T 0788/90 (Einspruch des Patentinhabers) 28-10-1993
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Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Ist der Einspruch des Inhabers eines europäischen Patents gegen sein eigenes europäisches Patent angesichts der neuen Betrachtungsweise, die die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 zu den grundlegenden Aspekten des Einspruchsverfahrens formuliert hat, zulässig? 2. Wenn ja, hängt die Befugnis der Beschwerdekammer in einem solchen Fall davon ab, in welchem Umfang in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde?
Einspruch der Patentinhaber gegen das eigene Patent - Zulässigkeit
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
I. Die Beschwerdeführerinnen sind Inhaberinnen des am 26. April 1989 erteilten europäischen Patents Nr. 0 223 659 (Anmeldenummer 86 402 288.4) und haben Einspruch gegen ihr eigenes Patent eingelegt. Als Einsprechende beantragten sie, Anspruch 1 des Patents zu widerrufen, da dessen Gegenstand gegenüber dem in ihrem Einspruch angeführten Stand der Technik nicht erfinderisch sei, und das Patent auf der Grundlage eines neuen Anspruchssatzes 1 - 5 aufrechtzuerhalten.
II. Nachdem die Einspruchsabteilung den Einspruch verworfen hatte, legten die Beschwerdeführerinnen in ihrer Eigenschaft als Einsprechende Beschwerde gegen diese Entscheidung ein und nannten in ihrer Beschwerdebegründung ein neues Dokument zur Stützung ihrer Anträge.
III. Im Beschwerdeverfahren teilte die Beschwerdekammer den Parteien mit, daß Anspruch 1 des geänderten Anspruchssatzes ihrer Ansicht nach angesichts des angeführten neuen Dokuments und zweier neuer, von der Kammer in Anwendung von Artikel 114 (1) EPÜ von Amts wegen entgegengehaltener Dokumente nicht die erforderliche erfinderische Tätigkeit aufweise.
IV. Die Entscheidung G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) und die Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) sind vor der Entscheidung der Kammer im vorliegenden Fall ergangen. Da sowohl in jener Entscheidung wie in der Stellungnahme die Auffassung vertreten wird, daß der Grundsatz der Amtsermittlung bei Einsprüchen restriktiv anzuwenden sei, und Zweifel an der Gültigkeit der Entscheidung G 1/84 (ABl. EPA 1985, 299) zum Ausdruck kamen, und da darüber hinaus für die in der vorliegenden Sache zu fällende Entscheidung die Auslegung der genannten Entscheidungen und der genannten Stellungnahme bestimmend ist, hat es die Kammer nach Unterrichtung der Parteien für erforderlich erachtet, die Große Beschwerdekammer mit dieser Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu befassen.
1. Artikel 112 (1) a) EPÜ ermächtigt die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, von Amts wegen die Große Beschwerdekammer zu befassen, wenn zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, wie sie der von der Kammer hier zu entscheidende Fall darstellt, eine Entscheidung erforderlich ist. Im vorliegenden Fall hängt die Entscheidung der Beschwerdekammer davon ab, in welchem Umfang die Kammer befugt ist, die von den Patentinhaberinnen, die zugleich Beschwerdeführerinnen und Beschwerdegegnerinnen sind, vorgeschlagenen und angenommenen Ansprüche von Amts wegen auf Patentierbarkeit zu prüfen. Um dies zu entscheiden, bedarf es der Auslegung sowohl der Entscheidung G 1/84 als auch der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91.
2. Die Entscheidung G 1/84 anerkennt das Recht des Inhabers des europäischen Patents, Einspruch gegen sein eigenes Patent einzulegen, mit der Begründung, daß das Einspruchsverfahren nicht im wesentlichen als Streit zwischen gegnerischen Parteien zu betrachten sei, bei dem der Spruchkörper eine neutrale Haltung einnehme, sondern daß es sich um ein auf dem Untersuchungsgrundsatz beruhendes Verfahren handle, bei dem sich die Einsprechenden daher völlig passiv verhalten und sich sogar aus dem Verfahren zurückziehen könnten, ohne daß es dadurch zu einer Beendigung des Verfahrens komme (vgl. Nr. 4 der Entscheidungsgründe).
Die Entscheidung G 1/84 geht von dem Grundsatz aus, daß der von einem beliebigen Einsprechenden eingelegte Einspruch vom EPA von Amts wegen geprüft wird. Bei einem solchen Verfahren nach dem Untersuchungsgrundsatz spielt der Einsprechende nur eine zweitrangige Rolle, wenn das Verfahren erst einmal anhängig ist. Somit ist seine Identität ohne Belang, da seine Funktion im wesentlichen in der Einleitung des Verfahrens besteht, das dann von der Einspruchsabteilung und später von der Beschwerdekammer weitergeführt wird.
