T 0321/94 03-05-1995
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Sorgfalt - Hilfsperson
Restitutio - all due care - assistant - isolated mistake
I. Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 388 586. Dieses Patent wurde von der Einspruchsabteilung mit der am 22. März 1994 verkündeten und am 6. April 1994 mit schriftlicher Begründung zur Post gegebenen Entscheidung widerrufen. Gegen diese Entscheidung legte die Beschwerdeführerin am 13. April 1994 Beschwerde ein und entrichtete rechtzeitig die Beschwerdegebühr.
II. In einer Mitteilung vom 23. Januar 1995 teilte die Geschäftsstelle der Beschwerdekammer der Beschwerdeführerin mit, daß die eingelegte Beschwerde ausweislich der Akten nicht schriftlich begründet worden sei. Sie sei deshalb voraussichtlich als unzulässig zu verwerfen.
III. Daraufhin reichte die Beschwerdeführerin am 8. Februar 1995 gestützt auf Artikel 122 EPÜ einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung ein. Diesem Antrag war die Beschwerdebegründung beigefügt. Die Wiedereinsetzungsgebühr wurde fristgerecht entrichtet.
IV. In ihrem Wiedereinsetzungsantrag und einem weiteren, am 25. März 1995 nachgereichten Schriftsatz führte die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgendes aus:
Der Vertreter der Beschwerdeführerin habe unmittelbar nach der Einlegung der Beschwerde handschriftlich eine Beschwerdebegründung entworfen. Den handschriftlichen Entwurf habe er seiner Sekretärin mit der Akte zur Reinschrift übergeben. Vor Ablauf der in einem computergestützten Fristenbuch notierten Frist habe er sich durch Rückfrage bei der Sekretärin nochmals vergewissert, daß die Sache erledigt worden sei. Danach habe er die Frist in gutem Glauben, daß der Schriftsatz in Reinschrift angefertigt worden sei, gelöscht. Die erfahrene und zuverlässige Sekretärin habe im nachhinein nicht mehr erklären können, weshalb sie den Schriftsatz nicht in Reinschrift angefertigt habe und weshalb die Rückfrage des Vertreters zu einem falschen Ergebnis geführt habe.
V. In einer eidesstattlichen Erklärung vom 24. März 1995 bestätigte die Sekretärin diese Darstellung des Vertreters in den wesentlichen Punkten:
Als sie dem Vertreter die Erledigung der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung bestätigt habe, sei ihr nicht klar gewesen, daß sie den in einer Nebenakte innerhalb der Hauptakte befindlichen Handschriftsatz noch nicht in Reinschrift übertragen habe. Sie sei wohl der Meinung gewesen, diese für sie an und für sich leichte Arbeit schon erledigt zu haben. Das Versehen könne dadurch ausgelöst worden sein, daß sie damals durch eine Computerumstellung auf ein völlig neues Programm und neue Geräte aufgrund einer sich dadurch ergebenden Überbelastung nicht ausreichend konzentriert gewesen sei. Angesichts der Vielzahl der Fälle und der damals täglich herrschenden Hitze von über 35 °C habe sie wohl falsch reagiert.
VI. Die Beschwerdegegnerin hat in ihrem Schriftsatz vom 23. März 1995 Zweifel an der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt geäußert.
1. Die Kammer ist aufgrund von Artikel 122 (4) EPÜ zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung. Der Antrag erfüllt die formellen Voraussetzungen von Artikel 122 EPÜ.
2. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach Artikel 122 (1) EPÜ voraus, daß die Beschwerdeführerin trotz Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt verhindert worden ist, die versäumte Frist einzuhalten.
2.1. Die Beschwerdeführerin hat glaubhaft dargelegt, daß sie sich eines funktionsfähigen Fristenüberwachungssystems bedient und daß das Fristversäumnis nicht auf einen Mangel in der Arbeitsorganisation zurückzuführen ist. Die Kammer hat sich davon überzeugt, daß dem Vertreter in diesem Zusammenhang kein Vorwurf mangelnder Sorgfalt im Sinne des Artikels 122 (1) EPÜ zu machen ist. Auch wenn sich der Ablauf der Ereignisse nicht in allen Einzelheiten klären läßt, steht doch fest, daß der Vertreter den handschriftlichen Entwurf der Beschwerdebegründung der Sekretärin rechtzeitig zur weiteren Bearbeitung übergeben hat. Vor Ablauf der im Fristenüberwachungssystem korrekt notierten Frist vergewisserte er sich bei ihr, ob die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung erledigt worden sei, was sie bestätigte.
