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T 0595/90 (Kornorientiertes Blech aus Siliciumstahl) 24-05-1993
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Nippon Steel
Thyssen Stahl
Ugine Aciers
1. Schriftsätze, die nach "Beendigung der sachlichen Debatte in der mündlichen Verhandlung" (in Englisch "adjournment of oral proceedings" und in Französisch "le prononcé de la clôture des débats") eingereicht werden, werden von der Kammer nicht berücksichtigt, es sei denn, sie eröffnet die Debatte wieder. Eine solche Wiedereröffnung liegt im Ermessen der Kammer (Nr. 1 der Entscheidungsgründe).
2. Ein Erzeugnis, das als solches mit allen seine Identität ausmachenden Merkmalen einschließlich seiner Gebrauchseigenschaften vorstellbar ist und aufgrund dessen eine eigentlich naheliegende Sache darstellt, kann für erfinderisch befunden und damit als solches beansprucht werden, wenn es im Stand der Technik keinen bekannten Weg oder kein anwendbares (analoges) Verfahren zu seiner Herstellung gibt und diese Herstellung daher durch die beanspruchten Verfahren erstmals und überdies auf erfinderische Weise bewerkstelligt wird (Nr. 5 der Entscheidungsgründe).
Verfahrensanspruch; erfinderische Tätigkeit (nein)
Durch das Verfahren hergestelltes Erzeugnis ebenfalls nicht erfinderisch
Rechtliches Gehör - mündliche Verhandlung
I. Auf die am 26. August 1981 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 81 303 891.6 wurde am 24. April 1985 das europäische Patent Nr. 0 047 129 erteilt. Der Anspruchssatz in der erteilten Fassung wird durch die unabhängigen Ansprüche 1 und 2 eingeleitet, die wie folgt lauten:
"1. Kornorientiertes Blech aus Siliciumstahl mit einem Eisenverlust W17/50 von weniger als 0,90 W/kg, einem Si-Gehalt von 2 bis 4 %, einer Stärke von 0,15 bis 0,25 mm, einer durchschnittlichen Kristallkorngröße von 1 bis 6 mm sowie einem Forsteritüberzug auf einer seiner Oberflächen mit 1 bis 4 g/m2 der Oberfläche
2. Verfahren zur Herstellung eines kornorientierten Blechs aus Siliciumstahl unter Einsatz eines kornorientierten Stahlblechs mit einem Si-Gehalt von 2 bis 4 %, das entweder einmal oder zwei- oder mehrmals mit Zwischenglühen bis auf Endstärke kaltgewalzt wird, alsdann einer Entkohlungsglühung unterworfen und mit einem Glühseparator überzogen sowie einem Schlußglühen unterzogen wird, dadurch gekennzeichnet, daß der Stahl wenigstens eines der Elemente Se und S in einer Menge von 0,010 bis 0,035 % sowie wenigstens eines der Elemente Sb, As, Bi und Sn in einer Menge von 0,010 bis 0,080 % als Inhibitor enthält, daß das Kaltwalzen so erfolgt, daß die Endstärke 0,15 bis 0,25 mm beträgt, und daß das Schlußglühen so erfolgt, daß auf den Stahlblechoberflächen ein Forsteritüberzug mit 1 bis 4 g/m2 der Oberfläche ausgebildet wird und die durch sekundäre Kristallisation erzeugte Korngröße 1 bis 6 mm beträgt, so daß das resultierende Stahlblech einen Eisenverlust W17/50 von weniger als 0,90 W/kg hat"
II. Gegen das Patent wurden drei Einsprüche eingelegt, die im wesentlichen mit mangelnder erfinderischer Tätigkeit seines Gegenstands (Art. 100 a) EPÜ) begründet wurden. Zur Stützung dieses Haupteinwands wurden u. a. folgende Druckschriften angezogen:
A(2) Journal of Applied Physics, Vol. 38 (1967), Seiten 1104 bis 1108
A(4) DE-A-2 923 374
B(1) Nippon Steel Technical Report Overseas Number 4 (November 1973), Seiten 1 bis 10
B(3) DE-C-2 451 600
III. Im Einspruchsverfahren wurde im Rahmen des Hauptantrags die Aufrechterhaltung des Patents mit einer Änderung des Anspruchs 6 beantragt; außerdem wurden drei Hilfsanträge gestellt.