3. In der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 wird hingegen die Auffassung vertreten, daß das Einspruchsverfahren grundsätzlich als streitiges Verfahren zwischen gegnerischen Parteien anzusehen und die Rolle der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer derjenigen eines Zivilgerichts vergleichbar sei, das die Gleichbehandlung der Parteien sicherzustellen habe.
4. Im Fall eines Einspruchs des Patentinhabers gegen sein eigenes Patent kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Einspruchsabteilung und die Beschwerdekammer in einem streitigen Verfahren zwischen zwei Parteien zu entscheiden haben.
5. Es ist daher zu prüfen, ob die Entscheidung G 1/84 angesichts der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91, die deren Begründung zuwiderlaufen, weiterhin anwendbar ist. Aus diesem Grunde mißt die Beschwerdekammer einer Entscheidung in dieser Frage grundsätzliche Bedeutung bei.
6. Sollte nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer der Einspruch des Patentinhabers gegen sein eigenes Patent zulässig sein, so stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit der in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 festgelegten Grundsätze auf einen solchen Fall. Dieser Entscheidung und der Stellungnahme zufolge hängt die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer von dem Umfang ab, in dem in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird. Allerdings wurde darin eingeräumt, daß Ansprüche, die von einem im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vernichteten unabhängigen Anspruch abhingen, auch dann auf die Patentierbarkeit ihres Gegenstands geprüft werden können, wenn sie nicht ausdrücklich Gegenstand des Einspruchs waren, sofern ihre Gültigkeit durch das bereits vorliegende Informationsmaterial prima facie in Frage gestellt wird. Diese Erweiterung des Einspruchsrahmens auf die abhängigen Ansprüche wurde damit begründet, daß der Einspruch gegen die abhängigen Ansprüche als durch die Erklärung in bezug auf den unabhängigen Anspruch implizit abgedeckt angesehen werden könne (vgl. Nr. 11 der Entscheidungsgründe und der Stellungnahme).
7. Die Rechtsgrundlage für die Befugnis der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer zur Prüfung der abhängigen Ansprüche wird in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 darin gesehen, daß die Zurückweisung dieser abhängigen Ansprüche in dem Einspruch gegen den unabhängigen Anspruch implizit mit beantragt sei. Ein solcher Antrag kann jedoch keinesfalls dann als in der Einspruchsschrift des Patentinhabers implizit enthalten angesehen werden, wenn dieser in seiner Eigenschaft als Einsprechender die Beschränkung des Patents beantragt und den Rahmen des Einspruchs ausdrücklich auf diese Beschränkung begrenzt.
8. Beantragt der Inhaber/Einsprechende die Beschränkung der Patentansprüche auf Grund eines von ihm ausgewählten Standes der Technik, so erscheint es darüber hinaus naheliegend, daß in den meisten Fällen die Gewährbarkeit der beschränkten Ansprüche, die anhand dieses Standes der Technik geprüft werden, nicht prima facie als zweifelhaft angesehen werden kann.
9. Unter diesen Umständen hätte die Anwendung der in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 enthaltenen Grundsätze auf einen vom Inhaber eingelegten Einspruch gegen sein Patent zur Folge, daß der Inhaber sein Patent hinsichtlich der vom Einspruch nicht erfaßten Ansprüche beschränken könnte, ohne daß eine Prüfung möglich wäre, da sowohl die Einspruchsabteilung wie die Beschwerdekammer durch die ursprünglichen Anträge des Inhabers/Einsprechenden gebunden wären.
Hier stellt sich die Frage, ob eine solche Beschränkungsmöglichkeit mit den generellen Prüfungs- und Einspruchsgrundsätzen des EPÜ vereinbar ist. Wie in der Entscheidung G 1/84 ausgeführt wird, enthält das EPÜ, anders als das Übereinkommen über das europäische Patent für den Gemeinsamen Markt (GPÜ), keine Bestimmung, die es dem Patentinhaber erlaubt, eine Beschränkung seines Patents zu beantragen. Nach dem GPÜ wird der Antrag auf Beschränkung darauf geprüft, ob die in Artikel 56 (1) a) bis d) GPÜ vorgesehenen Nichtigkeitsgründe - die den in Artikel 100 EPÜ definierten Einspruchsgründen entsprechen - der Aufrechterhaltung des Gemeinschaftspatents in der geänderten Form entgegenstehen (vgl. Art. 52 (1) GPÜ).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Rechtsfragen vorgelegt:
1. Ist der Einspruch des Inhabers eines europäischen Patents gegen sein eigenes europäisches Patent angesichts der neuen Betrachtungsweise, die die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 zu den grundlegenden Aspekten des Einspruchsverfahrens formuliert hat, zulässig?
2. Wenn ja, hängt die Befugnis der Beschwerdekammer in einem solchen Fall davon ab, in welchem Umfang in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde?