von nur 0,7 % eingesetzt, was darauf hindeute, daß der Kunststoff zu 99,3 % unvernetzt sei. Im selben Dokument werde ausdrücklich auf einen möglichen Gelgehalt von nur 0,01 % und damit auf eine entsprechend geringe Vernetzung verwiesen. In der Druckschrift D6 seien Polymere mit einem Gelgehalt von bis zu 10 % als im wesentlichen unvernetzt klassifiziert.
b) In der Druckschrift D1 seien ausdrücklich Mischpolymerisate aus Ethylen mit Propylen erwähnt. Das Polyethylen in Beispiel 7 habe einen Schmelzindex von 0,3, was auf einen Kunststoff schließen lasse, der innerhalb des im Anspruch des Streitpatents angegebenen Bereichs liege.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung. Der Hilfsantrag geht dahin, den Gegenstand des Anspruchs 3 in Anspruch 1 aufzunehmen und die Beschreibung entsprechend zu ändern.
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Nächstliegender Stand der Technik
Es bestand allgemeines Einvernehmen darüber, daß die Druckschrift D1 den nächstliegenden und damit relevantesten Stand der Technik darstellt. Ihre Offenbarung umfaßt einen weiten Bereich von Polyolefin-Kunststoffen und beschreibt die zur Herstellung geschäumter Formkörper erforderlichen Verfahrensschritte. Während in den Beispielen Polyethylen-Pellets verwendet werden, wird in der allgemeinen Einführung ausdrücklich auch auf die "Copolymere von Ethylen und anderen Olefinen wie Polypropylen ..." hingewiesen. Es ist zwar eine gewisse Präferenz für zumindest teilweise vernetzte Kunststoffe festzustellen, wobei der Gelgehalt aber durchaus bei nur 0,01 % liegen könnte (S. 3, Zeile 21).
Zu den physikalischen und chemischen Verfahrensschritten gehören die Druckbehandlung mit Gas (Alterung), ein Formungs- und ein Erhitzungsvorgang, die analog auf alle Olefine, ob vernetzt oder unvernetzt, anwendbar sein dürften (s. Ansprüche der Druckschrift).
3. Technische Aufgabe und Lösung
Ungeachtet dessen, daß in den Beispielen der Druckschrift D1 zur Veranschaulichung der beanspruchten Verfahren Polyethylen verwendet wird, kann sich der Fachmann auch bei einigen anderen explizit erwähnten Kunststoffen, insbesondere Ethylen/Propylen-Copolymeren, vor technische Probleme gestellt sehen, solange nichts Gegenteiliges bekannt wird. Dies gilt ganz besonders im vorliegenden Fall, in dem dem Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens bewußt war, daß Polypropylen mit ausgezeichneten chemischen, physikalischen und mechanischen Eigenschaften einhergeht und andere Wege zur Bereitstellung von Schaumstoffen, mit denen diese Vorteile genutzt werden sollten, keine befriedigenden Ergebnisse brachten (vgl. Ausführungen im Streitpatent, Spalte 1, Zeilen 4 - 28).
Vor diesem Hintergrund lag bezüglich der Druckschrift D1 die objektiv erkennbare technische Aufgabe vor, das dort beschriebene allgemeine Verfahren auf Polypropylen-Harze und insbesondere Ethylen/Polypropylen-Harze anzuwenden, zumal letztere im Dokument ausdrücklich angesprochen waren. Die Aufgabe bestand also darin, eine geeignete Kunststoffart zu finden, aus der sich Schaumstoff mit den erwarteten vorteilhaften Eigenschaften herstellen ließe.