IV. In ihrer Entscheidung vom 19. Juni 1990 gelangte die Einspruchsabteilung zu dem Schluß, daß die Unterlagen gemäß dem dritten Hilfsantrag den Erfordernissen des EPÜ entsprächen, und wies den Hauptantrag sowie den ersten und zweiten Hilfsantrag zurück.
V. Gegen diese Entscheidung haben sämtliche am Einspruchsverfahren Beteiligten in folgender Reihenfolge Beschwerde eingelegt:
Beschwerdeführer I (Einsprechender III) am 21. Juli 1990
Beschwerdeführer II (Einsprechender II) am 16. August 1990
Beschwerdeführer III (Patentinhaber) am 17. August 1990
Beschwerdeführer IV (Einsprechender I) am 17. August 1990
Die Beschwerdeführer I, II und IV entrichteten die Beschwerdegebühr jeweils am selben Tag. Die Beschwerdegebühr des Beschwerdeführers III ging am 13. August 1990 ein.
Die entsprechenden Beschwerdebegründungen wurden am 23. Oktober 1990, am 18. Oktober 1990, am 15. Oktober 1990 und am 26. Oktober 1990 eingereicht.
VI. Die Argumente, die der Beschwerdeführer III (der Patentinhaber) schriftlich und in der am 6. Mai 1993 abgehaltenen mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer vorgetragen hat, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Als nächstliegender Stand der Technik müsse die Druckschrift B(1) angesehen werden. Der Unterschied des Erzeugnisanspruchs gegenüber dieser Druckschrift sei in dem Merkmal zu sehen, daß im Patent ein Forsteritüberzug mit einem bestimmten Gewicht in Verbindung mit einer bestimmten Korngröße vorgeschlagen werde, um einen mindestens 5 % niedrigeren Eisenverlust als bei allen am Anmeldetag im Handel erhältlichen kornorientierten Blechen aus Siliciumstahl zu erreichen. In diesem Zusammenhang gelte es zu bedenken, daß das in Tabelle 1 der Druckschrift B(1) dokumentierte 9-mil- Blech von ORIENTCORE HI-B eine im Labormaßstab hergestellte Materialprobe und kein Handelsprodukt sei.
Der Druckschrift B(1) sei nicht zu entnehmen, daß die Einstellung der Blechstärke auf 0,15 bis 0,25 mm und der durchschnittlichen Korngröße auf 1 bis 6 mm einen erfolgversprechenden Weg zur Erzielung eines Eisenverlusts W17/50 von weniger als 0,90 W/kg darstelle. Aus der Druckschrift sei vielmehr sogar ein Vorurteil hiergegen herauszulesen; in ihr werde nämlich festgestellt, daß "eine Zeitlang 9-mil-Bleche hergestellt wurden, um dünnere oder höherwertige Bleche zu erhalten, die industrielle Produktion von 9-mil-Blechen jedoch aus zwei Gründen - hohe Kosten und nicht erreichbare gewünschte Verringerung des Eisenverlusts - eingestellt wurde" und daß "laut Littmann der niedrigste Eisenverlust bei einer Blechstärke von 6 mils erreicht wird, die sich jedoch bei kommerziellen Erzeugnissen im Hinblick auf Herstellung wie auch Gebrauch kaum realisieren läßt".
Die Druckschrift B(3) sei gänzlich irrelevant, da sie allein auf die Herstellung eines kornorientierten Siliciumstahlblechs mit einem hohen B8-Induktionswert gerichtet sei, ohne dem Eisenverlust Beachtung zu schenken. Überdies würden nach diesem bekannten Verfahren nur dicke Bleche mit einer Stärke von etwa 0,3 mm produziert. Somit biete diese Druckschrift keinen Anreiz, das darin offenbarte Verfahren so einzusetzen, daß man als Ergebnis ein Produkt mit den jetzt beanspruchten Merkmalen erhalte.
VII. Die anderen Beschwerdeführer (die Einsprechenden) haben die Patentierbarkeit des Gegenstands des Streitpatents im wesentlichen mit folgenden Argumenten angefochten:
Die Druckschrift B(3) sei für die verfahrenstechnische Seite des Streitpatents der nächstliegende Stand der Technik, da auch sie die Herstellung eines hochwertigen kornorientierten Siliciumstahlblechs offenbare, wobei dasselbe Inhibitorsystem und Forsterit als Hauptbestandteil des Glasüberzugs verwendet werde. ...
VIII. Der Beschwerdeführer III (Patentinhaber) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 7 gemäß dem der angefochtenen Entscheidung als Anlage beigefügten Hauptantrag.
Hilfsweise beantragte er die Aufrechterhaltung des Patents in folgender Form: ...
Die drei übrigen Beschwerdeführer beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
IX. Am Ende der mündlichen Verhandlung behielt sich die Kammer ihre Entscheidung vor.
X. Der Kammer gingen dann noch am 8. Mai 1993 vom Beschwerdeführer I (Einsprechender III) und am 25. Mai 1993 vom Beschwerdeführer III (Patentinhaber) weitere Schriftsätze zu.
1. Zulässigkeit und sonstige Verfahrensfragen
Die Beschwerden sind zulässig.
Die von zwei Parteien - nämlich von einem der Einsprechenden und vom Patentinhaber - am 8. bzw. 25. Mai 1993 eingereichten Schriftsätze bleiben unberücksichtigt, weil sie nach "Beendigung der sachlichen Debatte in der mündlichen Verhandlung" eingereicht worden sind. Sobald die sachliche Debatte abgeschlossen ist (ein Vorgang, der im Englischen mit der Formulierung "adjourn oral proceedings", im Französischen und Deutschen klarer mit "prononcer la clôture des débats" bzw. "die sachliche Debatte für beendet erklären" bezeichnet wird), erlischt in der Regel auch die Möglichkeit zur Einreichung weiterer Schriftsätze. Danach eingehende Schriftsätze könnten nur berücksichtigt werden, wenn die Kammer die Debatte wieder eröffnen würde (Art. 113 EPÜ), was in ihrem Ermessen liegt. Die Kammer sieht dazu keine Veranlassung, da den Parteien ausreichend Gelegenheit gegeben worden ist, alle ihnen sachdienlich erscheinenden Argumente vorzubringen. Außerdem enthalten die Schriftsätze nichts, was nicht bereits in der mündlichen Verhandlung erörtert worden wäre.
2. Änderungen
3. Neuheit
4. Der Anspruchssatz gemäß dem Hauptantrag wird von zwei unabhängigen Ansprüchen eingeleitet, wobei Anspruch 1 auf ein Erzeugnis und Anspruch 2 auf ein Verfahren gerichtet ist. Der unabhängige Verfahrensanspruch ist gleichlautend auch in den Anspruchssätzen gemäß dem ersten und dem dritten Hilfsantrag enthalten.
Der Beschwerdeführer III (Patentinhaber) hat in seiner Erklärung eingeräumt, daß die im unabhängigen Verfahrensanspruch 2 gemäß dem Hauptantrag angegebenen Schritte zwangsläufig zu einem Erzeugnis führen würden, das alle Merkmale des Erzeugnisanspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag aufweise, wenn diese Schritte zur Gänze von einem mit dem üblichen allgemeinen Fachwissen für die Produktion hochwertiger kornorientierter Stähle ausgestatteten Fachmann durchgeführt würden, zumal wenn als weitere Orientierungshilfe die Beschreibung herangezogen werde. Die beiden Ansprüche stehen somit in einem inneren Zusammenhang und decken sich.
5. Erzeugnisanspruch
Für den Gegenstand des Erzeugnisanspruchs 1 gilt die Druckschrift B(1) als nächstliegender Stand der Technik.
Diesem Dokument liegt ein neuentwickeltes Verfahren zur Herstellung von Siliciumstahlblech (ORIENTCORE HI-B) zugrunde, das einen hohen Anteil in Würfelkantentextur orientierter Körner und daher einen hohen magnetischen Induktionswert aufweist. Es ist allgemein bekannt und bei allen Beteiligten unbestritten, daß ORIENTCORE HI-B einen Siliciumgehalt von etwa 3 % hat. Aufgrund der Anforderungen der Benutzer sah sich der Hersteller solcher Magnetstahlbleche zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, den Eisenverlust der Stahlbleche zu minimieren, ohne den hohen Kornorientierungsgrad dabei zu verlieren. Die Druckschrift B(1) ist ein ausführlicher Bericht über Untersuchungen, in denen geklärt werden sollte, welche Parameter diese Eigenschaften beeinflussen. Dabei gelangte man zu folgenden Erkenntnissen:
- Der Eisenverlust hängt von der Blechstärke ab und ist zwischen 5 und 10 mils (0,127 und 0,254 mm) am niedrigsten, sofern Korngröße, Reinheit und Orientierungsgrad der einzelnen Proben gleich sind (Abbildung 12, Tabelle 2).
- Der Eisenverlust verringert sich mit abnehmender Korngröße bei Korngrößen zwischen etwa 0,5 und etwa 10 mm, steigt dann aber bei noch kleineren Korngrößen stark an, sofern Reinheit, Orientierungsgrad und Blechstärke der Proben gleich sind (Abbildungen 9A und 9B sowie Seite 5, rechte Spalte).
- Der Eisenverlust hängt von der Zugspannung ab, die ein Glasfilm an der Oberfläche des Blechs erzeugt (Seite 5, rechte Spalte). Bei einer durchschnittlichen Korngröße von 3,5 mm erreicht der Eisenverlust bei einer Zugspannung zwischen 0,3 und 0,5 kg/mm2 einen Minimalwert (Abbildung 10).
Somit vermitteln diese im Labormaßstab erzielten Testergebnisse einem Fachmann die Lehre, ein kornorientiertes Stahlblech mit einer Stärke zwischen 0,127 und 0,254 mm sowie einer Korngröße im Mittelbereich zwischen 0,5 und 10 mm anzustreben und die Dicke des Glasfilms dann so zu wählen, daß die Zugspannung, die er auf die Oberfläche des Blechs ausübt, den Eisenverlust minimiert. Dabei muß er allerdings auch darauf achten, daß der Anteil der orientierten Körner möglichst hoch bleibt. Letzteres ist nicht nur Voraussetzung für eine hohe magnetische Flußdichte, sondern auch wesentlich dafür, daß die (durch den Glasfilm entstehende) Zugspannung maximal zur Verringerung des Eisenverlusts beiträgt (Abbildung 3).
In der mündlichen Verhandlung waren sich die Parteien darin einig, daß Forsterit bisher das klassische Material für den auf der Oberfläche eines hochwertigen Siliciumstahlblechs ausgebildeten Glasfilmseparator war. Forsterit wurde auch noch unmittelbar vor dem Prioritätstag des Streitpatents verwendet (s. Anlage 1 der Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers III/Patentinhabers), so etwa als glasartiger Überzug nach dem Walzen (sog. "mill glass coating") mit einer Dicke von 1 µm entsprechend 2,58 MPa (s. ebenfalls Anlage 1). Die in Abbildung 4 der Druckschrift B(1) ausgewiesenen Ergebnisse erhält man demnach mit einem Forsteritfilm von etwas weniger als 1 µm, die maximale Spannungswirkung, die eine Spannung von 0,4 kg/mm2 erfordert (B(1), Seite 5, letzter Absatz), mit einem etwas dickeren Forsteritfilm.
Somit gibt es keinen Grund, weshalb ein Fachmann den in der Druckschrift B(1) verwendeten Begriff "Glasfilm" nicht im herkömmlichen Sinne auslegen und an einen Forsteritfilm mit einer Dicke im üblichen Bereich, also einen Glasfilm der in Anspruch 1 definierten Art, denken sollte.