2.2. Da das Führen des Fristenbuchs, das Anfertigen von Reinschriften und der Versand von Schriftsätzen dem normalen Arbeitsbereich der Sekretärin zuzuordnen sind, durfte sich der Vertreter darauf verlassen, daß diese Arbeiten ordnungsgemäß ausgeführt wurden. Ebenso konnte er davon ausgehen, daß seine Rückfrage betreffend die Erledigung der Frist von der Sekretärin anhand der Akte überprüft und korrekt beantwortet wurde. Dies insbesondere deshalb, weil es sich bei ihr um eine seit ca. 30 Jahren in der Patentadministration tätige und damit sehr erfahrene Fachkraft handelt, der eine stets fehlerfreie Arbeit bescheinigt wird. Weiterhin ist dem Vertreter nicht als mangelnde Sorgfalt vorzuwerfen, daß er sich zu jenem Zeitpunkt nicht daran erinnerte, ob ihm die Reinschrift bereits zur Unterzeichnung vorgelegt worden war. Gerade darüber wollte er sich ja durch Rückfrage bei der Sekretärin Klarheit verschaffen. Auch ist ihm im vorliegenden Zusammenhang nicht vorzuwerfen, daß er die Akte vor der Löschung der Frist im Fristenüberwachungssystem nicht persönlich überprüfte, sondern sich auf die Auskunft der Sekretärin verließ. Da die für den Vermerk der Erledigung der Frist wesentliche Handlung in der Postaufgabe des fertigen Schriftsatzes durch die Sekretärin bestand, war diese auch die richtige Ansprechperson für eine entsprechende Auskunft.
Insgesamt ist dem Vertreter deshalb zuzugestehen, daß er die nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat.
2.3. Die Ursache für die Nichtbeachtung der Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung liegt vielmehr nach den übereinstimmenden Ausführungen des Vertreters und seiner Sekretärin im Fehlverhalten der Sekretärin, die auf die Anfrage des Vertreters eine falsche Auskunft über die Erledigung der fraglichen Frist gab. Wie durch die eidesstattliche Erklärung der Sekretärin glaubhaft gemacht wurde, ist dieses Fehlverhalten auf ein Zusammentreffen besonderer Umstände zurückzuführen, nämlich einer Zusatzbelastung durch die Einführung eines neuen Computersystems, der Vielzahl der damals zu bearbeitenden Fälle und einer außergewöhnlichen Hitzeperiode.
Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern wird an die Sorgfalt von Hilfspersonen, denen Routinearbeiten, wie das Schreiben von Briefen nach Vorlage, das Absenden von Schreiben und das Notieren von Fristen übertragen sind, nicht der gleiche, strenge Maßstab angelegt wie an die Sorgfalt des Vertreters (J 5/80, ABl. EPA 1981, 343). Voraussetzung ist allerdings, daß als Hilfsperson eine für diese Tätigkeit entsprechend qualifizierte Person ausgewählt und mit ihren Aufgaben vertraut gemacht wurde, und daß ihre Arbeit in vernünftigem Umfang überwacht wurde. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben, da die Hilfsperson eine auf diesem Gebiet erfahrene und zuverlässige Sekretärin war, die unter der direkten Aufsicht des Vertreters arbeitete.
Nach dem Maßstab, der an die Sorgfaltspflicht einer Hilfsperson anzulegen ist, beurteilt die Kammer das Fehlverhalten der Sekretärin als ein unter den besonderen Umständen dieses Falles entschuldbares, einmaliges Versehen, das einer Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nicht entgegensteht (vgl. T 179/87, nicht veröffentlicht).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerdeführerin wird in die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung nach Artikel 108 EPÜ wiedereingesetzt.