Zur Lösung der Aufgabe bedurfte es eines Kunststoffs, der durch definierte Bereiche bestimmter physikalischer Eigenschaften, z. B. einen Schmelzindex zwischen 0,1 und 25, eine latente Kristallisationswärme von höchstens 28 cal/g und einen Ethylengehalt zwischen 1 und 30 %, gekennzeichnet ist. Zweifellos waren die im Anspruch beschriebenen Verarbeitungsbedingungen selbst bereits aus der Druckschrift D1 bekannt, in der allerdings die nunmehr beanspruchten Qualitätsmerkmale nicht offenbart sind, so daß der Gegenstand des Streitpatents als neu anzusehen ist.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Bei der Auswahl der Qualitätsmerkmale hat man sich jedoch offenbar an das gehalten, was auf dem Markt allgemein erhältlich war und damit im Hinblick auf einschlägige Hinweise in der Literatur auch als allgemeines Fachwissen gelten kann. So lehrt namentlich Ullmanns Encyklopädie (D8), daß marktgängige Ethylen/Propylen-Copolymere bis zu 30 Gew.-% Ethylen, vornehmlich in blockcopolymerer Form und damit bis zu einem gewissen Grad vernetzt, enthalten. Wie bereits in der Entscheidung der ersten Instanz dargelegt wurde, ist demselben allgemeinen Nachschlagewerk ebenfalls zu entnehmen, daß die latente Kristallisationswärme für Polypropylen bis zu 30 cal/g beträgt und jeglicher Gehalt an Ethylen zwangsläufig zu einer Senkung dieses Wertes führen dürfte, der damit in den anspruchsgemäßen Bereich fällt. Dasselbe gilt für den breiten, von 0,1 bis 25 reichenden Bereich des Schmelzindex, auf den auch andere Quellen, so beispielsweise wiederum das Dokument D8, hinweisen.
4.2 Die Kammer teilt die von der ersten Instanz vertretene Meinung, daß nach dem Prioritätstag veröffentlichte Beweismittel zur Verdeutlichung des vor diesem Zeitpunkt herrschenden Wissensstands relevant und bedeutsam sein können. Im vorliegenden Fall wird durch die Beweismittel die Auffassung erhärtet, daß das Ethylen/Propylen-Copolymer der in dem Patent benutzten Art auf dem Markt ohne weiteres erhältlich war. Analog hierzu kann ein zu einem früheren Zeitpunkt vorhandener allgemeiner Wissensstand anhand eines Lehrbuchs jüngeren Datums nachgewiesen werden.
4.3 Abgesehen davon, daß die konkreten physikalischen Werte, die den Hauptanspruch im vorliegenden Fall kennzeichnen, bekannt waren, kann auch festgestellt werden, daß die Bereiche sehr weit gespannt sind und unter den gegebenen Umständen kaum einen selektiven Informationsgehalt aufweisen. Somit würde eine Vielzahl von Kunststoffen in den Schutzbereich des Anspruchs fallen, die alle aufgrund des hohen Polypropylen-Anteils Schaumstoff mit den erwarteten vorteilhaften Eigenschaften ergeben. Eine etwaige erfinderische Tätigkeit muß sich mithin aus der Originalität des Verfahrens und nicht aus den überraschenden Eigenschaften des Erzeugnisses herleiten. Diese Prämisse ist zwangsläufig aufzustellen, weil die Erzeugnisse nicht als solche beansprucht werden.
4.4 Mangelnde Neuheit ergibt sich aufgrund einer unmittelbaren und unmißverständlichen, d. h. zwangsläufigen Offenbarung des beanspruchten Gegenstands im Stand der Technik. Hierzu gehört auch die Nacharbeitung von Anweisungen zur Ausführung eines Verfahrens, und zwar unabhängig davon, ob der Fachmann alle Merkmale des Verfahrens oder das Ergebnis gekannt hätte (vgl. auch "Diastereomere/BAYER", T 12/81, ABl. EPA 1982, 296).
Mangelnde erfinderische Tätigkeit läßt sich dagegen so definieren, daß sämtliche Merkmale eines Gegenstands auf mittelbarem Weg potentiell erhältlich sind, weil die Konsequenzen der im Stand der Technik enthaltenen Offenbarungen theoretisch erkennbar sind oder - und dies sollte ebenfalls rechtserheblich sein - weil die normale praktische Anwendung des Stands der Technik, die auch die Verwendung der für den betreffenden Zweck zur Verfügung stehenden Mittel einschließt, zu ihnen führt.
Die Kammer ist daher zu folgender Ansicht gelangt: Wenn der Fachmann für eine bestimmte Anwendung eines bekannten Verfahrens offensichtlich ein Material verwenden könnte, das auf dem Markt allgemein erhältlich und für den gewünschten Zweck geeignet ist, und dieses - unabhängig von seinen Eigenschaften - aller Wahrscheinlichkeit nach auch verwenden würde, so ist diese Verwendung nicht allein wegen dieser Eigenschaften schon als erfinderisch anzusehen. Wenn ein solcher Schritt aus anderen Gründen an sich bereits nahegelegen hat, so kann bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen werden, daß die - logische - Auswahl des betreffenden Mittels aus dem Marktangebot keinerlei geistige oder praktische Anstrengung oder gar ein "gezieltes" Vorgehen erfordert. Ebenso wie die Nacharbeitung bestimmter Anweisungen zur praktischen Ausführung von Verfahrensschritten zwangsläufig neuheitsschädlich ist, hätte der Fachmann auch hier das Verfahren in naheliegender Weise in die Praxis umgesetzt, ohne unter diesen Umständen alle seine Eigenschaften zu kennen.
Auch wenn das Material nicht beschränkt erhältlich, sondern so weit verbreitet ist, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach rein zufällig für diesen Zweck ausprobiert wird, muß eine solche Auswahl gemeinfrei bleiben. Dies darf natürlich nicht das Recht auf Schutz für ein durch dieses Verfahren hergestelltes neues Erzeugnis beeinträchtigen, wenn sich dieses selbst als erfinderisch herausstellt.
4.5 Bei der praktischen Durchführung des Verfahrens nach der Druckschrift D1 mit Ethylen/Propylen hätten durchaus auch die handelsüblichen Pellets verwendet werden können, die in jedem Fall innerhalb des breiten Spektrums der physikalischen Eigenschaften liegen. Im Stand der Technik hat kein Vorurteil bestanden, das den Fachmann davon abgehalten hätte, das Verfahren auszuprobieren, da die früher aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Herstellung von Schaumstoffen mit anderen Verfahren in Verbindung standen. Da zu erwarten war, daß die dabei erzielten Schaumstoffe vorteilhafte Eigenschaften aufweisen würden, war es nicht nur keine Frage, ob der Fachmann diese speziellen Harze verwenden konnte, sondern vielmehr höchst wahrscheinlich, daß er sie in der Praxis für diesen Zweck tatsächlich auswählen würde. Im hier vorliegenden Fall hat der Gegenstand nicht etwa theoretisch aus dem Stand der Technik abgeleitet werden können, sondern sich unter den zum Anmeldezeitpunkt vorliegenden praktischen Gegebenheiten in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben. Dem Anmeldungsgegenstand kann aber auch aufgrund dieses letzteren Sachverhalts die erfinderische Tätigkeit abgesprochen werden; dies gilt im vorliegenden Fall für den Anspruch 1 des Hauptantrags, der somit den Erfordernissen der Artikel 52 und 56 EPÜ nicht genügt.
4.6 Im Rahmen des Hilfsantrags wird der Anspruch 1 des Hauptantrags aufgegriffen und weiter beschränkt, so daß er sich nur noch auf die Verwendung unvernetzter Kunststoffe bezieht. Es wurde geltend gemacht, daß eine problemlose Verarbeitung bei solchen Kunststoffen weniger zu erwarten stand und daher die Qualität des Erzeugnisses vielleicht nicht ohne weiteres vorhersehbar war. Auch hier liegt dem beanspruchten Gegenstand kein erfinderisches Erzeugnis mit besonderen oder vorteilhaften Eigenschaften zugrunde, so daß einzig und allein darüber zu entscheiden ist, ob die Anwendung des Verfahrens auf solche Kunststoffe überhaupt nicht zu erwarten war. Weder der in der Druckschrift D1 beschriebene einschlägige Stand der Technik noch die Patentanmeldung, noch das erteilte Patent weisen im vorliegenden Fall darauf hin, daß unvernetzte Kunststoffe nicht verarbeitet werden oder auftretende Schwierigkeiten nur durch die Anwendung besonderer Bedingungen überwunden werden könnten.
Wie bereits ausgeführt, wurde in der wichtigsten Entgegenhaltung in einem Beispiel ein nur zu 0,7 % vernetzter Kunststoff verwendet und als Untergrenze für den "Gelgehalt" sogar ein Wert von 0,01 % genannt. Unter diesen Umständen wüßte der Fachmann recht genau, was er bei einem etwas anderen, völlig unvernetzten Kunststoff zu erwarten hätte, und würde etwaigen Unterschieden Rechnung tragen. Da diese Entgegenhaltung belegt, daß das allgemein bekannte Verfahren mit oder ohne Vernetzung angewandt werden konnte, ist die Behauptung, daß gegen seine Anwendung im letzteren Fall ein Vorurteil bestanden habe, nicht überzeugend. Daher ist auch dem im Sinne des Hilfsantrags geänderten Anspruch 1 die erfinderische Tätigkeit abzusprechen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.