In Anbetracht dieser Überlegungen unterscheidet sich der Gegenstand des Erzeugnisanspruchs 1 gemäß Haupt- und erstem Hilfsantrag von diesem in der Druckschrift B(1) offenbarten Wunscherzeugnis nur durch die Aussage, daß der Eisenverlust W17/50 unter 0,90 W/kg liegen sollte.
Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen entspricht dieser Unterschied dem bekannten Wunsch und auch dem in der Druckschrift B(1) dokumentierten Ziel, den Anteil der orientierten Körner möglichst hoch zu halten, wenn die drei Parameter Blechstärke, Korngröße und Dicke des Überzugs auf ihre optimalen Werte eingestellt werden. Daraus folgt, daß das beanspruchte Erzeugnis nur Eigenschaften hat, die in vollem Umfang vorhersehbar und angestrebt waren, der Gegenstand als solcher also naheliegend ist. Dies gilt für sämtliche Erzeugnisansprüche gemäß dem Haupt- und den ersten drei Hilfsanträgen.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Druckschrift B(1) (1973) war dieser Wunsch allerdings prima facie - zumindest im industriellen Maßstab - faktisch noch nicht realisiert, da ganz offen erwähnt wird, daß sich die berichteten, im Labormaßstab verifizierten Wirkungen bei kommerziellen Erzeugnissen mit einer Blechstärke von etwa 9 mils (0,23 mm) "im Hinblick auf Herstellung wie auch Gebrauch" kaum realisieren lassen (Seite 7, linke Spalte unter Abbildung 11). Der Druckschrift A(2) zufolge (Seite 1108, Schlußfolgerung) war dieses Handicap für den fachkundigen Metallurgen jedoch eher eine Herausforderung als ein unüberwindliches Vorurteil.
Dem Gegenstand des Erzeugnisanspruchs liegt somit nur ein bekannter Wunsch, aber keine neue Aufgabe zugrunde. Die Gewährbarkeit des Anspruchs 1 gemäß Haupt- und erstem Hilfsantrag hängt dann von der Beantwortung der Frage ab, ob der aus der Druckschrift B(1) bekannte Wunsch am Prioritätstag des Streitpatents immer noch nicht realisierbar war oder ob ein naheliegender Weg zu ihm hinführte. Dies ist ausschlaggebend, da nach Ansicht der Kammer ein Erzeugnis, das als solches mit allen seine Identität ausmachenden Merkmalen und seinen Gebrauchseigenschaften vorstellbar ist und aufgrund dessen eine eigentlich naheliegende Sache darstellt, doch für erfinderisch befunden und damit als solches beansprucht werden kann, wenn es im Stand der Technik keinen bekannten Weg oder kein anwendbares (analoges) Verfahren zu seiner Herstellung gibt und diese Herstellung daher durch die beanspruchten Verfahren erstmals auf erfinderische Weise bewerkstelligt wird. Wenn dagegen die Verfahrensansprüche nicht gewährbar sind, weil ihr Gegenstand naheliegt, könnte auch der im jeweiligen Antrag mit ihnen verknüpfte Erzeugnisanspruch nicht allein aufgrund des Verfahrens gewährt werden. Deshalb müssen auch die Verfahrensansprüche auf ihre Gewährbarkeit geprüft werden.
6. Nächstliegender Stand der Technik
6.1 Nach Auffassung der Kammer ist die Druckschrift B(3) der nächstliegende Stand der Technik für den Gegenstand des Verfahrensanspruchs 2 gemäß dem Hauptantrag. ...
6.2 Aufgabe und Lösung
In der Druckschrift B(3) wird der Öffentlichkeit ein neues Inhibitorsystem als Ersatz für AlN vorgestellt, das bis dahin als Inhibitor zur selektiven Förderung des Wachstums richtig orientierter Körner eingesetzt worden war. Das neue Inhibitorsystem soll demnach eine wirtschaftlichere Herstellung hochwertiger Elektrostahlbleche im großtechnischen Produktionsmaßstab als AlN ermöglichen (Spalte 2, Zeilen 29 bis 45).
Hauptanliegen der Druckschrift B(3) ist zwar die Herstellung eines Materials mit hoher magnetischer Induktion; zugleich wird aber auch klargestellt, daß diese Eigenschaft mit einem niedrigen Eisenverlust verbunden sein sollte (Absatz von Spalte 1 unten bis Spalte 2 oben). Daß es in dieser Druckschrift "versäumt" worden ist, für den Eisenverlust des mit diesem neuen Inhibitorsystem hergestellten Stahlblechs irgendeinen Wert anzugeben, ist ganz offensichtlich darauf zurückzuführen, daß ihre Verfasser noch keine Zeit gefunden hatten, alle wichtigen Aspekte ihrer Neuentwicklung zu analysieren.
Wenn man von der Druckschrift B(3) als nächstliegendem Stand der Technik ausgeht, besteht eine der vordringlichsten Aufgaben also darin, dieses bekannte Verfahren so zu optimieren, daß das fertige Stahlblech einen möglichst niedrigen Eisenverlust (unter 0,90 W/kg) aufweist, ohne die bereits erreichte hohe Kornorientierung und die damit verbundene Induktion aufs Spiel zu setzen.
Nach dem Hauptantrag löst das Streitpatent diese Aufgabe im verfahrenstechnischen Bereich durch Kombination der folgenden Merkmale, die den Gegenstand des Anspruchs 2 von der Offenbarung der Druckschrift B(3) unterscheiden:
- Das Kaltwalzen erfolgt so, daß eine Endstärke von 0,15 bis 0,25 mm erzielt wird.
- Das Schlußglühen wird so vorgenommen, daß der auf den Stahlblechoberflächen ausgebildete Forsteritüberzug 1 bis 4 g/m2 ausmacht.
- Das Schlußglühen erfolgt ferner so, daß die durch sekundäre Kristallisation erzeugte Korngröße 1 bis 6 mm beträgt.
Wie der Beschwerdeführer III (Patentinhaber) bestätigt hat, ergibt sich das Merkmal, "daß das resultierende Stahlblech einen Eisenverlust W17/50 von weniger als 0,90 W/kg hat", zwangsläufig aus den anderen Merkmalen des Verfahren, sofern dessen Schritte von einem Fachmann mit seinem üblichen Wissen und Können und unter Zuhilfenahme der Beschreibung des Streitpatents ausgeführt werden.
6.3 Erfinderische Tätigkeit
Nachdem das neue Inhibitorsystem zur Unterdrückung des Kornwachstums gemäß der Druckschrift B(3) der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, fand sich der Fachmann für die Herstellung kornorientierter Siliciumstahlbleche in einer Situation wieder, wie sie bereits mindestens zweimal zuvor bestanden hatte, als neue Verfahren zur Herstellung von Siliciumstahlblech mit einem hohen Anteil in Würfelkantentextur orientierter Körner und somit einem hohen magnetischen Induktionswert - zumindest im Labormaßstab - entwickelt worden waren. Aufgrund der Anforderungen der Benutzer sah sich der Hersteller solcher Magnetstahlbleche zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, den Eisenverlust dieser Bleche zu minimieren, ohne daß die hohe Kornorientierung dabei verlorengeht. Im Hinblick hierauf mußten systematische Tests durchgeführt werden, um zu klären, welche Parameter diese Eigenschaften beeinflussen.
1967 war über die Ergebnisse einer klassischen diesbezüglichen Untersuchung in einer Fachzeitschrift (Druckschrift A(2)) berichtet worden, deren Offenbarung dem Allgemeinwissen auf diesem technischen Gebiet zugerechnet wird.
Eine ähnliche Untersuchung wurde durchgeführt, als die das Kornwachstum hemmenden Eigenschaften von AlN entdeckt und auf dieser Basis das unter dem Markennamen ORIENTCORE HI-B bekannte neue kornorientierte Blech entwickelt worden war, das eine noch höhere Kornorientierung und infolgedessen einen höheren magnetischen Induktionswert aufwies. Die Druckschrift B(1) ist der ausführliche Bericht über diese Untersuchungen, in denen die vorstehend unter Nummer 5 aufgeführten Erkenntnisse gewonnen wurden.
Für die Kammer ist nicht ersichtlich, welches Vorurteil einen Fachmann, der den Eisenverlust der unter Einsatz des neuen Inhibitorsystems gemäß der Druckschrift B(3) hergestellten hochwertigen Magnetstahlbleche optimieren wollte, davon abgehalten haben könnte, zumindest im ersten Anlauf wiederum dieselben systematischen Experimente durchzuführen, die sich der Druckschrift B(1) und auch der früheren Druckschrift A(2) zufolge als taugliches Instrument für die Klärung der Frage erwiesen hatten, welche Parameter den Eisenverlust der neuen Magnetmaterialklasse beeinflussen.
In der Druckschrift B(1) wird zwar ganz offen erwähnt, daß sich diese im Labormaßstab verifizierten Wirkungen bei kommerziellen Erzeugnissen mit einer Blechstärke von etwa 9 mils (0,23 mm) "im Hinblick auf Herstellung wie auch Gebrauch" kaum realisieren lassen (Seite 7, linke Spalte unter Abbildung 11, siehe auch Druckschrift A(2), Seite 1108, Schlußfolgerung); diese Aussage kann aber nicht als ein am Prioritätstag des Streitpatents immer noch bestehendes Vorurteil gewertet werden. Die Druckschrift A(4) beweist nämlich, daß 1979 Verfahren entwickelt wurden, mit denen 0,225 mm dicke hochwertige Siliciumstahlbleche herstellt werden konnten, deren Eisenverlust unter 0,90 W/kg blieb.
Infolgedessen ist der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 2 gemäß dem Hauptantrag als zwangsläufige technische Schlußfolgerung aus den Ergebnissen der Testreihe anzusehen, deren Durchführung naheliegt, wenn man die in der Druckschrift B(1) offenbarten Experimente bei Siliciumstahlblechen anwendet, die unter Einsatz des in der Druckschrift B(3) offenbarten Inhibitorsystems hergestellt werden.
Die Kammer sieht sich insbesondere außerstande, dem Verfahrensschritt der Ausbildung eines Forsteritüberzugs von 1 bis 4 g/m2 der Oberfläche eine erfinderische Tätigkeit zuzuerkennen.
Forsterit ist der klassische Hauptbestandteil der beim Schlußglühen aus der Separatorzusammensetzung gebildeten Glasüberzüge. Die Kammer stimmt mit allen Parteien darin überein, daß auch bei der Durchführung des in der Druckschrift B(3) (Spalte 10, Zeilen 30 bis 45) offenbarten Verfahrens Forsterit gebildet wird. Im Streitpatent (Seite 3, Zeilen 11 bis 13) heißt es, daß unbedingt mindestens 1 g/m2 Forsterit notwendig ist, um die Isolierung zu erhalten und einen guten Oberflächenüberzug zu erreichen. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Fachmann eine andere Zusammensetzung und Menge für den Glasüberzug verwenden sollte, wenn bereits der herkömmliche Überzug auf die Blechoberfläche erwiesenermaßen eine Zugspannung ausübt, die ausreicht, um den Eisenverlust zu minimieren.
Zusammenfassend gelangt die Kammer daher zu dem Schluß, daß sich der Gegenstand des Anspruchs 2 gemäß dem Hauptantrag in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik herleiten läßt und somit keine erfinderische Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ aufweist.
6.4 Das Verfahren gemäß Anspruch 2 des Hauptantrags führt bei fachmännischer Ausführung zu Erzeugnissen, die den Merkmalen des Erzeugnisanspruchs 1 gemäß dem Hauptantrag entsprechen. Aufgrund der unter Nummer 5 dargelegten Überlegungen kann deshalb auch dem Anspruch 1 keine erfinderische Tätigkeit zugesprochen werden.
Dem Hauptantrag kann daher nicht stattgegeben werden. ...
9. Abschließend kommt die Kammer zu dem Schluß, daß bei sämtlichen Anträgen zumindest eines der Patentierungserfordernisse gemäß Artikel 52 (1) EPÜ nicht erfüllt ist.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.